Kulturflatrate – oder, die Norm muss legal sein
Die Argumente für die Kulturflatrate haben einiges für sich. Zu Recht wird betont, dass die Kreativen ja auch im Kapitalismus von etwas leben müssen, und die Kulturflatrate erscheint vielen als ein akzeptables Modell, um dies mit der freien Nutzung von Inhalten zu verbinden. Ich möchte sie hier auch nicht insgesamt beurteilen, aber einmal auf eine wenig beachtete Seite der Kulturflatrate und des sie umgebenden Diskurses aufmerksam machen. – Dieser Beitrag ergänzt auch meine Überlegungen zu Selektion und Normierung im Kapitalismus.
Eine häufig vorgebrachte Argumentation für die Kulturflatrate könnte man so zusammenfassen: „Die Gesellschaft hat sich verändert; heute laden alle jungen Leute ohne Rücksicht auf Copyright herunter und finden das ganz normal. Wir können nicht die ganze nächste Generation kriminalisieren. Langfristig gesehen wird es eh geändert werden, wenn die an der Macht sind, für die Filesharing so normal ist wie atmen. Die Gewohnheiten haben sich geändert, daher müssen die Gesetze angepasst werden.“ (vgl. z.B. Argumentationen von Lawrence Lessig)
Konservative und Gesetzeshüter sehen dies natürlich erstmal überhaupt nicht ein (ich erinnere mich an die moralischen Ermahnungen meiner Schulzeit, damals hieß es, „Dass die anderen es auch tun, ist kein Argument“). Sie werden aber durch die (implizite) Folgerung „Wenn ihr die Mehrheit kriminalisiert, wird sie eure Gesetze nicht mehr akzeptieren“ zum Nachdenken gebracht. Denn was könnte schlimmer sein, als eine Delegitimierung der Justiz und der allgegenwärtigen Bestrafung, ohne die moderne kapitalistische Nationalstaaten offenbar nicht auskommen und an die wir uns längst ebenso gewöhnt haben wie an das unvermeidliche Moralgedöns?
Die für eine Kulturflatrate Argumentierenden machen hier m.E. den folgenden Deal mit der konservativen Mehrheit: Legalisiert unser Verhalten, sonst droht euch eine allgemeine Delegitimierung eurer Gesetze und eurer Justiz. Kommt uns aber hier entgegen, und wir stellen eurer Verbots- und Bestrafungssystem weiterhin nicht in Frage. Denkt daran, dass dieses System immer nur funktioniert, solange es für den Durchschnittsmenschen bloß „die anderen“ sind, deren Verhalten es trifft (die Diebe; die Migranten; die Schwulen; die politisch Radikalen; die Pädophilen; die im Inzest Lebenden – und wer sonst eben so kriminalisiert wird)
Bestraft uns alle für das, was wir täglich tun und was man uns daher schlecht als Scheußlichkeit präsentieren kann, und uns könnte auffallen, dass mit dieser Bestrafungskultur etwas nicht stimmt. Bestraft nur die anderen, und wir akzeptieren eure in Hunderten von Krimisendungen täglich wiederholte Erzählung vom „bösen Verbrecher“, vom asozialen Anderen, den zu Recht die Bestrafung trifft. Bei dem es auch nichts macht, wenn sein Leben damit zerstört wird, weil er per abgrenzenden Eigenschaften nicht ich bin. Bestraft uns alle, und uns wird unsere potentielle Identität mit allen juristisch Verfolgten auffallen.
Die legalistische Argumentation
Die Konsensfähigkeit der Kulturflatrate wird also mit einem legalistischen Argument erkauft. Legalismus, als überhistorisches Prinzip der Rechtsbegründung verstanden (und dann auch juristischer Positivismus genannt), ist der Ansatz, Recht sei schlicht, was im Gesetz steht. Er impliziert, dass sich Gesetze nicht rechtfertigen müssen und einfach zum Gesetz erklärt werden darf, was den Mächtigen gefällt.
