Konsequenter Aufbauprozess: still pending
Vorheriger Artikel: keimform.de/2018/eine-verstaendigung-ueber-die-grundzuege-einer-klassenlosen-gesellschaft-ist-allemal-sinnvoll/
Wie auch bei der Diskussion der Utopie, kann ich auch bei der Transformationstheorie vielen Elementen zustimmen. Die Freund*innen sprechen sich gegen Staatseroberung aus und betonen die Bedeutung einer sozial(revolutionär)en Bewegung welche nicht nur erobert und zerstört, sondern welche es schafft in dem Transformationsprozess sich die Produktion anzueignen, „materielle Bedürfnisse zu befriedigen und bereits im Moment der Erhebung andere menschliche Beziehungen aufscheinen zu lassen“ (43). So weit so gut. Vorstellbar ist die Transformation als „wilde Bewegung der Besetzungen“ (41), welche aneignend das Eigentum praktisch hinterfragt und die Gesellschaft und die Produktion Schritt für Schritt erobert. Wichtiger Absetzpunkt ist hierbei eine gradualistische Transformationstheorie.
Mit der Abwendung von der Staatseroberung ist „häufig die Notwendigkeit des Bruchs zugunsten eines alternativen Gradualismus aus dem Blick geraten, sei es unter den Stichwörtern Commons, Keimform oder auch ‚Wertkritik‘[1]“ (41). Aber „alternative Praktiken an der Basis“ (41) sind aussichtslos. Die Gründe hierfür werden nicht ganz deutlich hervorgebracht, aber wohl zum einen da diese Praktiken das Eigentum nicht hinterfragen können und somit sehr begrenzt bleiben. Sie können dieses nicht hinterfragen, weil der Bruch mit dem Eigentum nur als Teil einer erstarkenden Bewegung funktioniert könnte, da diese kurz- bis mittelfristig auch den staatlich-militärische Garant des Eigentums brechen müsste, sonst ist es mit den Aneignungen bald vorbei. Die zweite Gegenargumentation scheint mir, dass die alternativen Praktiken in wirtschaftlicher Abhängigkeit verbleiben, „die heutige weltweite Arbeitsteilung verurteilt jeden lokal begrenzten Ausbruchsversuch erst Recht zu einem schnellen Ende. Das heißt nicht, dass die Revolution am selben Tag auf der ganzen Welt ausbrechen müsste, aber ohne zügige Ausdehnung über größere Gebiete, die wenigstens das Notwendigste bereithalten, wäre alles verloren“ (42). Beide Schwierigkeiten kann ich nur bekräftigen und sie beschäftigen auch die Keimform-Theoriebildung. Jedoch fällt bei dem schnellen-bewegungsorientierten Übergang leider die zentrale Frage der Transformationstheorie – wie üblich – unter den Tisch: Woher kommt die neue Gesellschaft?
Den Aufbauprozess ernst nehmen
Was ein (wenn nicht der) Zentralpunkt der Aufhebungstheorie ist, und was wir hier (Buchkapitel 3) erläutert haben: Die freie Gesellschaft fällt nicht vom Himmel. Ihre neuen Formen der Vermittlung, der Konfliktmediation, des Re/Produzierens etc. müssen erst geschaffen werden. Und ich sehe dafür eigentlich kaum einen anderen Ort als den Transformationsprozess selbst. Während der Überwindung des Alten, müssen wir das Neue (im ausreichenden Maße) schaffen – das ist der Kerngedanke der Aufhebungstheorie. Wenn dies nicht passiert können wir nur hoffnungsvoll romantisierend auf die Selbstorganisationsprozesse nach der Revolution vertrauen, oder (was mir wahrscheinlicher scheint) uns dann mit hunderten autoritären, exkludierenden Alternativkonzepten rumschlagen – have fun.
Gute Theorie zeichnet sich dadurch aus, dass ihre Gedanken und Worte klüger sind als ihre eigenen Aussagen. Und bei den Freund*innen finden sich auf den drei Seiten zu Transformation genügend Andeutung, welche auf den fehlende, konsequente Bestimmung des Aufbauprozesses verweisen: „Die kaum zu überschätzende Herausforderung besteht jedoch darin, über Beschlagnahmung und Verteilung von Gütern hinaus die Produktion auf neuer Grundlage wieder in Gang zu setzen“ (42, Hervorh. SS) oder „Zwischen dem Ist-Zustand und der möglichen Commune tut sich ein riesiger Abgrund auf und der hier skizzierte Sprung über diesen Abgrund hat unbestreitbar gewisse abenteuerliche Züge“[2] (43, Hervorh. SS). In der Tatsache, dass die Freund*innen diese Hinweise ihrer eigenen Theorie hier nicht ernst nehmen, und nachfragen bzw. nachforschen wie dieser abenteuerliche Sprung getan werden kann, liegt die Schwäche ihres Ansatzes.
