Märkte für reale, aber nicht für „fiktive“ Waren wie Arbeitskraft und Land?

Reale Waren auf einem Marktplatz in Äthiopien (eigenes Foto) (Voriger Artikel: Vorüber­legungen)

Karl Polanyi weist darauf hin, dass es Ware­nmärkte in sehr vielen Gesell­schaf­ten gegeben hat, sich aber erst mit der Ver­brei­tung des Kapi­ta­lismus auch Märkte für fiktive Waren im großen Stil durchgesetzt hätten. Als „fiktive Waren“ bezeichnet er Arbeits­kraft, Boden und Geld, da sie nicht für den Verkauf produziert werden, auch wenn sie im Kapi­ta­lismus wie Waren gehandelt werden (Polanyi 1978, 108). Diese fiktiven Waren sind zu unter­scheiden von echten Waren (Real­waren), die in Betrieben oder von Einzel­produzen­tinnen für den Verkauf produziert werden.

Der Kapitalismus braucht augenscheinlich Märkte für fiktive Waren, während andere Gesellschaften weitgehend ohne diese auskamen. Eine zu untersuchende These ist somit, dass eine Gesellschaft, in der fiktive Waren nicht mehr (oder jedenfalls nicht in erster Linie) auf Märkten erhältlich sind, nicht mehr kapitalistisch wäre, selbst wenn es noch Märkte für Realwaren gäbe.

Ins Auge fällt hierbei, dass Polanyis „fiktive Waren“ mehrere der wesentlichen Produktionsfaktoren – also der für den Produktionsprozesse benötigten Elemente – darstellen. Als wichtigste Produktionsfaktoren (factors of production) nennt der Neoklassiker Gregory Mankiw (2014, 374) „Arbeit, Land und Kapital“ (labor, land, and capital) – ein Trio, das unschwer Polanyis „Arbeitskraft, Boden und Geld“ zugeordnet werden kann. Auf die terminologische Unterscheidung zwischen „Arbeit“ und „Arbeitskraft“ werde ich gegebenenfalls später zurückkommen; Kapital ist Geld, das im Produktionsprozess verwertet (vermehrt) werden soll.

Letzteres entspricht allerdings nicht dem neoklassischen Verständnis, dem zufolge das Geld nur ein „Schleier ist“, der über den realen materiellen Verhältnisse liegt, ohne sie aber in nennenswerter Weise zu verändern oder zu beeinflussen (ebd., 711). Deshalb betrachten die Neoklassiker das Geld, dass in einer Firma steckt und im Produktionsprozess vermehrt werden soll, nicht als Kapital, sondern als theoretisch sozusagen gar nicht existent. Stattdessen verwenden sie diesen Begriff für im Produktionsprozess eingesetzte Gebäude, Maschinen und Geräte – also für Produktionsmittel gemäß der Marx’schen Terminologie.

Bei differenzierterer Betrachtung handelt es sich hier um zwei unterschiedliche Produktionsfaktoren: Es braucht sowohl Kapital oder Kredit – Geld, mit dem Produktionsmittel sowie Vorprodukte gekauft und die Gehälter der Mitarbeiterinnen gezahlt werden, solange der Produktionsprozess noch nicht abgeschlossen ist – als auch Produktionsmittel, die im Produktionsprozess eingesetzt werden. Produktionsmittel sind aber keine fiktiven Waren, sondern selbst Produkte früher Produktionsprozesse, also reale Waren. Wir können die obige These also auch so formulieren, dass eine Gesellschaft nicht mehr kapitalistisch ist,wenn sie keine Märkte für Produktionsfaktoren kennt, die nicht selbst Realwaren sind – also keine Märkte für Arbeitskraft, Boden und Kapital/Kredit, aber ggf. Märkte für Endkundenprodukte und produzierte Produktionsmittel.

Dabei ist freilich auch zu untersuchen, auf welche alternative Weise der Zugang zu den fiktiven Waren (Arbeitskraft, Boden und Kredit) stattdessen erfolgt. Des Weiteren ist zu erörtern, ob solch eine Gesellschaft eine bessere Alternative zum Kapitalismus sein könnte, oder ob eine Aufhebung bloß der fiktiven Warenmärkte nicht womöglich vom Regen in die Traufe führen würde. Letzteres ist zwar zu einem guten Teil eine Geschmackssache, aber auch über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten.