Auf den ersten Blick scheint der Ansatz der Kulturflatrate nicht legalistisch zu sein, weil ja durchaus erklärt wird, wieso Herunterladen nichts schadet, sondern eine Gesellschaft in der frei kopiert werden kann sogar besser dran ist als die jetzige (wenn man die entsprechenden gesellschaftlichen Veränderungen vornimmt). Allerdings gilt dies beim genaueren Hinsehen auch für viele andere Bereiche: Eine Gesellschaft ohne Eigentum wäre unter bestimmten Umständen auch besser dran als die jetzige (nämlich dann, wenn man es durch ein auf Commons und Nutzungsrechten basierendes Wirtschaftssystem ersetzt). Der größte Teil der jetzigen Gefängnisstrafen wird aber für Eigentumsdelikte verhängt!
Die Argumentation einer Kulturflatrate ist also legalistisch, wenn sich keine weitergehende Kritik des Kapitalismus damit verbindet: Weil die Mehrheit es macht, machen wir es legal. Und haben damit das Gesetz wieder zu etwas gemacht, das abweichendes Minderheitenverhalten sanktioniert. Gibt man damit nicht zu, dass Gesetze und Bestrafungen oft keine andere Basis haben, als die Menschen „auf Kurs“ des Mehrheitsverhaltens zu halten?
Was viele tun, darf nicht verboten sein, weil dies zur Entfremdung vom Rechtsstaat führen würde. Richtig. Aber wäre eine solche Entfremdung wirklich so schlimm, oder ist sie vielleicht der nötige Ausgangspunkt für eine Reflexion über unser Normierungs- und Bestrafungssystem? Ein sowieso fragwürdiges System, das umso gefährlicher wird, als es mit einer vollständigen, allgegenwärtigen, mit enormen technischen Möglichkeiten ausgestatteten Kontrolle und Überwachung verbunden ist, wie sie frühere, zunächst strenger formulierte Bestrafungssysteme (Codex Hammurapi, Feudalismus, absolutistische Monarchie) nie erreichten, so dass dort im Alltag teils mehr Freiheit bestanden haben dürfte als heute.
Strafe und Norm
Wir alle stimmen mit Verboten, Strafen, Einsperren mehr oder minder überein, ohne im einzelnen zu überlegen, ob die jeweilige Sache wirklich bestraft werden darf, ob der entsprechende Gesellschaftsbereich nicht auch anders organisiert werden könnte, usw. Dies hat viel damit zu tun, dass sie praktisch immer eine Minderheit treffen. Gegen das, was die Mehrheit (oder die Mächtigen) einer Gesellschaft tun, gibt es sehr selten Gesetze. Das heißt aber nicht, dass es nicht problematisch, schädlich, schwer zu rechtfertigen ist.
Was der Kapitalismus und seine Protagonisten mit uns und mit der Zukunft unserer Kinder machen, ist weit schädlicher, und könnte selbst auf Grundlage der etwas angestaubten Moralphilosophie oft eher als Verbrechen betrachtet werden, als ein Großteil des von Gesetzgebern, Polizei und Justiz betriebenen Verbots- und Bestrafungswesens. Die Folgen bestimmter ganz legaler Verwertungspraktiken sind weit schlimmer als die des Drogenkonsums – und schwerer zu rechtfertigen, haben sie doch große Auswirkungen auf andere, während man eigentlich niemandem verbieten kann, seinen Körper mit Substanzen zu beeinflussen oder anderen diese zu verschaffen, bloß weil deren Wirkungen gesellschaftlich unerwünscht sind.
Wenn man darüber nachdenkt, merkt man: Was bestraft wird, ist meistens entweder (a) vom Mehrheitsverhalten abweichendes oder (b) der Machtstruktur einer Gesellschaft widersprechendes Verhalten:
(a) Oft weden politische Minderheitenmeinungen bestraft, auch dann wenn sie besser zu rechtfertigen sind – man denke an die traditionsreiche Verfolgung des Antifaschismus in Deutschland, die bis heute anhält (etwa die jahrelange Jagd auf Antifas mit Hilfe des StGB § 86a, obwohl klar ist, dass dieser dafür nicht gedacht war und auch nicht gerechtfertigt werden kann). Mehrheitsverhalten, etwa die Kollaboration der Mehrheit der Deutschen mit den Nazis, wird nicht nur nicht bestraft, sondern oft noch belohnt (in diesem Fall beließ man den Deutschen die durch Mord oder Vertreibung von Millionen von Juden, Homosexuellen, Linken, usw. angeeigneten immensen materiellen Werte, die einen nicht unerheblichen Teil des heutigen Gesamtreichtums der Deutschen darstellen, gleichzeitig wurden nur einige wenige in einer Justiz mit Alibicharakter strafrechtlich belangt).
