Rezension: Christoph Spehr (2003) »Gleicher als Andere«
Rezension: Christoph Spehr (2003) Gleicher als Andere. Eine Grundlegung der freien Kooperation. Mit Kommentaren von Frigga Haug, Ralf Krämer, Stefan Meretz, Dorothee Richter, Babette Scurrell, Uli Weiß, Frieder Otto Wolf u.a.
Von Marco Pompe, Berlin
Herrschaftskritik, die sowohl anarchistische, als auch marxistische Elemente beinhaltet, entwickelt zunehmend Orientierungsfunktion in der Linken. Wie dieses Zusammengehen heute theoretisch wie praktisch funktionieren kann wird aber selten direkt verhandelt. Auch der 2001 von der Rosa-Luxemburg-Stiftung ausgezeichnete Text ‚Gleicher als Andere. Eine Grundlegung der freien Kooperation‚ stellt sich nicht wirklich dieser Herausforderung. Dafür geht aber das Buch, indem dieser Text auf ca. 100 Seiten veröffentlicht und anschließend in zahlreichen Kommentaren diskutiert wird, insgesamt ein gutes Stück diesen Weges. Wie in dem Text erläutert besteht die emanzipatorische Linke aus vielen Strömungen. Er macht deutlich, daß der Selbstfindungsprozess als eine strömungsübergreifende Bewegung nicht abgeschlossen ist. Mir scheint, die Debatte um Spehrs Text in Erinnerung zu rufen, kann diesen Prozess unterstützen und die Qualität von so manchem politischen Projekt positiv beeinflussen.
Zunächst: Das Buch ist durchweg kurzweilig, überwiegend in verständlicher Sprache verfasst, frei als Download verfügbar und deshalb absolut geeignet als spontane Bettlektüre. Spannend und amüsant ist es für alle, die sich auf der Suche nach Räumen und Wegen, den Zielen und Bedingungen für Emanzipation befinden. Ein manifest-artiger Text von Christoph Spehr (Autor von ‚Die Öko-Falle‘ (1996), ‚Die Aliens sind unter uns‘ (1999)) ist darin Ausgangspunkt für eine sehr lebhafte und emphatische Diskussion eines hoch komplexen Diskursfeldes (Macht, Herrschaft, Freiheit, Gleichheit, Emanzipation, Individuum, Gesellschaft, Kapitalismus, Staat, Moderne usw.). Auch wenn das Spektrum der emanzipatorischen Linken durch die beteiligten Autor_innen nicht abgedeckt wird breitet das Buch sehr unterschiedliche Perspektiven aus – der Kampf gegen Antisemitismus, religiösen Fanatismus, korrupte Eliten oder gegen die Pathologisierung von Unangepassten sind zum Beispiel nicht oder fast nicht repräsentiert. Kern der Diskussion ist die These, ‚freie Kooperation‘, in Abgrenzung zu ‚erzwungener Kooperation‘, sei sowohl das Ziel als auch der Weg für linke emanzipatorische Politik. Dabei entwickelt er ein ganz eigenes Verständnis von freier Kooperation, das angelehnt ist an die Ideale der Anarchist_innen des frühen 20 Jahrhunderts. Trotz ein paar Bezügen zu linker Bewegungsgeschichte und einer (rudimentären) Analyse der Moderne ist das Konzept scheinbar zeitlos, überhistorisch. Das Konzept besteht jedoch im wesentlichen aus Setzungen, wie „Freiheit und Gleichheit werden verwirklicht in der freien Kooperation […] keine überkommenen Rechte und Regeln anerkannt (außer als vorläufiger Ausgangspunkt). In einer freien Kooperation sind die Beteiligten frei, sich der Kooperation zu entziehen, […]“. Diese sind zwar abgeleitet aus einigen bestimmten Praxen emanzipatorischer Bewegungen, aber eben nicht hergeleitet, etwa aus aktuellen, empirisch fundierten Machttheorien, wie es sich hier anbieten würde – ein Punkt der leider auch die anderen Autor_innen wenig beschäftigt. Spehrs Vorgehensweise ist selektiv, das heisst er nimmt sich was er braucht. Eine systematische Analyse würde zweifelsfrei nicht so locker flockig daher kommen, wie sein mit popkulturellen Zitaten gespicktes Manifest. Auf Setzungen aufbauend umreißt Spehr eine politische Agenda der emanzipatorischen Linken in 5 Punkten: Die Abwicklung von Herrschaftsinstrumenten, eine Politik der Beziehungen, die Entfaltung sozialer Fähigkeiten, Praktische Demokratiekritik, Organisierung. Immerhin ist seine Agenda sehr anschlussfähig für das emanzipatorische Spektrum, wie die anschliessende Diskussion in den zahlreichen Kommentaren zeigt. Hier wird allerdings auch deutlich, daß die scheinbar starke Kohärenz mehr gewollt als wirklich stichhaltig ist. Es werden sowohl eklatante blinde Flecken, als auch Widersprüche in der Argumentation entdeckt. Vor allem dadurch liesst sich dieses Buch wie eine hoch spannende Forumsdiskussion (tatsächlich gibt es in jedem Text mindestens einen Satzfehler), in der jeder Text neue relevante Aspekte hinzufügt. Die Anordnung der Kommentare ist sehr gelungen. Mit ihr baut sich im Verlauf der Lektüre ein weiter Horizont auf, der zunehmend ein Gefühl von Dankbarkeit erzeugt – Dankbarkeit für eine so ausgiebige Erweiterung und Aktualisierung des eigenen Blickfeldes, ohne sich durch tausende Seiten Fachsprache und Schachtelsätze gekämpft zu haben. Was ich letztlich schwer einschätzen kann ist, wie voraussetzungsvoll diese Debatte ist. Vermutlich ist sie für Einsteiger_innen nur halb so amüsant, aber im Grunde sind historische und theoretische Bezüge überall transparent. Viele der Texte sind zudem höchst alltagsnah. Offenbar haben sich die meisten Autor_innen viel Zeit genommen für die Kritik des Leitartikels, und es ist spürbar, dass sowohl das Thema allgemein, als auch Spehrs Thesen sie ernsthaft berühren. Sie wollen diese Debatte voranbringen, und genau das macht dieses Buch so wertvoll.
