Erinnerung an André Gorz
Vor fünf Jahren starb der Philosoph André Gorz. Der folgende Artikel aus der Berliner Debatte Initial Nr. 3/2012 erinnert an Leben und Werk. Er gliedert sich in zwei Teile. Der erste Abschnitt zeichnet die Entwicklung des philosophischen Werks von André Gorz nach, was im zweiten Abschnitt am Beispiel des Wissenskommunismus vertieft wird.
Fahnder nach „Auswegen aus dem Kapitalismus“ – eine Erinnerung an André Gorz
Von André Häger und Stefan Meretz
André Gorz ist Jahrgang 1923 und erlangte Bekanntheit als Autor zahlreicher sozialphilosophischer Schriften. Seine Geburt ist nun bald neunzig Jahre her, sein Tod fünf. Weshalb an André Gorz erinnern? Als Theoretiker der kapitalistischen Krise und eines ökologischen Jenseits des Kapitalismus ist er aktueller denn je. Viele seiner theoretischen Arbeiten scheinen mit größerem Abstand zu ihrer Entstehungszeit eher an Aktualität zu gewinnen als diese einzubüßen. Das gilt in zweierlei Hinsicht, einer politischen wie theoretischen.
Erstens wenden sich Gorz’ Schriften an Menschen, die innerhalb sozialer Bewegungen nach „Auswegen aus dem Kapitalismus“ suchen. Er verstand sich als intervenierender Intellektueller, dessen Aufgabe darin bestand, die reflexive Selbsterkenntnis emanzipatorisch wirkender Subjekte zu unterstützen. Dabei war er sich bewusst, dass die Einsichten, die er zu vermitteln sich bemühte, erst zum politischen Handeln führen, wenn sich die kapitalistischen Widersprüche zuspitzen und der Druck der Verhältnisse eine genügende Anzahl politisch aktiver und entschlossener Menschen hervorbringt. Die Konturen einer solchen Konstellation zeichnen sich gegenwärtig ab, was die Proteste in Athen, Madrid, Lissabon, aber auch in Santiago de Chile und Tel Aviv, die Occupy-Bewegung oder die kampierenden Bankengegner in Frankfurt nahelegen.
Zweitens schlummern in seinem Werk theoretische Überlegungen, die heute, Jahrzehnte nach ihrer Ausarbeitung, mehr und mehr Aussagekraft erlangen. Das gilt u.a. für Gorz’ Beiträge zur politischen Ökologie, wobei er die Ökologie nicht nur auf eine Verteidigung von Natur und Klima gegen industrielle Schadwirkungen reduzierte, sondern auch soziale Beziehungen und menschliche Subjektivität als vom Kapitalismus bedrohte ökologische Bereiche erkannte. Das gilt auch für seine Skepsis und Hoffnung bezüglich des Endes der Arbeitsgesellschaft, wobei er die Gefahr benannte, dass die ökonomische Rationalität die intimsten Poren des menschlichen Daseins okkupiert sowie die Zuversicht artikulierte, dass eine Chance auf relativ autonome Enklaven des selbstverwalteten Lebens besteht. Und das gilt nicht zuletzt für sein Setzen auf die Konstitution eines Wissenskommunismus, dem der Beitrag besondere Aufmerksamkeit schenken möchte.
André Gorz war eine Art „Trüffelschwein“ für die politische Theorie der europäischen Linken, der unentwegt nach „Auswegen aus dem Kapitalismus“ suchte. Diese Suche war stets von zwei Fragen strukturiert: 1. Welches Befreiungspotential enthält die gesellschaftliche Entwicklung für den Menschen? 2. Wie unterdrückt das herrschende Gesellschaftssystem die potentielle Befreiung, die es selbst ankündigt? Gorz’ Bücher dokumentieren eine regelrechte Fahndung nach sich entwickelnden Emanzipationspotentialen, die langfristig tatsächliche Emanzipation vom kapitalistischen System in Aussicht stellen. Nachfolgend wird ein Einblick in diese langjährige innovative Fahndungsarbeit geboten. Zunächst wird Gorz’ intellektuelles Schaffen als das eines marxistischen Existentialisten diskutiert. Anschließend wird seine Fahndungsarbeit exemplarisch anhand seiner Überlegungen zum Wissenskommunismus, seinem letzten großen Fahndungserfolg, präsentiert.
