Marx als Polemiker
Ich schreibe mal einen Beitrag, die auf den ersten Blick hier vielleicht gar nicht so reinpasst … aber vielleicht kriege ich ja noch die Kurve …
Marx war nicht nur ein brillanter Analytiker, sondern auch ein genialer Polemiker. Das ist erstaunlich, denn eigentlich macht er in seinen Polemiken (z.B. „Die Heilige Familie“ und große Teile der „Deutschen Ideologie“) alles falsch: Er nimmt seine Gegner nicht ernst, behandelt sie von vornherein von oben herab, gibt ihnen alberne, schlecht begründete Spottnamen („der Einzige“ für Stirner, „Sankt Bruno“ für Bruno Bauer), bei denen vor allem die ständige Wiederholung nervt, und überstrapaziert generell die Mittel der Polemik bis weit über die Grenze des Erträglichen. Außerdem steigert er sich in seine Argumentationen und oft schwer nachvollziehbaren Unterschiebungen hinein, die er auf einem oder wenigen Zitaten des Gegners konstruiert und auf denen er dann über lange, schwer lesbare Absätze hinweg in endlosen Perioden herumhackt.
Er macht alles, was man selbst in einer Polemik nicht machen darf:
Verdreht Zitate des Gegners, reißt sie aus dem Zusammenhang, baut umfangreiche, gar nicht durch Zitate gerechtfertigte Strohmänner auf, die er dann mit großer Geste entzündet. Seitenlang wird unterstellt und auf Basis dieser Unterstellungen gespöttelt, gelästert, vernichtet. Das Störendste ist die offensichtliche Herablassung, die aus jeder Zeile seiner Polemiken spricht. Er nimmt seine Gegner überhaupt nicht ernst, verhält sich völlig unsportlich, was – wie jeder rhetorisch Geschulte weiß und natürlich auch Marx wusste – die Sympathie des Lesenden mit aller Macht seinen Gegnern zuschiebt.
Aber leider – hilft denen das trotzdem nichts. Nein, es hilft ihnen gar nichts! Sie kämpfen fair und sie müssten gewinnen, aber sie tun es nicht. Sie sind am Ende erledigt. Und zwar einfach nur sowas von. Platt. Flach. Und zwar richtig. Obwohl man es müsste, verspürt man auch nicht die geringste Lust, in ihre Werke überhaupt nochmal hineinzuschauen … Was ist da los?
Ich bin mir nicht sicher, aber wahrscheinlich ist es letztlich Marx’ analytische Tiefe, die es ihm erlaubt, all diesen Schabernack aufzuführen und trotzdem recht zu behalten. Ich lese grade die „Deutsche Ideologie“, dort nimmt er sich z.B. Bruno Bauer vor und macht sich über dessen „Selbstbewusstseins“-Philosophie, die Ablehnung der „Sinnlichkeit“ (Feuerbach) und die Einordnung von Stirner als Philosoph der „Substanz“ lustig. Und er kann noch so viel Schmarrn verzapfen und noch so viel Scharade spielen: In einem Nebensatz kommt plötzlich der sachliche Punkt und man merkt, er hat ihn!
Er hat seinen Gegner analysiert, verstanden und jetzt hat er ihn aufgespießt. Er ist wie ein Schwertfechter, der einen Tanz aufführt, herumwirbelt und eine lächerliche Show veranstaltet, bis man glaubt, er könne nichts als sich um sich selbst drehen. Und dann, mitten im Wirbeln, sitzt plötzlich dem Gegner die Klinge bis zum Heft in der Brust. Aus. Vorbei. Es ist gemein, und es darf in einer gerechten Welt nicht sein, aber so ist es: Marx gewinnt immer.
Heute darf man das natürlich nicht mehr, heute ist sachliches Argumentieren gefragt, und man muss seinen Gegner respektieren und seine gültigen Punkte anerkennen und … Klar. Akzeptiert. Check. Aber manchmal denke ich, wir könnten ein bisschen mehr Temperament und Angriffslust gut brauchen, dann wäre die Welt vielleicht etwas weniger rechts. Denn wir reden und reden und halten uns an alle Diskussionsregeln – nur hört uns keiner zu.
Und das Beispiel Marx zeigt: Es kommt am Ende nicht darauf an, lieb und nett zu sein. Es kommt darauf an, die entscheidenden Punkte zu machen. Der Rest ist nur Show bei Marx … aber eine Show, die verdammt viel Spaß macht!
Während ich seine durchweg polemischen Frühschriften lese, kommt es mir so vor, als hätte Marx seine revolutionären und wirklich neuen Gedanken nur in seinen polemischen Auseinandersetzungen entwickeln können. Man merkt richtig, wie es klackt und die Argumentationsschritte einrasten; wie er aus ersten, noch mehr gefühlsmäßigen Angriffen heraus langsam in Form kommt, wie er seine wichtigen Punkte entwickelt. Hat er seinen Gegner dann getroffen, ist er wirklich und klar der Sieger, dann lässt er auch von ihm ab. Dann hat er das Problem nämlich geklärt. Und dann ist ihm die Veröffentlichung auch gar nicht mehr wichtig … wie bei der „Deutschen Ideologie“, über die er später selbstironisch schrieb: „Wir überließen das Manuskript der nagenden Kritik der Mäuse um so williger, als wir unsern Hauptzweck erreicht hatten – Selbstverständigung.“
Und dann merkt man: Es kam doch nicht darauf an, den Gegner zu vernichten. Es kam darauf an, zu verstehen, wie es wirklich ist. (Der Gegner bleibt allerdings trotzdem auf der Strecke, Pech gehabt. Bei vielen heutigen Kongressen, wo alle nett und am Ende niemand klüger ist, werden andere Prioritäten gesetzt.)
Marx dachte als Polemiker, und im Polemisieren gegen wichtige Denker seiner Zeit war er – so scheint es – in der Lage, die nötige Radikalität zu entwickeln. Einmal erreicht, konnte er dann eine sachliche Darstellung wie im „Kapital“ geben, wo die Entwicklung der hauptsächlichen Argumentation rein analytisch verläuft und polemische, bissige Passagen nur Beiwerk sind.
Und wir? Wir sollten mehr Mut beim „Kreuzen der Argumente“ entwickeln. Vielleicht ist es ja auch eine Keimform einer neuen Gesellschaft, angriffslustig auf das Alte zu sein!
[Ich sollte noch ergänzen, dass Engels natürlich auch sein Teil zu beiden Büchern beigetragen hat. Marx hat aber bei der „Heiligen Familie“ 90 % und bei der „Deutschen Ideologie“ auch das meiste geschrieben.]
Bitte nicht. Mir reicht schon Robert Kurz. Siehe auch hier: http://www.keimform.de/2008/02/19/ohne-kampf-kein-mampf/
Als brillanter Polemiker sind mir Robert Kurz oder die Exit bisher noch nicht aufgefallen. „Mit Marx über Marx hinaus“ als sein „theoretisches Projekt“ zu bezeichnen und das Ganze als „Kapitalismuskritik des 21. Jahrhunderts“ zu verkaufen (war der „Quark des 21. Jahrhunderts“ schon als Warenzeichen eingetragen?), ist doch rein phrasentechnisch schon ein Offenbarungseid.
Aber es bleibt das grundsätzliche Problem von Polemik: sie entstammt nämlich einer Debattenkultur, in der Indiviuden als „vereinzelte Einzelne“ (Marx) aufeinander losgehen um im folgenden Schlagabtausch festzustellen, wer in die nächste Runde darf. Das ist Konkurrenz-Logik pur. Es ist aggressiv, militärisch und strukturell männlich. Darüber hinaus legt es Polemik immer nahe, nicht das eigentliche Argument ins Auge zu nehmen, sondern sich von dem Drumherum blenden und ablenken zu lassen.