Einzig das ‚Nachwort‘, die Antwort Spehrs an seine selbstgewählten Kritiker_innen ist mehr als enttäuschend. Wer sich den Ärger ersparen will, zu erfahren, wie Spehr die innere Stimmigkeit seiner Thesen vergeblich zu retten versucht, ignoriert den Teil einfach. Abgesehen davon ist das Buch sehr bereichernd und aktuell, und ein wichtiges Zeitdokument für die emanzipatorische Linke.
Die Erinnerung an den Text von Christoph Spehr kommt zu einer guten Zeit, denn die gerade in Keimform ablaufenden Debatten über „voraussetzungen-fuer-allgemeine-beduerfnisorientierte-reproduktion“ zeigen das Dilemma, dass Kooperation zwar ein angestrebter Zustand ist, aber aus traditioneller linker Sichtweise immer in einen Zustand erzwungener Kooperation umzukippen droht. Mit anderen Worten: Muss ich mich auf den Standpunkt eines gesellschaftlichen Allgemeinen stellen, von dem her Kooperationsbedingungen formuliert werden, oder finde ich Wege, über die sich freie Assoziationen von Produzenten dynamisch entwickeln können? Ich glaube auch nicht dass Christoph das Problem damals auch nur ansatzweise gelöst hat, denn im Text liegt der Schwerpunkt auf der negativen Seite (Auflösbarkeit existenter Kooperationen), womit eigentlich die Frage nach verlässlichen gesellschaftlichen Grundlagen komplexer kooperativer Vernetzungen unbeantwortet bleibt. Hat jemand in diesem Sinn die damalige Debatte verdaut und exzerpiert?
Danke für den Hinweis, werde mich evt. durch die PDF quälen. (Ist ja grad die Woche der heroischen Leidens oder so)
Warum finde ich diese Frage sinnlos? Weil sie sich so abstrakt nicht sinnvoll beantworten lässt.
Da die Gesellschaft nun einmal (noch) nicht in der (kommunistischen) Verfassung ist, in der sie Ziele bestimmen könnte, die im Prinzip von allen als vernünfig, dringend, unverzichtbar, am wenigten risikoreich usw. usf. identifizierbar wären, ist die Bestimmung von irgendetwas, das ein „gesellschaftliches Allgemein“ genannt werden könnte (besser aber schlicht eine gemeinsame Aufgabe) schwer möglich.
Wirklich diskutieren lässt sich so etwas nur anhand bestimmter zivilisatorischer Errungenschaften oder Zielvorstellungen, wie die Ächtung von Folter oder die Todesstrafe, Menschenrechte usw. Das wären Dinge, die noch so freie Kooperationen unbedingt zu achten hätten und höchstens erweitern helfen könnten bzw. dürften.
Als allgemein verbindlich und nicht „freiheitlich“ hintergehbar können auch weltweit zu vereinbarende Ziele gelten wie bestimmte Zielvereinbarungen zur Eingrenzung des Klimawandels, des Verlustes an fruchtbaren Böden, Biodiversität, Primärwädern usw.
Das wären durchaus auch Wege, über die sich „freie Assoziationen von Produzierenden“ dynamisch entwickeln können. Kooperationen, die außerdem womöglich so frei wären, sich zugeich mit solchen zu assoziieren die ihre Bedürfnisse äußern als auch mit denen, die die sozialen bzw. ökologischen Kosten ihrer Erfüllung untersuchen bzw. offenbaren, so dass es am Ende gar gelingen könnte, Erstere mit Letzterem in einer sozio-ökologisch vernünftigen Weise ins Benehmen zu setzen.
Die Doughnut-Economics zeigen, wie es gelingen könnte, hinreichen vielen Menschen das zwangfreie Kooperieren in den Grenzen gesamtgesellschaftlicher bzw. ökologischer Vernunft wirklich schmackhaft zu machen.
Ein Kommentar von Willi Übelherr wurde wegen Beschimpfungen und untragbaren Behauptungen gelöscht.