(b) Auch die typischen Taten der Mächtigen werden kaum belangt, oft sogar noch belohnt: Wer die Nachrichen über Wirtschaftskriminalität aufmerksam verfolgt, stellt fest, dass die Strafgelder deutlich geringer ausfallen können als der geschätzte durch die Tat erzielte Gewinn, dass man also widerstrebend gerade einen Teil dieses Gewinns wieder wegnimmt und die Täter somit für ihre Tat belohnt. Während umgekehrt bei typischen Verbrechen der Unterprivilegierten Strafen üblich sind, die mit dem materiellen Schaden in keinem Verhältnis mehr stehen (z.B. Gefängnisstrafen für mehrmaligen Ladendiebstahl mit geringen Schadensummen).
Besser illegal? – Warum Widersprüche wichtig sind
Fassen wir nochmal zusammen. Die Argumentationen für die Kulturflatrate folgen oft dem Muster: Alle machen es, es ist neuer Standard – also darf es nicht verboten sein. Sonst entfremden wir die Mehrheit dem Gesetz, indem wir sie illegalisieren. Die Forderung nach der Kulturflatrate findet in einem normativen gesellschaftlichen Klima statt und unterstützt dieses, wenn sie meint, dass Downloaden schon deshalb legalisiert werden müsse, weil es nun einmal üblich geworden sei.
„Die Gesellschaft hat sich weiterentwickelt“, das leuchtet offenbar vielen ein. Tatsächlich ist das eher ein Grund, sich zu fragen, warum wir überhaupt so viel unter Strafe stellen und ob eine Handlung bestraft werden darf, nur weil sie der momentanen Funktionsweise einer Gesellschaft widerspricht. Wer weiß, ob sich nicht so manches, wofür heute das Leben von Menschen regelmäßig von der Justiz zerstört wird (viele Vorbestrafte kriegen höchstens noch schäbige Jobs, können ihre Lebenspläne vergessen), sich später, ‚wenn die Gesellschaft sich weiterentwickelt hat‘, als nicht bestrafungswürdig herausstellen wird?
Wird Gesetzesbruch zur Normalität, macht dies die Fragwürdigkeit der Zurichtungs- und Verfolgungssysteme Legislative, Justiz und Polizei anschaulich, die gesellschaftlich so völlig akzeptiert sind, dass sie ihre Notwendigkeit nicht begründen müssen. Wird dieser Widerspruch rasch weglegalisiert, wird sich die Linke wieder zurücklehnen in die Gewissheit, dies seien (von einzelnen Verfehlungen wie Polizeigewalt oder Justizrassismus abgesehen, die man ja kritisieren könne) im Großen und Ganzen notwendige und richtige Systeme.
Während die konservative Mehrheit selbst einen solchen Begründungsversuch nicht für nötig hält, zu offensichtlich ist für ihr noch immer christlich beeinflusstes Sünde- und Bußedenken, dass diese Systeme notwendig sind. Denn „Strafe muss sein“, und je mehr man von Milde und Verzeihung redet (und damit seine eigene moralische Überlegenheit etwa gegenüber anderen Kulturen und Religionen begründet), desto fester steckt man in dieser Logik drin, und desto mehr Menschen will man daher am Ende bestraft sehen, was durch weltweit belegbare Neigung christlich-konservativer Parteien zu Gesetzesverschärfungen belegt wird. (Ebenfalls ein Widerspruch, der den meisten Christen nicht aufzufallen scheint.)
Vielleicht ist es daher aus emanzipatorischer Sicht die konsequente Forderung, Filesharing und Kopieren in der Illegalität zu belassen. Schließlich widerspricht es tatsächlich der Eigentumslogik des Kapitalismus – warum dann es legalisieren, während so viele andere Dinge, z.B. der der Verwertungs- und Arbeitslogik ebenfalls widersprechende Drogenmarkt, aus keinem anderen Grund unter Strafe gestellt werden, als eben diesem Widerspruch?
