Kritik an Christian Siefkes „Produktivkraft als Versprechen“ – Teil II

Man vergesse aber nicht, daß dieser beständige Wechsel der Produktions­weise „ebenso beständig unterbrochen wird ‚durch Ruhepunkte und bloß quantitative Aus­dehnung auf gegebner technischer Grundlage‘, durch ‚Zwi­schenpausen, worin die Akkumulation als bloße Erweiterung der Produk­tion… wirkt‘.[1]

Und eben für solche ‚Zwischenpausen‘ gelten die Reproduktionsschemata des II. Bandes, die die Möglichkeit der erweiterten Reproduktion durch die gegenseitige Anpassung der Produktions- und der Konsumtionsmittelindust­rien, und damit auch die Möglichkeit der Realisierung des Mehrwerts erwei­sen. All das konnte aber ge­zeigt werden, ohne daß es nötig gewesen wäre, auch den Faktor des technischen Fortschritts, der sich in der Erhöhung der Kapitalzusammensetzung und der Mehr­wertrate ausdrückt, in die Analyse des II. Bandes miteinzuschließen. (Roman Rosdolsky)[2]

Reproduktionsschemata ohne Disharmonie?

In den Reproduktionsschemata im Kapital II (MEW 24: 391ff.) untersucht Marx die Geld- und Warenflüsse. Bei jeder Transaktion fließt Geld gegen Ware[3]. Dabei wird abstrahiert: Veränderungen der Produktivkräfte – zentraler Punkt im Maschinenfragment – bleiben unbeachtet (siehe Rosa Luxemburgs Kritik an den Reproduktionsschemata sowie Rosdolskys Einlassung im Zitat oben).

In den Reproduktionsschemata skizziert Marx einen Kapitalismus, der scheinbar krisenfrei wächst. Be­kanntlich unterscheidet er zwei Abteilungen der gesellschaftlichen Produktion – Abt. I: Produktionsmit­tel, Abt. II: Konsumtionsmittel. Bei letzteren differenziert Marx zwischen II a, dem Konsum der Arbei­ter*innen, und II b, dem Luxuskonsum der Kapitalist*innen.[4]

Der Output eines Zyklus‘ wird im nächsten genutzt und verbraucht. Die Güter sind am Ende des nächsten Jahres verschlissen oder abgeschrieben, Konsumtionsmittel sind verzehrt. Die erwei­terte Reproduktion (MEW 24: 485ff.) dominiert im Kapitalismus. Das Produktionsvolumen wird durch Investition ständig ausgeweitet, die Wirtschaft wächst. Wie schnell das Wachstum verläuft, das liegt daran, welchen Teil des Mehrwerts die Kapitalist*innen selbst konsumieren[5]. Den nicht konsu­mierten Teil akkumulieren sie, investieren ihn neu, erweitern ihre Produktion.

Die Konsumgüter der Abt. II werden weitgehend verzehrt. Was nicht verzehrt wird, geht in Form von Produktionsmitteln in den Prozess des neuen Zyklus ein. Variables Kapital – der Lohn – fließt durch den Konsum zurück zum Ausgangspunkt. Das Verhältnis von konstantem zu variablem Ka­pitel – die Wertzusammensetzung oder organische Zusammensetzung des Kapitals – muss stimmen. Es kommt zu temporären Krisen, wenn das richtige Verhältnis verfehlt wird. (Wenn die falschen Konsumgüter – z.B. zu viele Luxusgüter – produziert werden oder es an Pro­duktionsmitteln mangelt). In temporären Krisen kann akkumuliertes Kapital nicht verwertet werden. In solchen Disharmonien sieht Siefkes die Krise im erweiter­ten Reprodukti­onsschema. Wenn das Verhältnis stimmt, könne der Kapitalismus immer weiter wach­sen, sofern ihm nicht irgendwann die benötigten Inputs für die stoff­liche Seite des Produktionsprozes­ses und die Ar­beitskräfte ausgehen. In den Reproduktionsschemata geht Marx von gleichbleibender Produktivkraft aus. Die Mehrwertrate beträgt 100%. Die Wertzusammensetzung c/v nimmt Marx als konstant an.[6]

Zwillinge: Akkumulation und Zusammenbruch

Kapitalverwertung zielt auf „Produktion neuer und größrer Werte“ (MEW 42: 356)[7]. Repro­duktion = Akkumulation. Jede Änderung der Produktivkräfte ändert die Austauschrelationen. Der Austausch findet so statt, „daß das Verhältnis der Surplusarbeit gegen die notwendige dasselbe bleibt – denn dies ist gleich dem Gleichbleiben der Verwertung des Kapitals“ (MEW 42: 357). Die Krise tritt ein, „um das richtige Ver­hältnis zwischen notwendiger und Surplusarbeit, worauf alles in letzter Instanz beruht, wiederherzu­stellen“ (MEW 42: 360).