Gerade unter dem Gesichtspunkt einer „Keimform“-Debatte finde ich solch Diskussions“kultur“ immer eher anstrengend. Da hilft es auch nicht weiter, dass Marx es genauso gemacht hat. Der war halt auch nur ein blöder weißer Macker ,-)
@Juli. Danke für die Ausformulierung meiner Bedenken. Ich bin umgekehrt eigentlich sogar ziemlich stolz drauf, dass wir hier meist ohne Polemik auskommen. Ich würde sogar eher darauf hinarbeiten wollen weniger zu polemisieren.
@Juli: Da ist natürlich was dran, und auch viele andere Einwände gegen Polemik sind zu Recht gemacht worden, etwa dass sie eine Debatte verunklart, die Positionen verhärtet usw. Ich wollte aber auf eine andere Seite der Polemik hinweisen: Sie hilft, wirklich neue Gedanken zu formulieren, wie ich versucht habe an Marx‘ Polemiken aufzuzeigen. Und ich habe das Gefühl, dass in einem Klima der Ächtung der Polemik (und überhaupt aller bissigen Äußerungsformen, selbst solcher die noch lange nicht polemisch sind), wie wir es heute IMHO weitgehend haben, weniger Neues formuliert wird und nicht mehr mutig widersprochen wird (außer im Pulk, d.h. wenn es bereits irgendwo eine Gruppe gibt, die ähnliche Meinungen hat).
Meiner Auffassung nach leben wir in einer ängstlichen und duckmäuserischen Zeit. Der Kapitalismus ist drauf und dran, vielleicht nicht die Welt, aber sicher die Lebensqualität der Zukunft zu ruinieren … Warum das nicht auch mal als Verbrechen bezeichnen? Wenn wir heute nicht ein bisschen mutiger sind, werden die nächsten Generationen es auszubaden haben.
Und ich bin fest überzeugt, dass Polemik wenig mit „blöder weißer Macker“ oder überhaupt mit Gender zu tun hat. Würde man das annehmen, müsste man die heutige allgemeine Bravheit als weiblich konnotieren, und das halte ich für ganz falsch. Dass wir uns nicht polemisch zu sein trauen, liegt daran, dass wir drei Jahrzehnte der Reaktion hinter uns haben!
Wie gesagt, Polemik ist kein Ersatz für eine gute und sachliche Debatte, aber sie kann helfen, Gedanken zu entwickeln. Was mich allerdings sehr stört, ist, wenn Polemik immer vor allem gegen andere Linke eingesetzt wird! Das ist ein Punkt, für den ich auch keine richtige Lösung weiß: Marx und Engels haben sich an Leuten wie Bruno Bauer, Stirner und Feuerbach gewetzt, die doch (zumindest die beiden letzteren) wichtige und tendenziell auch emanzipatorische Denker ihrer Zeit waren und denen man es gerade nicht gönnt, so auseinandergenommen zu werden. Aber wie gesagt scheint mir das notwendige Voraussetzung für die Entwicklung ihrer eigenen Position gewesen zu sein.
Das ist es eben, was ich zu bedenken geben möchte: Eventuell können wir ganz ohne Polemik einfach nicht radikal genug denken, um aus den uns alle beherrschenden Irrtümern rauszukommen. Und hinterher kann man es ja immer noch sachlich formulieren und das hat Marx eben (u.a. im „Kapital“) auch getan. Man muss das auch, da Argumentationen nur in sachlicher Form wirklich überprüft werden können.
@Martin: Du meinst also Dialektik funktioniert nur, wenn man die Negation als Beleidigung formuliert?
Den Kapitalismus als Verbrechen zu bezeichnen würde der Analyse btw garnicht gut tun, weil das Problem ja eben ist, dass wir alle Verbrecher sind, die einen mehr, die anderen weniger. Will sagen: Polemik bedeutet auch immer Personalisierung.
„Dialektische Negation als Beleidigung“ ist toll formuliert – vielleicht eine Definition von dem, was Polemik im besten Fall sein kann?
Eine kurze Diskussion von „Kapitalismus und Verbrechen“:
Der Kapitalismus per se ist natürlich kein Verbrechen, sondern ein System mit guten und schlechten Eigenschaften. Aber ein System mit bestimmten schlechten Eigenschaften zu propagieren, wenn es Alternativen gut; oder selbst nur, diese schlechten Eigenschaften zu verschweigen und den Menschen das System als alternativlos darzustellen, macht einen faktisch schuldig an den Folgen dieses Handelns.
„Wir alle“ sind dagegen keineswegs am Kap. schuld, denn z.B. für die Arbeiter ist das einzige, was sie zum Kap. beitragen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, und ohne das würden sie verhungern. Da also auch nur den Schatten einer Schuld zu konstruieren, ist absurd (zu verhungern, um nicht mitzumachen, kann niemand verlangen).
Was die Kapitalisten betrifft, betonte Marx: „Aber es handelt sich hier um die Personen nur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind.“ Kapitalisten tun (im Durchschnitt) nur das, was das System von ihnen verlangt.
Schuldig machen sich vor allem die, die ihn heute ideologisch propagieren – also z.B. die Neoliberalen, Wirtschaftsführer und ein Großteil der Wirtschaftswissenschaften, die meisten Politiker. Leute wie Köhler, Merkel usw., die einfach nicht die Wahrheit sagen (z.B. behauptet Köhler jetzt, es sei der „angloamerikanische Kasinokapitalismus“, der an der Krise schuld ist – statt zuzugeben, dass Krisen Teil des Kapitalismus sind, was er wissen müsste). Falls sich durch diese Propaganda die Ablösung des Kapitalismus nur um einige Jahre verzögert, sind das bereits sehr viele Tote (denn der Kapitalismus tötet – täglich verhungern Zehntausende, während anderswo Nahrung vernichtet wird; zahllose Arbeitsunfälle; usw.). Selbst wenn ich diese Leute moralisch freispreche, an ihrer faktischen Verantwortung ändert das nichts.
Das festzustellen, hat mit „Beleidigung“ nichts zu tun (deshalb war es ein eher unglückliches Beispiel in der Diskussion über Polemik, die ja tatsächlich manchmal beleidigend ist). Mir ging es aber darum, dass man Angriffslust zeigen sollte und Dinge sagen, die argumentierbar sind (auch wenn man dafür dann vielleicht weiter ausgreifen muss).
Gegen Angriffslust hab ich nix aber Polemik ist dafür kein taugliches Mittel.
Unser Problem sind auch nicht die Politiker und die Ideologen. Die demontieren sich selbst am besten. Unser Problem ist, dass wir keine aktuell lebbare Alternative anzubieten haben und deswegen alle selber fröhlich mitmischen (und das ist schon eine Mitverantwortung).
Wir haben eine Alternative bzw. eine ganze Reihe davon (denn die Peer-Ökonomie ist ja nicht ein festes Konzept, sondern eher eine Bandbreite innerhalb bestimmter Bedingungen). Die muss man auch nicht „anbieten“, sondern ausprobieren – und dann auch durchsetzen. Aber anzunehmen, dass das ganz ohne Auseinandersetzung, ja sogar ohne „Kampf um die Köpfe“ gehen könnte, kommt mir sehr optimistisch vor.
Meinst du denn, dass sich eine „lebbare Alternative“ ganz von allein durchsetzt? Dass es keinen Unterschied macht, dass nur einige Hundert Leute in Deutschland (von 80 Mio.) wissen, dass es funktionsfähige Alternativen zum Kapitalismus gibt, die ausprobiert werden könnten? Und das mitten in einer drastischen Wirtschaftskrise, die alle Medien füllt? Nicht einmal die Tatsache, dass dies nicht die letzte Wirtschaftskrise sein wird, kommt derzeit in den Köpfen an, es wird erfolgreich vorgegaukelt, man habe irgendwas falsch gemacht und das werde jetzt grade von den Verantwortlichen korrigiert (s. z.B. das Köhler-Zitat). Und wenn in zwei Jahren die nächste 7 – 10jährige Prosperitätsphase beginnt, wird eh alles wieder schnell vergessen sein.