Nur weil ich grundsätzlich an der Legitimität von Recht und Ordnung Zweifel habe kann ich doch trotzdem in Einzelfällen Erleichterungen befürworten. Jedes weniger an Gängelung ist doch erstmal positiv.
Oder steckt dahinter die Hoffnung durch immer stärkere Repression das System entlarven zu können? Dann braucht man doch nur mal in Weltgegenden mit deutlich mehr Repression zu schauen um zu sehen, dass es da nicht automatisch zu Umsturz und Revolution kommt.
Ganz abgesehen davon gibt es jede Menge gute Gründe gegen eine Kulturflatrate, die verbindet nämlich notwendig das schlimmste an GEZ und GEMA und es wäre eine neue Superüberwachungsbürokratie nötig um das machen zu können.
Da ist mehr Phantasie gefragt. Jede denkbare Lösung wird aber entweder mehr Repression bedeuten oder strukturelle Inkompatibilitäten mit dem Eigentumsregime mit sich bringen.
@benni: Du hast Recht, weniger Repression ist immer eine gute Sache, auch wenn sie nur für bestimmte Gruppen, z.B. Filesharer, aufgehoben wird. Aber allzuoft wird, wie im verlinkten Interview von Lessig, einfach die Legalisierung der jetzigen Praxis gefordert, weil sie längst Norm sei. Damit wird die Illegalisierung dessen, was nicht üblich ist, gerechtfertigt.
Nee, das wäre zynisch. Aber das rasche „Weglegalisieren“ des auftretenden Widerspruchs – plötzlich ist die Mehrheit einer ganzen Generation kriminalisiert – kommt mir problematisch vor, weil in diesem Widerspruch Emanzipationspotential steckt. Wird das längst Normale rasch legal, sind wir genauso weit wie zuvor. Mittelfristig gibt es vielleicht genauso viel oder mehr Repression, sie verteilt sich nur anders; die Mehrheit kriegt – im doppelten Sinn – nichts davon mit.
Typischerweise sind es ja eher Linksradikale und andere Randgruppen, die mit dubiosen Argumenten kriminalisiert werden und dadurch (sofern noch nötig) ihren Respekt vor dem Gesetz verlieren – in Umkehrung der Lessig’schen Argumentation hab ich auch schon gedacht, dass es keine ganz schlechte Sache ist, wenn das nicht nur Minderheiten so geht. Sollte hier eine junge Generation heranwachsen, die den Respekt vor dem Gesetz weitgehend oder zumindest zum Teil verloren hat, wäre das aus emanzipatorischer Sicht ja nur zu begrüßen 😉
Allerdings hab ich, wenn ich mir z.B. die Diskussionen bei den Piraten angucke, das Gefühl, dass sich aus der Kritik der »Intellektuelles-Eigentum«-Logik nur in den seltensten Fällen eine allgemeine Kritik der Eigentumslogik entwickelt; eher wird auf die Unterschiede zwischen immaterieller und materieller Welt gepocht und man weist es empört zurück, mit gemeinen Dieben [die ja vielleicht aus der Not heraus handeln] auf eine Stufe gestellt zu werfen. Sprich auch Leute, die sich und ihre Freunde zu Unrecht kriminalisiert fühlen, kommen deshalb noch nicht auf die Idee, Kriminalisierungen generell in Frage zu stellen.
Deshalb glaube ich auch nicht, dass man von einem »Deal«…
…sprechen kann: das ist kein Deal, sondern Lessig und die anderen, die so argumentieren, denken wirklich so.
Eine allgemeine Kritik an Kriminalisierung, wie du sie in dem Artikel äußerst, finde ich aber richtig und wichtig. Vielleicht führen solche Kritiken ja bei dem einen oder der anderen zu einem Umdenken… Auch wenn ich generell eher vermute, dass ein tatsächliches Umdenken im Allgemeinen nur in Zusammenhang mit einer anderen Praxis entstehen kann, die auf grobem Konsens, Faustregeln und Flames statt auf Parlamentsbeschlüssen, Gesetz und Strafen aufbaut.