Als mögliche Prinzipien einer besseren Gesellschaft, die nur Realwarenmärkte kennt, würde ich zunächst vorschlagen:

  1. Es gibt keinen Markt für Arbeitskraft als nach dem Gutdünken der Käufer/Mieter einsetzbaren Produktionsfaktor. Die Alternative: Wer für eine Firma arbeitet, ist damit gleichzeitig dazu berechtigt, an allen sie betreffenden Entscheidungen gleichberechtigt mit allen anderen Mitarbeitern teilzunehmen – alle Firmen sind also Kooperativbetriebe.

  2. Boden und Immobilien (fest an den Boden gebundene Realwaren) sind keine frei handelbaren Waren, sondern sie gehören entweder der Allgemeinheit oder denen, die sie nutzen.

  3. Geld als Geld (das gegen Zins verliehen wird) oder als Kapital (das sich vermehren soll) sind keine frei handelbaren Waren (oder höchstens in sehr begrenztem Maße). Allerdings werden Betriebe immer noch Kredite brauchen – sie müssen zunächst Geld ausgeben, um Produktionsmittel und Vorprodukte zu kaufen oder aufzubauen, bevor sie eigene Produkte verkaufen und dadurch Geld verdienen können. Wie das ohne Kapitalmärkte funktionieren kann, wird zu diskutieren sein.

In solch einer Gesellschaft wären alle Mitarbeiterinnen einer Firma gleichberechtigte Teilhaberinnen und nicht bloß weisungsgebundene Untergebene der eigentlichen Bosse. Ohne weitere gesellschaftlichen Mechanismen stünden alle aber immer noch vor dem Problem, eine Firma finden zu müssen, die sie als Mitarbeiter akzeptiert, um das zum Überleben notwendige Geld verdienen zu können. Das könnte dazu führen, dass Menschen, denen das schwer fällt, in der Praxis auf die ihnen theoretisch zustehenden Rechte als gleichberechtigte Teilhaberinnen verzichten. Aus Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, könnten sie stillschweigend den Anweisungen ihrer Kollegen Folge leisten, statt die Arbeitsverhältnisse gleichberechtigt mitzugestalten. Der offiziell abgeschaffte Unterschied zwischen weisungsbefugtem Management und weisungsgebundenen Angestellten wäre dann durch die Hintertür wiederhergestellt.

Um dieses Risiko abzuwenden, braucht es ein weiteres Prinzip:

  1. Ein Großteil (also mindestens die Hälfte) des Einkommens aller Personen fließt als bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) gleichmäßig an alle, nur der Rest (also maximal die Hälfte) wird durch aktive Marktteilnahme etwa als Mitarbeiter in einer Firma verdient. Dadurch wird der Markt (die aktive Marktteilnahme) wieder vom Zwang zur Möglichkeit, wie er es vor dem Kapitalismus in aller Regel war (vgl. Wood 2002, 76). Das BGE muss dabei nicht unbedingt komplett als Geldbetrag ausgezahlt werden – auch Sachleistungen, die allen in einer bestimmten Region lebenden Menschen zugute kommen können, zählen dazu (z.B. öffentliche Parks, kostenloser Nahverkehr, Rettungsdienste, kostenlose Bildungsangebote). Solche allgemeinen Sachleistungen werde ich im Folgenden als „allgemeine Infrastruktur“ (AIS) bezeichnet.

Die Grenzziehung – mindestens die Hälfte aller Einkommen fließt bedingungslos, nur der Rest kann „verdient“ werden – mag willkürlich erscheinen. Ich denke aber, dass dies ausreichend wäre, um dafür zu sorgen, dass die aktive Marktteilnahme ihren Zwangscharakter verliert – dass also auch diejenigen, die in keiner Firma mitarbeiten, ganz gut leben können, und die Möglichkeit zur Arbeitserpressung („du tust, was wir sagen, sonst!“) entfällt. Sollte sich in der Praxis herausgestellt, dass die bedingungslos fließenden Mittel dafür immer noch zu niedrig sind, müsste ihr Anteil allerdings erhöht werden.

Ein weiterer, noch nicht genannter Produktionsfaktor ist zweifellos das Wissen darum, wie Dinge hergestellt, gepflegt, genutzt und repariert werden können. Um an andere weitergegeben und von anderen interpretiert werden zu können, muss Wissen aufgezeichnet und in die Form von Zeichenartefakten (wie Texte, Software, Musik, Filme, Landkarten) gebraucht werden. Auch Wissen und digital vorliegende Zeichenartefakte haben die Eigenheit, dass sie – wenn überhaupt – nur fiktive Waren werden können, da sie frei mit anderen geteilt werden können, ohne dass die Teilende dadurch etwas verliert. Einen Markt im eigentlichen Sinne – wobei sich x potenzielle Käufer um y Exemplare eines Produkts bemühen, wobei im Normalfall die y meistbietenden Käuferinnen den Zuschlag kriegen (oder unverkäufliche Exemplare übrig bleiben, sofern x < y), kann es für digitale Zeichenartefakte deshalb nicht geben. Zwar können Zeichenartefakte durchaus für den Verkauf produziert und auch verkauft werden, aber eigentlich nur einmal – der erste Käufer kann das gekaufte Exemplar ohne Weiteres mit allen anderen Interessierten teilen, womit er der einzige Käufer bleibt.