Der Austausch „ändert nicht die inneren Bedingungen der Verwertung; aber er wirft sie nach außen; gibt ihnen selbständige Form gegeneinander, und läßt so die Einheit nur als innere Notwendigkeit existieren, die sich daher äußerlich gewaltsam in den Krisen äußert. Beides ist daher im Wesen des Kapitals gesetzt: sowohl die Entwertung des Kapitals durch den Produktionspro­zeß, als auch die Aufhebung derselben und das Herstellen der Bedingungen für die Verwertung des Kapitals“ (MEW 42: 360). „Die Krise erscheint hier nicht als Resultat einer sich auf das Verhältnis von Produktion und Konsumtion beziehenden und verloren gegangenen Proportionalität, sondern als Zwangsmittel zur Wiederherstellung der ‚Proportionalität‘ zwischen der notwendigen und der Mehr­arbeit, die sich durch die verselbständigte, unkoordinierte Bewegung des Austauschs und der Produk­tion verloren hatte“ (Mattick (1974): 104)8. Die von Paul Mattick ausgewählten Marx-Zitate binden Grundrisse und Reproduktionsschemata aus dem Kapital II direkt zusammen. Der von Siefkes konstruierte Gegensatz löst sich in Nichts auf.

Roman Rosdolsky weist darauf hin, „daß die Reproduktionsschemata des II. Bandes nur eine – wenn auch äußerst wichtige – Phase der Marxschen Analyse des gesellschaftlichen Reprodukti­onsprozesses darstellen und daß sie daher einer notwendigen Ergänzung durch die Marxsche Krisen- und Zusammenbruchstheorie bedürfen.“[9]

Die erweiterten Reproduktionsschemata beweisen „in Wirklichkeit […] mehr: daß die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise, die in eben diesen Störungen und dem durch sie geförderten tendenziellen Fall der Profitrate ihren Ausdruck finden, im­mer wieder auf höherer Ebene reproduziert werden, bis schließlich die ‚Spirale‘ der kapitalistischen Entwicklung ihr Ende erreicht“ (Rosdolsky (1970): 585).

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Anmerkungen

[1] Marx, Karl/Engels, Friedrich (1956 ff.): Marx-Engels-Werke (MEW). Berlin: Dietz-Verlag, Kapital I, S. 473 und 658.

[2] Rosdolsky, Roman (1970): Der Streit um die Marxschen Reproduktionsschemata. In: Hickel, Rudolf (1970): Leseanleitung und Textauswahl zu Karl Marx, Das Kapital II. Frankfurt, Berlin, Wien: Ullstein S. 584. – Hervorhebung von mir, WJ.

[3] Die Darstellung ist verkürzt. Geld und Arbeitskraft sind als Waren in den Formwandel eingeschlossen. Geld ist die allgemeine Ware.

[4] Siefkes verwendet in seinem Text Buchstabenkürzel: ►Pm = Produktionsmittel produzierende Abteilung I, ►ALm = Teil der Abt. II, der die Lebens- und Konsummittel für Arbeiter*innen produziert, ►KK = der Teil der Abt. II, der die Luxusgüter für den Konsum der Kapitalist*innen herstellt. – Der von Siefkes hier benutzte Ausdruck der „Branche“ ist unpassend, weil viel zu kleinteilig.

[5] In der einfachen Reproduktion konsumieren die Kapitalist*innen alles. Dann wächst die Produktion nicht. Es ist eine stationäre Gesellschaft.

[6] Gleichbleibende Mehrwertrate, gleichbleibende Produktivität und gleichbleibende Wertzusammensetzung widersprechen der Realität. Auch wenn diese wesentlichen Aspekte gleich bleiben, erweitert sich die Reproduktion, geht die Akkumulation vonstatten (s.o.).

[7] Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie (1983)

[8] Mattick, Paul (1974): Krisen und Krisentheorien. In: Mattick/Deutschmann/Brandes (1974): Krisen und Krisentheorien. Frankfurt a. M. : Fischer

[9] Rosdolsky weiß, dass es bei Marx keine explizite Krisentheorie gibt, er selber verweist auf Band I des Kapital. Zur Krisentheorie gehört das Maschinenfragment. (Rosdolsky hat sich als einer der ersten intensiv mit den Grundrissen befasst).

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