Alternativen kann man zudem nicht am Reißbrett entwickeln (was hier auf keimform gemacht wird, ist ja auch letztlich, die Konsequenzen aus bereits realen Entwicklungen zu ziehen). Der Wille zum Anders-Machen muss schon da sein, und das ist er überwiegend nicht. Ich kriege ja ein bisschen mit, was so in der Wissenschaft derzeit läuft, und da wird für so manches Forschungsprojekt tausendmal (keine Hyperbel, sondern wörtlich!) mehr Geld ausgegeben als für die Erforschung alternativer Wirtschaftssysteme insgesamt. Also selbst wenn wir nichts anzubieten hätten, wäre das kein Zufall, sondern gewollt.
@Martin: PÖ ist nicht real lebbar zur Zeit. Das streitest Du doch nicht ab, oder? Mit Theorie lockt man niemand hinterm Ofen vor. Nicht wenn der Ofen noch halbwegs bollert wie zur Zeit und erst recht nicht, wenn die Leute ums überleben kämpfen.
Das alles heißt natürlich nicht, dass man die Hände in den Schoß legen soll – wie kommst Du darauf ich hätte das gesagt? Meine Erfahrung ist nur, dass selbst niedrigstschwellige Angebote verpuffen, siehe Saturday House. Warum ist das so? Bestimmt nicht wegen einem fehlenden „Kampf um die Köpfe“.
@benni:
Indeed, was aber IMHO vor allem daran liegt, dass „wir“ zu wenige sind. Insofern ist’s natürlich richtig, dass wir schon weiter wären, wenn mehr Leute an unserem Strang ziehen würden. Aber nun gerade von Politikern zu erwarten, dass sie zu Kapitalismuskritikern werden und gar Alternativen zum Kapitalismus fördern sollten, finde ich naiv. Nicht umsonst spricht Marx von Fetischismus – die Verhältnisse sind halt nicht so leicht zu durchschauen, schon gar nicht, wenn man selbst ein Interesse daran hat, sie nicht zu durchschauen.
Wie meinte Upton Sinclair:
Andererseits kann man z.B. die Volkswirtschaftler/BWL-ler für ihre Theorielosigkeit, ihr bewusstes Absehen von der Realität in ihren konstruierten Theorien, ruhig ordentlich bashen. Die haben einen wissenschaftlichen Anspruch, dem sie nicht im Entferntesten gerecht werden, insofern haben sie sich’s redlich verdient 😉
In manchen Bereichen wird sie doch längst gelebt, anderswo gerade ausprobiert? – Und auch für die Bereiche, wo sie noch gar nicht existiert (in großen Teilen der materiellen Produktion), wurde gezeigt (u.a. in Christians Buch), dass sie umsetzbar ist. Die Tatsache, dass etwas noch nicht da ist, kann man nicht gegen seine Funktionsfähigkeit ins Feld führen). – Also ist sie höchstwahrscheinlich lebbar (100%ig weiß man das natürlich erst, wenn sie gelebt wird!), wird nur halt in vielen Bereichen noch nicht gemacht. Und für letzteres können Politik und kap. Ideologie schon ein bisserl was …
Der Kapitalismus wird aber trotz starker Ideologe verschwinden – weil die Bedingungen dafür gegeben sind. In der Terminologie von Marx ausgedrückt, sind die Produktivkräfte in Widerspruch zu den Produktionsverhältnissen geraten. Die PÖ ist, wie ich hier an einem Beispiel skizziert hatte, effektiver und damit auch produktiver als der Kapitalismus. Falls Marx recht hat, lässt sich das als Hinweis darauf interpretieren, dass er’s wohl nicht mehr beliebig lange machen wird … Schnüff … :'(
Aber ein Automatismus ist das doch wohl auch nicht, oder seht ihr das anders? Dass der Kap. von alleine verschwinden wird oder gar jetzt schon am Abnippeln ist (wie Krisis und Exit meinen), ohne dass sich ausreichend viele Menschen aktiv darum bemühen müssen, kommt mir unplausibel vor. Ob die Menschen wollen oder nicht; ob sie von der Existenz der Alternativen wissen oder nicht, das ist wichtig – und deshalb ist der „Kampf um die Köpfe“ nötig, denk ich mal …
@Martin#13: Krisis und Exit meinen in der Tat, dass der Kapitalismus am Abnippeln ist. Nur meinen sie nicht, dass damit irgendwas Besseres automatisch auf die Welt käme — darin würden sie dir zustimmen (das Problem ist eher, dass sie zu einer Alternative nicht viel zu sagen haben). Aber folgt daraus der »Kampf um die Köpfe«? Das scheint mir sehr getrennt vom praktischen Tun: Erst das richtige Bewusstsein, dann die richtige Tat. Das hat der alte ML auch immer verkündet (inkl. des Widerspruchs von PK und PV — btw: was meinst du denn damit?) und ist baden gegangen. Ich denke, dass sich Praxis und Bewusstsein darüber nur zusammen in der Praxis entwickeln können — und nicht durch »Bearbeitung von Köpfen«. Deswegen ist allerdings eine sinnvolle Praxis umso wichtiger. Das widerum ist auch eine theoretische Frage.
Marx schreibt im Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie“:
Das scheint mir eine treffende Beschreibung für das, was auch jetzt wieder passiert: Die Methoden der Produktion entwickeln sich weiter. Überall wird von Dezentralität, Offenheit, flache Hierarchien, verteilter Produktion, Kreativität der Masse usw. geredet; die Wikipedia hat von Autoritäten in jahrelanger Arbeit erstellte Lexika in kürzester Zeit auskonkurriert; selbst in der Kunst hat das im Dachkämmerlein sein Meisterwerk schaffende „Genie“ ausgedient, mit Teamproduktion kommt man weiter.
Ohne Zweifel geht vieles davon auch im Kap. – aber eben oft nur mit Ach und Krach! Z.B. das Offenlegen von Quellen, Auf-Standards-Einigen, ständige Weiterentwickeln gemeinsamer Infrastruktur (z.B. Internetstruktur und Softwarestandards, Schnittstellen etc.) – all das widerspricht der Konkurrenzlogik des Kap. und stellt ihn vor große Probleme. Man muss all das, was in der PÖ normal ist, mühselig aushandeln, und selbst dann gibt es z.B. Konkurrenz zwischen von verschiedenen Konsortien ausgehandelten Standards (man denke an HD-DVD und Blue ray, Microsoft vs. Apple und viele andere Fälle), wo sich oft nicht das Bessere durchsetzt!
Innerhalb der Unternehmen wiederum herrscht im Kap. die Zentralplanungsproduktion („firm production“), muss wohl auch, weil alles konkurrenzbedingt so straff und auf Kante genäht ist. Auch die stößt jetzt sehr an ihre Grenzen, die Widersprüche zwischen eigentlich nötigen flachen Hierarchien und tatsächlich immer noch herrschenden Autoritätsverhältnissen (Massenentlassungen drohen jederzeit im Kap.) führen in vielen Unternehmen zu Riesenproblemen. Wenn heute Unternehmen Pleite gehen, liegt’s oft u.a. daran, dass sie ihre besten Arbeiter entlassen oder demotiviert haben – aber genau das verlangt die Logik des Kap. von ihnen!
Was auch immer der dogmat. ML aus der Unterscheidung PK vs. PV gemacht hat, Marx hat glaube ich genau das gemeint, was wir heute beobachten können: Dass sich aus der Produktion und deren Fortentwicklung her (die „Produktivkräfte“) schließlich die Notwendigkeit neuer „Produktionsverhältnisse“ ergibt.