André Gorz – ein marxistischer Existentialist
Das Ehepaar, Dorine und André Gorz,1 schied am 22. September 2007 im Alter von 83 und 84 Jahren freiwillig aus dem Leben. Dorine war seit langem krank, was ein starkes Motiv für den Entschluss zum gemeinsamen Suizid gewesen sein mochte. Das Paar wollte einander nah bleiben, das heißt einander lieben, und bevor der Eine durch den Tod des Anderen allein zurückbleibt, sind sie gemeinsam gegangen. Das Ereignis lässt sich aber noch anders erzählen.
Kein Grab, kein Stein, das war der letzte Wille des Paares. Was vor allem einen Existentialisten wie Gorz prinzipiell an einem Grab gestört haben dürfte, ist die Auffassung, dass es ein Ort des Seins, eine Ablagerung von gelebter Identität und Existenz ist. Man glaubt, Gräber wären lediglich letzte Ruhestätten. Aus der Gorzschen Perspektive eine Fehleinschätzung: Sie bestehen aus Erinnerungen, aus Momenten der Vergangenheit, aus toter Materie, sie beherbergen geronnenes Nichts, das zu Sein geworden ist. Gorz wollte keinen solchen Ort. Die Ablehnung – hier wie überall – dessen, was das menschliche Leben als verflüssigtes Sein, erstarren lässt, was es von seiner Freiheit entfremdet. Nicht sein, also auch keine letzte Gedenkstätte haben – nicht einmal ein dezentes und einfaches Grab, wie jenes von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir auf dem Friedhof von Montparnasse –, sondern sich, konsequenter als Sartre, sein Lehrmeister und Gesinnungsbruder, in die Winde verstreuen lassen.
Ohne Zweifel eine radikale existentialistische Geste, wie es bereits zuvor der Freitod war. Auch hier Kampf, gleichsam der finale, des Nichts gegen das Sein. Einem Sein, das bereits bis ins Mark vorgedrungen war, sich in den altersmüden Knochen, in jeder Pore und jeder Zelle des betagten Körpers bemerkbar machte, Dorine an Schmerzmittel und Medikamente fesselte, das Paar nicht mehr reisen und es in ihrem Haus in Vosnon festwachsen ließ. Der Freitod als letzter Sieg des Nichts im Duell mit dem Sein, das drohte, in dieser Auseinandersetzung die Oberhand zu gewinnen. Man kann, ja man muss gar, die Geschichte des Freitodes so, als philosophischen Tod, erzählen. Derlei Gedanken hat André Gorz reflektiert.
Gorz, ein Sartrianer? Er selbst hätte diese Frage sicherlich nie verneint. Es ist nicht weniger als eine intellektuelle Urgewalt, ein wahrhaftiges Subjekt, eine philosophische Sensation, eine Katharsis, ein Wind der Freiheit und des Neuen, die Stimme der Jugend und ein Idol, was für den nicht mal zwanzigjährigen Gorz – aber nicht nur für ihn – unter dem Namen Jean-Paul Sartre daher kommt. Eine Person, die ihn in den 1940er Jahren in anhimmelndes Staunen versetzt. Man könnte es so nennen: Gorz ist zunächst Groupie.
Im Bann Sartres
Zur ersten Begegnung mit dem angehimmelten Philosophen kommt es im Sommer 1946 in Lausanne. Sartre ist zu einer Reihe von Vorträgen in die Schweiz gereist und spricht im Saal des Kapitol-Kinos. In das Rahmenprogramm der Veranstaltung ist auch André Gorz geladen. Man wollte mit seiner Einladung dem Star-Philosophen aus Paris zeigen, dass es in der Schweiz Leute gab, die seine Schriften gelesen hatten. Gorz bedrängt sein Idol mit unzähligen Fragen und setzt ihn mit detailgenauen Verweisen auf einzelne Seiten unter Druck. „Bei einer Zusammenkunft in Lausanne“, bemerkt Simone de Beauvoir, „hatte Sartre einen Mann namens Gorz kennengelernt, der Sartres Werk in- und auswendig kannte und sich treffend darüber äußerte.“ (Beauvoir 2008: 95).