Damit digitale Zeichenartefakte nicht nur einmal, sondern immer wieder verkauft werden können, müssen Gesetzgeber deshalb spezielle Monopolregelungen wie das Urheber- und Patentrecht erlassen, die das freie Teilen illegal machen. Eine Gesellschaft ohne Märkte für fiktive Waren wird auf solche Monopolregelungen verzichten und dadurch verhindern, dass Wissen und Zeichenartefakte von frei teil- und nutzbaren Gütern zu fiktiven Waren werden. Dies deckt sich auch mit meiner ethischen Vorüberlegung, wonach der Ausschluss anderer höchstens zur Sicherung der eigenen Gebrauchsrechte gerechtfertigt werden kann – und bei Wissen, das weder exklusiv ist noch sich im Gebrauch verbraucht, deshalb gar nicht.

Daraus ergibt sich freilich kein Zwang zur Veröffentlichung – wenn eine einen Text schreibt, einen Song aufnimmt o.a., kann sie selbst entscheiden, ob sie diesen mit der ganzen Welt, nur mit ausgewählten Freunden oder gar nicht teilt, und die Freunde sollten diesen Wunsch dann auch respektieren. Dasselbe gilt für in einem nichtöffentlichen Kontext entstandene Fotos und Filmaufnahmen, wo neben der Fotografin auch die dargestellten Personen mit einer Veröffentlichung einverstanden sein sollten („Recht am eigenen Bild“). Aber sobald eine Veröffentlichung mit Zustimmung der Urheberinnen und Dargestellten erfolgt ist, haben diese keinen Anspruch mehr darauf, das weitere Schicksal ihres Werkes exklusiv kontrollieren oder für jede Nutzung eine Zahlung einfordern zu können. Als weiteres Prinzip ist somit festzuhalten:

  1. Wissen und Zeichenartefakte können von allen genutzt, geteilt und weiterentwickelt (Veränderung, Remix) werden, sobald sie mit Zustimmung ihrer Urheberinnen und der dargestellten Personen öffentlich geworden sind. Dabei spielt es keine Rolle, ob ein Zeichenartefakt ein bezahltes Auftragswerk ist oder nicht.

Polanyi spricht davon, dass Märkte in vorkapitalistischen Gesellschaften in den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang „eingebettet“ waren, während sie sich im Kapitalismus verselbstständigt haben und alles andere dominieren. Die diskutierten Prinzipien eröffnen die Perspektive einer postkapitalistischen Gesellschaft, in der die Realwarenmärkte wieder eingebettet sind, statt zu dominieren. Dabei sind freilich viele Fragen zunächst noch offen, etwa:

  • Wie werden sich Kooperativbetriebe organisieren und welche Formen der Kooperation sind zwischen unterschiedlichen Betrieben sowie zwischen Betrieben und Kundinnen möglich und sinnvoll?

  • Wie erfolgt der Zugang zu Boden, Immobilien und Kredit, wenn diese keine Waren mehr sind?

  • Wie können ein bedingungsloses Grundeinkommen und allgemeine Infrastruktureinrichtungen in der genannten beträchtlichen Höhe finanziert werden und braucht es dafür nicht einen Staat, der sich gegenüber der Gesellschaft verselbstständigen und ein problematisches „Eigenleben“ entwickeln könnte?

Wer weitere Fragen hat oder auch Vorschläge zur Lösung dieser und anderer Fragen, kann diese gern in den Kommentaren äußern. Meinen aktuellen Stand an Lösungsideen werde ich in den Folgeartikeln entwickeln. Ich will dabei nicht behaupten, ideale „Patentlösungen“ zu kennen, glaube aber, dass die eröffnete Perspektive einer „eingebetteten Marktgesellschaft“ hinreichend erfolgversprechend ist, um sie weiterzuverfolgen.

(Fortsetzung: Profitmaximierung und die Alternativen)

Literatur

Mankiw, N. Gregory. 2014. Principles of Economics. 7. Aufl. Stamford, CT: Cengage Learning.

Polanyi, Karl. 1978. The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystem. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Wood, Ellen Meiksins. 2002. The Origin of Capitalism. London: Verso.

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