Und die sind, wie Marx explizit sagt, auch immer Eigentumsverhältnisse: Heute wird doch auch deutlich, dass das kap. Eigentum einfach nicht mehr in die Zeit passt, dass es allenthalben den Fortschritt blockiert. Wie viele Leute haben ein Copyright auf ihre Erfindung draufgehauen und sich gewundert, dass sie kurz darauf vergessen war! Das gilt auch nicht nur für PÖ und Freie Software: Auch Google (um jetzt mal ein Negativbeispiel zu nehmen) ist laut Jeff Jarvis so groß geworden, weil es erkannt hat, dass es auf die Position im Netzwerk ankommt und erstmal nicht auf Eigentumsrechte, Zugangssperren o.ä.
Meine These wäre daher, dass sich tatsächlich die Marxschen Produktivkräfte gerade weiterentwickeln, und zwar dahin, wo sie zu den Produktionsverhältnissen (Kapitalismus; Eigentum; Ausschlussverhältnisse; Vernutzung usw.) nicht mehr passen. FS, PÖ-Ansätze usw. wären dann nur Symptome dieser Entwicklung, die man aber auch in anderen Bereichen sieht.
Für Marx sind es nicht »auch immer Eigentumsverhältnisse« wie du schreibst, sondern er setzt die Produktionsverhältnisse mit den Eigentumsverhältnissen gleich (»nur ein juristischer Ausdruck dafür«). Daraus zog der ML sich zurecht auf Marx berufend den Schluss: Eigentum in Volkes Hand und alles wird gut. Diese Simplifikation sollten wir nicht wiederholen, sie hat sich empirisch als falsch erwiesen.
Was schlicht übersehen wurde, waren die Formen der gesamtgesellschaftlichen Vermittlung. Solange die nämlich weiter über Ware und Geld laufen, ist es mehr oder weniger egal, wie die Eigentumsverhältnisse sind (der Umkehrschluss gilt hingegen nicht).
Die PÖ hat genau diesen Punkt aufgegriffen und gerade nicht einfach nur »alles gehört allen« gefordert, sondern eine andere Form der gesellschaftlichen Vermittlung vorgeschlagen (die verschiedenen Formen von Beitragen und Nutzen). Damit hat sie ein Niveau an Problemangemessenheit erreicht, dass die alten Ansätze weit übersteigt (und was leider viele immer noch nicht verstehen). Dass m.E. die Kopplung von Beitragen und Nehmen der inkonsistente Punkt in dem Konzept ist und es instabil macht, habe ich ja schon verschiedentlich angemerkt.
Ach ja: Mit Polemik hat das alles nichts zu tun 😉
Stimmt erstmal. Wobei aus materialistischer Sicht die Frage, ob der Kampf um die Koepfe ueberhaupt Sinn macht, schon damit zu tun hat, ob das System sich so langsam selbst ueberlebt hat oder nicht. Ich glaube z.B. inzwischen, dass die 68er nicht deshalb gescheitert sind (wie ich frueher dachte), weil sie irgendwas falsch gemacht haben, sondern weil die materiellen Bedingungen fuer einen Erfolg einfach nicht gegeben waren, und dann hilft eben auch scharfe Kritik nichts.
Falls sie es heute sind (z.B. PK und PV in Gegensatz geraten sind), koennte scharfe Kapitalismuskritik mehr bringen als damals …
Ich möchte noch mal auf einen Punkt weiter oben zurückkommen. Martin schrieb 13.05.2009, 12:44 Uhr), die Polemik sei weitestgehend geächtet,
„außer im Pulk, d.h. wenn es bereits irgendwo eine Gruppe gibt, die ähnliche Meinungen hat“
Das verweist m.E. auf einen wesentlichen Punkt. Polemik hat immer auch etwas mit dem schließen der eigenen Reihen zu tun. Es geht immmer auch (wenn nicht gar hauptsächlich) darum sicherzustellen, dass auch alle genau wissen, warum sie gut und die anderen böse sind. Das macht Spaß, weil die in der Polemik enthaltene Übertreibung oftmals witzig ist. Und es kann sicherlich auch helfen, durch die darin enthaltene steile These die eigene Position kohärenter zu fassen. Aber es bleibt doch immer der Punkt der Identitätsbildung.
Das lässt sich sehr schön beobachten anhand der Debatten der sog. „Antideutschen“ („ideologiekritisch“ heißt das ja heutzutage, sagt zumindest Justus Wertmüller). Hier wird die Polemik gerne und oft genutzt – und zwar als Ersatz für Differenzierung und eine inhaltliche Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Phänomenen. Das hatte eine progressive Seite (insofern hat Martin wohl nicht völlig unrecht), da so bestimmte Themen auf die Tagesordnung gesetzt wurden konnten, die da lange Zeit nicht aufgetaucht sind. Aber es hat eben auch eine regressive Seite, etwa wenn so rassistische Positionen aus Teilen dieses Spektrums kaschiert werden.
Marx und Engels waren, als sie die „Heilige Familie“ und „Deutsche Ideologie“ geschrieben haben, theoretisch eher isolliert. Ueber Arnold Ruge, der Marx mit seinen Deutsch-franzoesischen Jahrbuechern noch ein Forum gegeben hatte, meinten sie sich nun auch lustig machen zu muessen – es erschien nur eine Lieferung, die Publikationsmoeglichkeit war passé. Wegen der „Deutschen Ideologie“ war Marx in Verhandlungen mit Verlegern, die aber den darin Angegriffenen nahe standen – wieder perdu. Es blieb nur die „nagende Kritik der Maeuse“. Das schmerzt, wenn man ein 500-Seiten-Buch mit einigen wirklich neuen Ideen drin geschrieben hat.
Aber Marx und Engels haben ihre theoretische Position und deren Entwicklung immer gerade ueber das „Schliessen der Reihen“ gestellt! Das gilt auch fuer spaetere Zeiten, als man sich wieder und wieder von Unterstuetzern und Weggenossen entfremdete, wenn man ihnen inhaltlich nicht folgen wollte, wie man in Francis Wheens herrlich respektloser Marx-Biographie nachlesen kann.
Was die Antidetuschen betrifft, denke ich, dass sie auch tw. deshalb die Linke aufmischen konnten, weil sie zunaechst mal offen aus dem Konsens ausgebrochen sind. Heute haben sie ihre inhaltlichen Punkte gemacht und weitere Polemik bringt dann nichts mehr. Die „Jungle World“ zeigt ja gut, dass man – wenn man was zu sagen hat – auf Geschimpfe à la Bahamas auch gut verzichten kann.
@Martin: Identität hat doch nix damit zu tun, wie viele man ist. Mancher findet gerade im Außenseiterdasein seine identitäre Spielwiese.
@benni: Mag sein, aber es war ja vom „Reihen schließen“ die Rede, ging also doch um größere Gruppen und deren Geschlossenheit, die manchmal ja mit Polemik nach außen hergestellt wird. Das habe ich ja auch nie bezweifelt, sondern wollte die Frage nach „Polemik als Denkmittel“ oder zumindest als Haltung, aus der heraus anders gedacht werden kann, aufwerfen.
Nachtrag: Zu PK vs. PV (#13 bis #15) habe ich nun auch ein passendes Zitat in der „Deutschen Ideologie“ gefunden:
„Verkehrsform“ benutzt Marx zu diesem Zeitpunkt noch für das spätere „Produktionsverhältnisse“, hier also einfach den Kapitalismus und das Privateigentum, auf dem er beruht.
Ich bin mir nicht sicher, ob nicht viele Missverständnisse der ehemals ’staatstragenden‘ MLer gerade auf solchen Sätzen von Marx fußen. Bspw. ließe sich selbst heute noch die NÖP der 1920er Jahre in der SU damit ideologisch aufs wunderbarste legitimieren, ohne ihre Notwendigkeit wirklich beweisen zu müssen.