Gorz hatte also Sartres Werk pedantisch studiert. Was ihn zuallererst an diesen Schriften fasziniert, ist dies: Sie bringen jenes zur Sprache, was seit Kindertagen in ihm zum Schweigen verurteilt ist. „Als ich Das Sein und das Nichts entdeckte“, äußert er gegenüber Marc Robert, „hatte ich das Gefühl, dass das, was Sartre über die ontologische Situation des Menschen sagt, mit meiner Erfahrung übereinstimmte. Von früher Kindheit an hatte ich die Erfahrung alles »Existenziellen« gemacht“ (Gorz 2009: 8). Aber seine Faszination rührt nicht allein von jenen Aspekten her, die sich mit seiner Biographie verschlingen. Gorz hatte ein System bekommen.
Was sind die wesentlichen Koordinaten dieses Systems? Zunächst: Der Zweikampf zwischen dem Sein und dem Nichts, zwischen den Dingen und den Bewusstseinen. Ferner: Der Feldzug gegen die Psychoanalyse oder besser gegen das Unbewusste, gegen Freud und sein Diktum, dass das Ich nicht Herr im eigenen Haus ist. Noch ein Feldzug: jener gegen die Religion. Der „Ekel“ vor Kniefällen, vor der Pflichterfüllung aufgrund einer Moral a priori. Die Abscheu gegen Herdentum und Konventionen. Das Zertreten der Tradition. Die Absage an die „nature humaine“, an ein Wesen des Menschen. Der Widerstand gegen die Appelle der Welt. Die Zerschlagung aller Orientierungsraster und das Beschwören der Heimat- und Haltlosigkeit. Der handelnde Mensch am Abgrund, ohne Sicherung, ohne Rettungsseil. Das Bekenntnis zur Angst und Kontingenz. Natürlich: die Freiheit. Die Existenz, die der Essenz vorausgeht. Das anarchische Subjekt. Die Negation, das Nichten. Die Vorliebe für die Distanziertheit, das Losreißen und die Flucht. Der Entwurf als Antwort auf die Geworfenheit. Der Augenblick der Wahl und der freien Entscheidung. Das Setzen auf die Zukunft. Gleichwohl: der Hang vor der eigenen Freiheit zu fliehen. Die Unaufrichtigkeit. Der Blick des Anderen.
Es ist die hier angedeutete Philosophie, die den jungen André Gorz vollends in den Bann zieht. Er ist derart in dem Kosmos von Das Sein und das Nichts eingeschlossen, dass er Sartre zu seinem Gott erklärt. Sartre bemerkte einmal, dass es zwei Arten zu schreiben gebe: Entweder man schreibt für die Menschen oder für Gott. Und André Gorz schreibt zunächst für Sartre, seinen Gott. Sein Erstlingswerk Fondements pour une morale ist eine Art Fortsetzung von Das Sein und das Nichts. Gorz hat sich hier den Fragen angenommen, die in Sartres Schlüsselwerk zwar aufgeworfen, aber offen geblieben sind: Was ist die reine Reflexion? Was ist die „Eigentlichkeit“? Wie kommt es zur existenziellen Bekehrung? Was hat man darunter zu verstehen, die Freiheit als höchsten Wert und Quelle aller Werte zu setzen?
Für Sartre die Moral schreiben
Die Antworten auf diese Fragen ließen sich für Gorz nicht ohne weiteres aus der sartreschen Ontologie ableiten. Er machte sich daran, diese zu verbiegen und umzuarbeiten. Gorz’ ambitioniertes Anliegen in den Fondements pour une morale ist es, die von Sartre in Aussicht gestellte „Moral“ zu schreiben, die der Meister trotz mehrfacher Bemühungen nie zustande gebracht hat. Wenn man so will, ist es Gorz, der für Sartre einspringt.