Hieraus resultieren auch so verkürzende Freuden darüber, dass nach der Besetzung die Beschäftigten wissen wie sie den Betrieb führen können – ja, (kapitalistische) Betriebsführung kriegen wir hin, aber wie entstehen transpersonale, gesamtgesellschaftliche Beziehungen in dem Revolutions- bzw. Transformationsprozess? Den Freund*innen sagen selbst, dass die materielle Unterstützung der Protestierenden in Paris 1968 durch Bäuer*innen nur ein „schwacher Vorschein“ (42) sein kann. Auch ein Verweis auf ‚die Räte werden das richten‘ reicht wohl nicht. Die zentrale Frage bleibt: Wo entstehen die neuen gesamtgesellschafltichen Beziehungen? Wo entstehen die neuen Formen gesellschaftlicher Vermittlung? Dass die interpersonalen Solidaritätsbande der Schützengräben hierfür nicht ausreichen ist wohl unmittelbar einsichtig. Hier bedarf es wohl tatsächlich einem ausreichenden, eher mittel- als kurzfristigen Aufbauprozess. Das Verlernen von Herrschaft und das Erlernen von Freiheit braucht Zeit Aufbauprozess, mit der revolutionären Kurzfristigkeit ist es dann wohl vorbei. … Genau über diesen Aufbauprozess benötigen wir eine Auseinandersetzung. Vielleicht ist es auch für uns Keimformler*innen interessant nochmal verstärkt mit der Bedeutung einer sozialen Bewegung als Partner der Verallgemeinerung der Keimformen auseinandersetzen. Auch für uns, hier bei Keimform, ist dieser Aufbauprozess im Moment die zentrale Frage der Transformation und wir wollen die Freund*innen herzlich einladen dabei mitzudenken – erste Gedanken dazu gibt es in diesem Buchkapitel (Buchkapitel: Keimformtheorie) ;).
Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft: Umrisse der Weltcommune. In: Eiszeit, Freundinnen und Freunden der klassenlosen Gesellschaft, La Banda Vaga, Surplus Club (Hg.): Kosmoprolet 5. Berlin, S. 14–47.
[1] Der Verweis auf die Wertkritik darf getrost überlesen werden, da sich die Freund*innen hier vorwiegenden auf Robert Kurz‘ Text „Antiökonomie und Antipolitik“ beziehen, von dem er sich selbst deutlich distanziert hat. Das dürfte die Autor*innen aber freundlich überlesen haben und so können sie glücklich eine Theorie ins transformatorische Abseits verweisen, welche ihr geliebtes proletarisches Subjekt der Revolution hinterfragt, dessen Präsenz aber für mich nicht zu deutlich in der Transformationstheorie scheint.
[2] Diese Aussage ist besonders amüsant, da wir in unserem Buch (Kritik Reform und Revolution) bei der Kritik des revolutionären Fokus auf Kurzfristigkeit und Plötzlichkeit eben das Bild eines „Sprungs über die Schlucht“ wählen. Wie war das noch mit „Zwei Dumme ein …“
Nun sehe ich in eurem Buch allerdings auch keinen echten Aufbauprozess. Bei euch gibt’s erstmal kleine interpersonale Projekte zum Sammeln von Erfahrungen und zum Wohlfühlen, dann kommt (im von euch am plausibelsten angenommenen Szenario) die große Krise, in der dann schlagartig neue transpersonale Strukturen aufgebaut werden müssen – und zwar quasi aus dem Nichts, weil vorher ja nur Erfahrungen aus dem interpersonalen Raum da sind. Und wenn man den Unterschied zwischen inter- und transpersonal ernst nimmt, ist klar, dass solche Erfahrungen nicht eins zu eins übertragen werden können. Und über Erfahrungen hinaus ist ja erst recht nichts da. Also bei euch gibt es dasselbe Problem wie (mutmaßlich, hab den Originaltext nicht gelesen) bei den Freund_innen: Das Neue muss am „Tag X“ schlagartig und quasi aus dem Nichts heraus entstehen und ab da funktionieren können — nur dass Tag X bei ihnen die Revolution ist und bei euch die große Krise.
Hello, ja Christian, du hast Recht, bei uns ist der Aufbauprozess weitgehend nicht vollständig, aber – und um das ging es mir: Wir nehmen die Frage ernst und stellen sie. Es ist ne große Frage und wir brauchen dafür sicher und bspw. Benni und Annettes gesellschaftstheoretische Reflexionen zu dem Verhältnis von Handlung und Struktur sind da glaub ich voll wichtig. Aber ja, die Antwort ist weit nicht ausreichend.. Aber denk gerne mit 😉 aber Kritik ist auch sehr wichtig . Ich schreib gleich noch was dazu
@Christian: Eigentlich wollten wir keines unserer Szenarien privilegieren. Und zudem unterscheiden Simon und ich uns in der Bewertung uns durchaus. Schematisch gesagt: Ich halte ein Moment von Krise für unabdingbar („objektive Bedingungen“), Simon dito für die Bewusstheit der Handelnden („subjektive Möglichkeiten“). Natürlich ist das eh kein Gegensatz.