Streng genommen ist der Satz nämlich nur dann richtig, wenn die Entwicklungsstufen selber notwendig wären. Das empirisch nachzuweisen (geschweige denn logisch), fiele indes vermutlich selbst unendlich schwer, wenn es einer naturwissenschaftlichen Fraktion gelänge, irgendwo in der Weltgeschichte sowas wie einen ‚Fortschrittsimpuls‘ zu entdecken, und damit ‚Entwicklungsgeschichte‘ quasi ‚erzählen‘ zu können. Engels hat das irgendwo in Frühschriften gemacht und behauptet ohne Sklaverei keine Pyramiden als ausdrücklich Kulturdenkmale.
Insofern würde ich das Marx-Zitat im Gegensatz zu den MLern (die ihn als ‚Lehre‘ verbuchten) wenn nicht als Polemik, dann vielleicht unter (bittere) Ironie einordnen, weil Fortschritt, also die historische Unterscheidung von Sinn und Unsinn überhaupt nur ausmachen kann, wenn man entweder spekulativ oder teleologisch ein Ende von (Vor)Geschichte bestimmt.
Man muss bei Marx immer den theoretischen Rahmen kennen, sonst interpretiert man etwas hinein. Teile des ML haben sich da vermutlich zu eklektisch bedient, nicht die ganze Theorie berücksichtigt. Marx entwickelt ja später im Kapital eine komplexe Theorie des Kapitalismus, bei der die verschiedenen interagierenden Faktoren berücksichtigt werden. Von einem simplen Fortschrittsglauben, wie du ihn unterstellst, war er aber auch schon in der Deutschen Ideologie weit entfernt und er geht auch aus dem Zitat nicht hervor.
Es geht spezifsch darum, dass sich die Produktionstechniken verändern und die Produktivität vergrößert (teils durch Wissen und technologischen Fortschritt, teils durch Schaffung veränderter gesellschaftlicher Bedingungen). Dass dies der Fall ist, hat Marx später im Kapital sorgfältig nachgewiesen, einen wissenschaftlichen Nachweis gibt es also. Übrigens würde wohl auch heute kaum ein Wirtschaftswissenschaftler das bestreiten.
Was die heutige Wirtschaftswissenschaft allerdings bestreiten würde, wenn sich ihr die Frage überhaupt stellen würde, ist, dass diese Entwicklung irgendwann an einen Punkt gerät, an dem Grundbedingungen des Kapitalismus selbst zu einem Hemmschuh werden, d.h. der Kapitalismus, wenn sich die Produktivkräfte fortentwickeln, an seine Grenzen gerät. Das Problem können sie sich nicht stellen, da sie den Kap. nicht als ein Wirtschaftssystem mit bestimmten Eigenschaften auffassen, sondern ideologisch mit dem Wirtschaften schlechthin gleichsetzen.
Dass der Kap. irgendwo nicht mehr mitkommt und andere Wirtschaftsweisen − etwa die Peer-Ökonomie − den entstehenden Produktivkräften besser entsprechen, kann sicher nicht als bewiesen gelten. Es gibt aber empirische Phänomene (etwa das rasche Wachstum der Freien Software unter für sie ungünstigen Bedingungen: schließlich müssen freie Programme von Menschen, die sich im Kap. anders versorgen müssen, nebenher geschrieben werden, während etwa Microsoft mit riesigen Geldressourcen die besten Programmierer anlocken und ihnen gute Arbeitsbedingungen bieten kann), die darauf hinweisen, dass der Kap. gerade von einem anderen System auskonkurriert wird. Die Gründe dafür sind vielfältig; der oben postulierte Gegensatz zwischen PK und PV sicher nur ein Grund (die PÖ macht ja auch einfach mehr Spaß und die kap. Produktionsweise hat genug negative Eigenschaften − von der Borniertheit bis zur Entfremdung −, um Leute zu motivieren, was andres zu machen).
M.E. geht es weniger darum, einen theoretischen Rahmen zu kennen, bspw. den von Marx, als vielmehr rauszufinden, wozu eine Theorie taugt. Vermutlich deswegen heißt das Kapital im Untertitel „Zur Kritik der politischen Ökonomie“. Marxens theoretischer Rahmen heißt schlicht Klassenantagonismus. Gibt es den praktisch, lässt sich mittels der Theorie das Kapital als gesellschaftliches Verhältnis erklären und quasi aufdröseln, weshalb die (bürgerliche) Wirtschaftswissenschaft mit dem Versuch, Wirtschaften schlechtin zu erklären, in der Praxis stets aufs Neue, d.h. periodisch scheitert. Nämlich jedesmal dann, wenn der Laden ‚kriselt‘ und sich alle zuvor gemachten Prognosen und Prophezeiungen als Hirngespinste erweisen.
Gibt es den Klassenantagonismus nicht, weil die Leute sich bspw. als Angehörige von Nationen, Staaten etc. definieren (lassen), erklärt eine Theorie, welche eben den Klassenantagonismus zur Vorausetzung hat, diesbezüglich wenig. Man kann zwar mit ihrer Hilfe erklären, was Herrschaft und Beherrschte machen (d.h. was sich, in Marxschen Kategorien, „hinter ihrem Rücken“ abspielt) und folglich beschreiben, inwiefern Produktivität in Destruktivität quasi ‚umschlägt‘. Fraglich ist halt, wie sich derlei ‚Entwicklung‘ in die Kategorie ‚Fortschritt‘ einordnen ließe.
Stellt sich der Laden nämlich als Herrschaftsverhältnis dar, funktioniert es stets nach dem Prinzip ‚Zuckerbrot und Peitsche‘ resp. ‚Brot und Spiele‘ resp. ‚Teile und Herrsche‘ etc. Anders gesagt, lassen sich die Beherrschten nicht ‚gutwillig‘ zu dem motivieren, wozu die Herrschhaft sie zu benutzen gedenkt, stehen letzterer allerlei Gewaltmittel zur Verfügung, denen gegenüber erstere ziemlich ohnmächtig sind. Daran ließe sich dann wieder empirisch nachweisen, dass an der Theorie, die von einem Klassenantagonismus ausgeht, offenbar in der Praxis doch was dran ist. Zumal für alles was sich die Wirtschaftswissenschaften seit Marx an ‚Hebeln‘ und ‚Methoden‘ ausgedacht haben, in der Praxis eben jene herrschaftlichen Gewaltmittel notwendig waren, um sie überhaupt anwenden zu können. Das war offenbar schon immer so; siehe ‚ursprüngliche Akkumulation‘, ‚entgegenwirkende Ursachen‘ etc.
Ob PÖ etwas ist, das prinzipiell anders funktioniert als kapitalistische Produktionsweise, vermag ich nicht zu beurteilen. Bemerkenswert erscheint mir dein Einwand, sie existiere quasi ‚parallel‘ zur kapitalistischen. Vermutlich gibt es etliche Produktionsweisen, die in ‚Nischen‘ stattfinden und ausdrücklich nicht in warenförmigen ‚Verkehrsformen‘ kulminieren. Entscheidend fürs gesellschaftliche Verhältnis der Leute ‚an sich‘ erscheint mir, dass das dominante Verhältnis, also worin die Leute ihre notwendigen Bedürfnisse, wenn überhaupt, ‚befriedigt‘ bekommen, eben nach wie vor kapitalistisch funktioniert. Und wo die gesellschaftlichen Beziehungen an ‚Marktgesetzen‘ scheitern, wird Gewalt angewendet. Das aber ist nicht charakteristisch für Verhältnisse, worin sich alle formal gleich sind, wie auf dem Markt, sondern für Herrschaftsverhältnisse ganz allgemein.
Software ‚an sich‘ ist bezüglich (Re)Produktion m.E. ein ‚Sonderfall‘, weil sich Privateigentum (als Verkehrsform) nur restriktiv anwenden lässt, die dazu notwendige (herrschaftliche) Gewalt aber an den Reproduktionsbedingungen von Information ’schlechthin‘ ihre Grenzen findet. Microsoft braucht zunächst (herrschaftliche) Gewalt, um Lizenzen zu Geld zu machen (was der Zweck jeder kapitalistischen Produktion ist), befindet sich aber im selben ‚Dilemma‘ wie wirklich materielle Produzenten, die restiktive staatliche Sanktionen gegen ‚Produktpiraten‘ fordern. Daran zeigt sich tatsächlich die absolute Schranke der kapitalistischen Verkehrsform. Ist sie die dominante, so unterbleibt jegliche Produktion, sobald der dieser Verkehrsform gemäße Zweck nicht erreichbar erscheint. Im ‚Extremfall‘ wird eben das Produkt der Konkurrenz vernichtet.
Die m.E. entscheidende Frage ist nicht, ob es alternative Verkehrsformen gibt, sondern ob sich jener Klassenantagonismus überwinden lässt, welcher der dominaten Verkehrsform zugrundeliegt. Den ehedem ’staatstragenden‘ MLern ist es nicht nur nicht gelungen, sie gingen sogar davon aus, in einer ‚Übergangsphase‘ sei der gar nicht zu überwinden, weil da nach wie vor Klassenkampf stattfinde. Ob die These eklektisch war, vermag ich nicht zu sagen. Allerdings konnten sie sich mit einigem Recht auf Marx berufen, ohne in dessen Theorie etwas hinein zu interpretieren, weil der bezüglich Klassenkampf nie als Wissenschaftler sondern stets als Revolutionär argumentierte. Ohne den Anspruch, die gewaltgesetzte Verkehrsform revolutionär zu überwinden, bleibt allerdings fraglich, wozu eine sich darauf gründende theoretische Beschreibung gesellschaftlicher Praxis gut sein soll. Dann ist aber auch Polemik vergebliche Liebesmüh, weil sie keinen Adressaten hat 😉
Bei Marx spielt der Klassenkampf im „Kapital“ kaum eine Rolle. Die Darstellung des Kapitalismus ist davon ganz unabhängig. Dass der Kap. die Klassengegensätze ständig reproduziert, ist für Marx zwar ein Hinweis auf seine Endlichkeit (weil er den Gegensatz produziert, an dem er scheitern muss), aber nur unter den geeigneten Bedingungen: Dass es den ArbeiterInnen schlecht geht und sie sauer sind, reicht nicht für eine Veränderung aus (weil eben nicht das Bewusstsein das Sein macht), es müssen die materiellen Voraussetzungen gegeben sein, und da kommt der mögliche Gegensatz PK – PV ins Spiel.
Fragt sich nur, wie einerseits die Besitzer der Produktionsmittel diese in ihr Eigentum bringen und andererseits die Besitzlosen daran arbeiten lassen, dieses Eigentum zu vermehren 😉
Einen Gegensatz PK – PV gibt es ohnehin nur, wenn man den Laden als (gesellschaftliches) Ganzes betrachtet, sonst wäre Marxens Satz: „Es wird nicht zuviel Reichtum produziert. Aber es wird periodisch zuviel Reichtum in seinen kapitalistischen, gegensätzlichen Formen produziert.“, nachlesbar hier, vollkommen unsinnig. Diese „kapitalistischen, gegensätzlichen Formen“ bestehen immer, solange kapitalistisch produziert wird. Was umgekehrt bedeutet, wird anders produziert, bestehen andere Formen. Ob diese widersprüchlich sind oder nicht, ist damit keineswegs ausgemacht.
Ob es den ArbeiterInnen dabei schlecht und ProgramiereInnen bei Microsoft weniger schlecht geht, spielt für derlei Bestimmungen überhaupt keine Rolle.
Aus Aussagen des Wissenschaftlers Marx wie bspw. dieser: „Die Profitrate, d.h. der verhältnismäßige Kapitalzuwachs ist vor allem wichtig für alle neuen, sich selbständig gruppierenden Kapitalableger. Und sobald die Kapitalbildung ausschließlich in die Hände einiger wenigen, fertigen Großkapitale fiele, für die die Masse des Profits die Rate aufwiegt, wäre überhaupt das belebende Feuer der Produktion erloschen. Sie würde einschlummern. Die Profitrate ist die treibende Macht in der kapitalistischen Produktion, und es wird nur produziert, was und soweit es mit Profit produziert werden kann.“, auch hier, ein Scheitern des Kapitalismus zu prognostizieren, und bis es soweit ist in ‚Nischen‘ abwarten zu wollen, entbehrt nicht einer gewissen Komik, wenn der beim Revolutionär Marx stets mitgedachte, d.h. der ganzen Theorie vorausgesetzte Klassenantagonismus bestritten wird.
Unfreiwillig (oder unbewusst??) bestätigt man damit nur Marxens Postulat, wonach Geschichte erst als Tragödie abliefe und sich hernach als Farce wiederhole …
Der Klassenantagonismus spielt natürlich eine Rolle, aber er ist nicht „der ganzen Theorie vorausgesetzt“, sondern er ergibt sich (zumindest im „Kapital“) erst aus der Funktionsweise des Kap. Nicht weil die Klassen im Ggs. stehen, gibt es den Kap. und dieser hat gewisse Eigenschaften, sondern umgekehrt, weil der Kap. existiert und gewisse Eigenschaften hat, bringt er den Klassenantagonismus hervor.
Klassenkampf, wovon die Rede war, ist dem dann nochmals nachgelagert: Manchmal gibt es ihn, manchmal nicht, da kommen so viele historischen Bedingungen hinein, dass Marx ihn in der Beschreibung des Kap. im „Kapital“ erst ganz am Ende des 3. Bandes thematisiert. Hier gibt es keinen Automatismus (etwa im Sinne einer „Verelendungstheorie“). Dem Klassenkampf eine grundlegende Rolle für die Marxsche Theorie insgesamt zuzuschreiben, war einer der großen (ideologisch bedingten) Irrtümer des dogmatischen ML. Sie hätten nur Marx aufmerksam lesen müssen, um ihn nicht zu begehen, woran man sieht, wie stark Ideologien sind (denn schließlich wurde Marx im Ostblock genug gelesen!). [Heute bestimmt uns die Ideologie des Kapitalismus zwar weniger direkt, aber nicht weniger stark.]
Und mit dem Gegensatz PK-PV ist keine der „kapitalistischen, gegensätzlichen Formen“ gemeint, weder der Klassengegensatz (der vom Kap. ständig reproduziert wird), noch der Gegensatz zwischen Überfülle und Armut, noch der von Überangebot und Produktionszwang einerseits und unerfüllten Bedürfnissen und ständiger Knappheit andererseits. Alle diese Gegensätze bestehen immer, während der von PK vs. PV eben nicht immer im Kap. besteht. Im Gegensatz: Der Kap. setzte sich sogar gerade durch, als die Produktivkräfte in Gegensatz zu den früheren Produktionsverhältnissen (den spätfeudalen nämlich, mit Zünften, vielen kleinen Handwerkern, geringer Konzentration des Kapitals, unentwickeltem Bankwesen usw.) geraten waren. In der Zeit, als sich der Kap. gerade durchgesetzt hatte, standen also PK und PV gerade nicht im Gegensatz .
Dieses Gegensatz also allgemein für den Kap. zu behaupten, ist schlichtweg Unsinn.
Wie oben angemerkt, muss man natürlich mit dem PK-PV-Gegensatz vorsichtig umgehen und darf keine zu weitreichenden Schlüsse daraus ziehen. Er spielt bei Marx auf jeden Fall eine geringere Rolle, als ihm vom ML lange Zeit zugewiesen wurde, der teilweise einen Geschichtsautomatismus daraus ableitete. Soweit kann man sicher nicht gehen, aber dass Marx diesen Gegensatz für das Ende des Kap. für relevant hielt (und davon ausging, dass ein solcher Gegensatz, der ja historisch vor Beginn des Kap. bestand, irgendwann wieder eintreten würde), ist recht eindeutig.
Klassen und Klassenkampf thematisiert Marx allerdings auch am Ende von Band 3 nicht wirklich, aber er hatte es vermutlich vor („{Hier bricht das Ms. ab.}“).
Dein Begründungszusammenhang, unabhängig davon ob er stimmt, wäre eher ein Plädoyer dafür, den Klassenkampf solange fortzuführen, bis das Kapital als dominates gesellschaftliches Verhältnis beseitigt ist, anstatt ihn für bedeutungslos zu erklären.
Würde deine Begründung tatsächlich stimmen, hätte Marx nie postulieren können, alle (bisherige) Geschichte sei eine von Klassenkämpfen. Was nun gerade nicht heißt, das sei unvermeidlich. Der Witz ist doch gerade, weil es Klassenkampf ist, also von Menschen gemacht, kann es auch von Menschen beseitigt werden. Wenn nicht, ist es eher wie mit der Meteorologie, man kann deren Methoden verbessern, aber am Wetter wenig ändern 😉
Irgendwer hat mal zu recht behauptet, dass die Erkenntnis der Menschen eine spezifisch historische ist, mache nur dann Sinn, wenn Geschichte gerade kein Prozess sei, der quasi logisch ablaufe, worin man also Bestehendes aus seinen Entstehungsbedingungen herleiten könne. Was Marx gemacht hat war dagegen nichts anderes als die Logik des Bestehenden aufzudröseln (und diesbezüglich war er ganz und gar nicht vorsichtig, dass er sich bezügl. Profitrate paar mal verrechnete, war ihm ziemlich schnurz, weil es ums Prinzip ging). Das hatten schon Smith oder Ricardo versucht und sind daran gescheitert, u.a. weil sie Kapitalismus mit Wirtschaften schlechthin verwechselten. Bei Marx ging es nie darum, ob der Kapitalismus die materiellen Bedingungen für eine befreite Menschheit schafft oder nicht. Dass es so war (und ggf. noch ist), ließ sich halt nur als historische Tatsache konstatieren. Aber warum sollte man das auch noch begrüßen oder gar als unvermeidlich hinstellen, also sagen, die Arbeiter mögen die Klappe halten, wenn’s ihnen nicht so gut geht?
Was du dagegen machst, ist eine Abfolge zu konstatieren und daraus deren Notwendigeit herzuleiten. Das ist ungefähr so, als wollte man die Notwendigkeit des Miltärs aus dem Umstand herleiten, dass Forschung fürs Militär die spätere Herstellung von beschichteten Bratpfannen ermöglichte. Im Grund bist du damit auf dem selben Holzweg wie die MLer, die eine ‚Übergangsphase‘ als geschichtlich notwendig bestimmten aus Marxens eher polemischem Postulat von den ‚Muttermalen‘ in der „Kritik des Gothaer Programms“. Geschichtlich notwendig ist überhaupt nur etwas, wenn es Subjekte gibt, welche der Geschichte widersprechen.
Was man den MLern tatsächlich vorwerfen kann ist, dass sie diese Sache für bare Münze nahmen und von Lenin bis Ulbricht meinten, das „Kapital“ sei eine Anleitung, wie man zu Mehrwert komme, den man dann nur noch zu vergesellschaften brauche, um ihn für ’soziale Zwecke‘ o.s.ä. zu verwenden. Mao behauptete sogar, Sozialismus sei eine ‚objektive historische Notwendigkeit‘, welche sich selbst ohne subjektiven Willen der Leute einstellen würde. Das ist nicht so weit weg von deinem Gedanken, es müssten halt die materiellen Bedingungen stimmen … 😉
@ Christian
zwischen dem Erscheinen des 1. Bands und 1883 hat er sich, wenn’s die Gesundheit erlaubte, wohl auch mehr in praktische politische Arbeit gestürzt, weswegen Engels den ‚Rest‘ des „Kapital“ aus mehr oder weniger ungeordneten Manuskripten extrahieren musste. Aber in eine Gesamtdarstellung, die Marx urspünglich vorhatte, gehört Klassenkampf unbedingt rein, ebenso wie Konkurrenz als gesellschaftlicher Schein. Der aber eben nur dann Schein ist, wenn man zwar widersprüchliche, aber eben gesetzmäßige gesellschaftliche Produktion apriori unterstellt.
Es ging um die Rolle des Klassenkampfs in der Marxschen Theorie, nicht um meine Meinung dazu. Schließlich mag ich ja den Klassenkampf (schon damals seit dem Gymmi, als wir der 6b mal so richtig zeigten, wo der Hammer hängt). Würde ich klassenkampfwillige Arbeiter sehen, würde ich rufen: Als druff auf die Manager! Tretet den Bonzen mal so richtig schön gegen den Porsche! Ändern wird das aber nur was, wenn noch ein paar materielle Bedingungen dazu kommen, laut Marx. – Soweit mal dazu.
Ich weiß nicht, ob’s wirklich darum ging, jedenfalls schrobst du:
„Es ist gemein, und es darf in einer gerechten Welt nicht sein, aber so ist es: Marx gewinnt immer.“, was ich als Indiz dafür nehme, dass du dir eine ‚gerechte Welt‘ wünschen tätest. Damit hatte Marx m.E. nun aber gar nix am Hut. Vielleicht ist das auch so ein grundsätzliches Missverständnis, dem die ‚Linke‘ aller Schattierungen wohl bis heute aufsitzt, nämlich eine irgendwie ’nachkapitalistische‘ Gesellschaft mit ‚gerechte Welt‘ zu übersetzen. Damit täte man dem Rauschebart aber womöglich furchtbar unrecht.
Nimmt man bspw. die These historisch wachsender PK ausdrücklich als gesellschaftliche PK ernst, wird wenigstens erahnbar, was Marx sich von einem ‚Verein freier Produzenten‘ als Möglichkeit versprach: „a higher level of social production“. Gemessen daran ist ‚äquivalenter Tausch‘ zwar gerecht (weil’s unter individuellen Eigentumsbestimmungen sonst Raub, Diebstahl etc. gleichkäme), nur eben vom vorausgesetzten, weil praktisch nachgewiesenen Standpunkt apriori gesellschaftlicher Produktion aus betrachtet, nicht bloß ausgesprochen unsozial sondern in der Tat ‚kontraproduktiv‘.
Der Grund hierfür ist historisch der Klassenantagonismus. Und der praktische Widerspruch ist nicht das mangelnde Bewusstsein (dies ist quasi bloßer Ausdruck von gesellschaftlicher Determiniertheit der ‚Individualität‘), sondern der Umstand, dass das PK-Wachstum ohne stetig wachsende Kooperation der Beteiligten, also deren meinetwegen ‚gesellschaftliche Integration‘ gar nicht zu haben ist. Der Witz ist nur, je größer die Integration um so größer unter der Voraussetzung von Privateigentum als gesellschaftlicher Institution zugleich die scheinbare Anonymität.
Btw, worum’s beim Gymi-Klassenkampf ging, vermag ich nicht zu beurteilen, die (durchaus verständliche) Aufforderung an ‚klassenkämpfende‘ Arbeiter, die Karren ihrer Chefs zu demolieren, wäre unter den gegebenen Umständen eher so kontraproduktiv wie zu Marxens Lebzeiten die Maschinenstürmerei. Die Notwendigkeit, den Chefs neue zu besorgen, würde den kapitalistischen Geschäftsgang eher ankurbeln, dagegen das Privateigentum als gesellschaftliche Institution nicht mal infrage stellen 😉
Interssant ist bspw. was Marx (m.E. durchaus polemeisch gegen die Nationalökonomie als Wissenschaft) zum Thema „Bedürfnis, Produktion, Abreitsteilung“ in „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“ (http://www.mlwerke.de/me/me40/me40_546.htm) schreibt:
“Wie die Vermehrung der Bedürfnisse und ihrer Mittel die Bedürfnislosigkeit und die Mittellosigkeit erzeugt, beweist der Nationalökonom (…) 1. indem er das Bedürfnis des Arbeiters auf den notwendigsten und jämmerlichsten Unterhalt des physischen Lebens und seine Tätigkeit auf die abstrakteste mechanische Bewegung reduziert, also, sagt er: Der Mensch hat kein andres Bedürfnis weder der Tätigkeit noch des Genusses; denn auch dies Leben erklärt er [als] menschliches Leben und Dasein; indem 2. er das möglichst dürftige Leben (Existenz) als Maßstab, und zwar als allgemeinen Maßstab ausrechnet (…) und alles, was über das allerabstrakteste Bedürfnis hinausgeht (…) erscheint ihm als Luxus. Die Nationalökonomie, diese Wissenschaft des Reichtums, ist daher zugleich die Wissenschaft des Entsagens, des Darbens, der Ersparung, und sie kömmt wirklich dazu, dem Menschen sogar das Bedürfnis einer reinen Luft oder der physischen Bewegung zu ersparen. Diese Wissenschaft der wunderbaren Industrie ist zugleich die Wissenschaft der Askese, und ihr wahres Ideal ist der asketische, aber wuchernde Geizhals und der asketische, aber produzierende Sklave. (…)
Allerdings erhebt sich nun auf nationalökonomischem Boden eine Kontroverse. Die eine Seite (Lauderdale, Malthus etc.) empfiehlt den Luxus und verwünscht die Sparsamkeit; die andre (Say, Ricardo etc.) empfiehlt die Sparsamkeit und verwünscht den Luxus. Aber jene gesteht, daß sie den Luxus will, um die Arbeit, d.h. die absolute Sparsamkeit zu produzieren; die andre Seite gesteht, daß sie die Sparsamkeit empfiehlt, um den Reichtum, d.h. den Luxus zu produzieren. Die erstere Seite hat die romantische Einbildung, die Habsucht dürfe nicht allein die Konsumtion der Reichen bestimmen, und sie widerspricht ihren eignen Gesetzen, wenn sie die Verschwendung unmittelbar für ein Mittel der Bereicherung ausgibt, und von der andern Seite wird ihr daher sehr ernstlich und umständlich bewiesen, daß ich durch die Verschwendung meine Habe verringere und nicht vermehre; die andre Seite begeht die Heuchelei, nicht zu gestehn, daß grade die Laune und der Einfall die Produktion bestimmt; sie vergißt die „verfeinerten Bedürfnisse“, sie vergißt, daß ohne Konsumtion nicht produziert wurde; sie vergißt, daß die Produktion durch die Konkurrenz nur allseitiger, luxuriöser werden muß; sie vergißt, daß der Gebrauch ihr den Wert der Sache bestimmt und daß die Mode den Gebrauch bestimmt; sie wünscht nur „Nützliches“ produziert zu sehn, aber sie vergißt, daß die Produktion von zuviel Nützlichem zuviel unnütze Population produziert. Beide Seiten vergessen, daß Verschwendung und Ersparung, Luxus und Entblößung, Reichtum und Armut = sind.“
Und wenn man daran nichts zu kritisieren hat, braucht man sich die „Kritik der Politischen Ökonomie“ halt auch nicht anzutun. Ggf. fordert man dann, wie etwa die Masse der Lohnabhängigen bloß bessere Löhne, hat aber gegen Lohn ‚an sich‘ als Mittel des ‚Lebensunterhalts‘ o.s.ä. nichts einzuwenden … 😉
Also wie man den „Lohn an sich“ überwinden kann, ist doch gerade Thema dieses Blogs. Soviel ich weiß, ist ja etwa Stefans Kritik am „Klassenkampf“ gerade, dass er eben nur um die Verteilung zwischen den Klassen geht (wie groß ist das Stück des Kuchens, was die Lohnarbeitenden sich aneignen können?), die warenproduzierende, auf Kapital und Lohnarbeit basierende Gesellschaft aber nicht in Frage stellt.
Der Kampf, auf den es eigentlich ankommt, ist also nicht der Kampf zwischen den Klassen (der „Klassenkampf“ in eigentlichem Sinne), sondern der Kampf für die Abschaffung der Klassen selbst.
Freilich geht es genau darum. Allerdings muss man den Leuten dazu erstmal vertickern, dass es sich um ein Klassenverhältnis handelt und alle Varianten von Hierarchie wie Nation, Staat, Firma etc. bloße Formen davon sind. Denn beseitigen lässt sich nur, was man vorfindet und nicht, was man sich um der Analyse willen wegdenkt. Genau das unterstellt Martin aber Marx, wenn er sagt, dessen Kapitalismus-Darstellung erfolge unabhängig vom Klassenantagonismus. Gibt es den nicht bzw. spielt der für die Analyse keine Rolle, dann herrscht auch keine kapitalistische Produktionsweise und es handelt sich möglicherweise um ein ‚Naturverhältnis‘ o.s.ä., wie es BWL/VWL behaupten. Folglich wäre bereits der erste Satz im ersten Kapitalband Humbug. Anderfalls ist er selber schon Kritik und die Analyse dient einzig dem Zweck, zu klären, was passiert, wenn sich am Verhältnis der Produzenten nichts ändert.
Stefan hat irgendwo mal Privateigentum als „gesellschaftliche Exklusion“ definiert und damit m.E. einen gelungen Ausdruck als Allgemeinbegriff gefunden für etwas, das praktisch auf Gewalt beruht. Es handelt sich indes um keine Naturgewalt sondern eben um gesellschaftliche. Diese zu beseitigen, brauchts aber keine spezifischen materiellen Bedingungen.
Ich würde es eher so formulieren: Herrschaftsverhältnisse ‚an sich‘ halten so lange, wie die Beherrschten die stets ideologisch verbrämte Legitimation der Herrschaft für akzeptabel halten. Diesbezüglich ist vollkommen irrelevant, ob die von Gott persönlich, seinem Stellvertreter oder aus dem Propagandaministerium kommt oder von ‚Experten‘ über ‚unabhängige‘ Medien verbreitet wird. Inhaltlich ist sie ohnehin immerzu gleich und läuft darauf hinaus, die gegenwärtig Benachteiligten mit der Aussicht auf kommende ‚bessere Zeiten‘ mindestens zum ‚Weitermachen‘ zu animieren.
Marxens Kapital-Analyse taugt demgegenüber was, wenn man ohnehin eine Kritik am bestehenden Verhältnis als gesellschaftlichem hat, weil sie erklärt, wie dieses ‚Weitermachen‘ tatsächlich, d.h. „hinter dem Rücken“ der Beteiligten funktioniert. Damit hat er aber eben nur dann wirklich recht, wenn es apriori ein Klassenverhältnis ist. Wenn nicht, verlangen die Benachteiligten vielleicht nur einen ‚gerechten König‘ o.s.ä., also am Herrschafts-, d.h. Klassenverhältnis ändert sich selbst dann nix, wenn die PK ‚einschlummern‘. Der König definiert das nämlich ggf. als unvermeidlichen ‚Sachzwang‘ und lässt die Leute im Interesse des ‚Gemeinwesens‘ vor die Hunde gehen …
I was drawn to Marx many years ago and scrolling thru this, see very little i can understand.