In den Fondements pour une morale stellt er heraus, dass der Mensch stets auf verschiedenen Ebenen existiert und dass diese Ebenen unterschiedlichen Verhältnissen zum Sein gleichkommen. Mittels der Orientierung an den drei zeitlichen Dimensionen, benennt er die Ebenen mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Ebene der Vergangenheit – oder auch mit Sartres Vokabular „Faktizität“ genannt – entspricht der unmittelbaren Lebensumwelt, die seit eh und je kulturell und sozial vorgeprägt ist, zugleich jedoch nicht selten verkannt wird oder verhüllt bleibt. Zu dieser Ebene gehört auch die körperliche Dimension des Menschen. Die zweite Ebene, die Gegenwart, fällt mit dem aktuellen Wahrnehmungsbewusstsein zusammen. Und die dritte Ebene, verstanden als Zukunft, findet ihr Gleichnis in der zielsetzenden Praxis. Diese drei Ebenen werden von Gorz in eine Wertskala übersetzt, wodurch sich folgendes Bild ergibt: Der Vergangenheit wird der niedrigste, der „vitale“, Werttyp, der Gegenwart der „ästhetische“ Werttyp zugeordnet. Der Zukunft bleibt, in bester Sartrescher Manier, der höchste, der „ethisch-praktische“ Werttyp vorbehalten. Der Augenblick der Wahl und der freien Entscheidung, den Sartre nie wirklich begründen konnte, erhält durch Gorz „Fleisch und Blut“. Er arbeitet heraus, dass die Freiheit, die radikale Wahl des Individuums, einem Prozess entspricht, der von der unmittelbaren Welteinstellung über die ästhetische Kehre erst zur Moral, der existentiellen Wahl führt.
Auch ergänzt er die Philosophie Sartres, die vom „Blick“ geprägt ist, um den „Leib“, ein Aspekt, der den Einfluss von Merleau-Ponty betont. Den Prestigekampf, den Kampf um Anerkennung, der in Sartres Blickanalyse Geltung gewinnt, erweitert Gorz dahingehend, dass er das Erblickt-Werden durch den Anderen bereits in der Sprache stattfinden lässt, was nicht nur das Problem des „Gesprochen-Werdens“ thematisiert, sondern für Gorz mit dem Körper beginnt. Dabei hebt er hervor, dass der eigene Körper „für Andere existiert“. Er ist dem eigenen Bewußtsein entzogen in dem Moment, wo dieser Körper beginnt, zu den Anderen zu „sprechen“ (d. h. auch, von anderen gelesen wird), und das in einer Sprache, die dem eigenen Bewusstsein unbekannt, entzogen ist.
Nach fast zehn Jahren Arbeit ist die voluminöse Schrift fertig gestellt. Gorz ahnt bereits, als er Sartre die Fondements pour une morale zu lesen gab, dass der Text keinen Verleger finden würde. Noch auf die Empfehlung Sartres hoffend, um die Schrift veröffentlichen zu können, soll dieser ihm entgegnet haben: „Sie überschätzen meine Macht“. Sartre zeigt für die abstrakten Überlegungen des epischen Werks kein Interesse. Als sich der Text nicht veröffentlichen lässt,2 schreibt er die autobiographische Schrift Der Verräter nieder, die eine Anwendung der „Grundlagen einer Moral“ auf sich selbst, auf Gorz’ eigene Existenz ist.
Genau genommen hat Gorz mit der Fertigstellung der Grundlagen für eine Moral jedoch erst ein Drittel des geplanten Projektes abgeschlossen. Ursprünglich sollte das Unternehmen drei Bände umfassen. Bezüglich des zweiten Bandes existiert lediglich ein Rohentwurf, den Gorz 1948 geschrieben hat und bei dem es um das Verhältnis des Individuums zu anderen Individuen geht. Der dritte Band, in dem es um die Beziehung des Subjektes zum Kollektiv, zur Gesellschaft, gehen sollte, wurde von ihm nie systematisch angegangen. Laut Gorz sind aber Überlegungen zu diesem Band in die Bücher Die Geschichte der Moral und Abschied vom Proletariat eingegangen.
Bruch mit Sartre?
Es existiert die These vom Bruch mit Sartre, von Gorz’ Austritt aus dem „Schatten Sartres“ (Münster 2011: 22). Münster erwähnt eine „immer größer werdende Autonomie gegenüber Sartre“, die sich „in dem sehr früh erwachsenden Interesse Gorz’ für die Ökologie“ zeigt. Er spricht von einem „philosophisch-politischen Kurswechsel“, der sich in den 70er Jahren vollzieht und der „in einer eindeutigen und entschiedenen Hinwendung zur politischen Ökologie“ besteht (ebd.: 23).
Innerhalb der Sartre-Familie, im Umkreis der Les Temps Modernes, ist die Ökologie kein Thema. Sartre hat kaum bis gar kein Interesse daran. Die Ökologie, das neue Verhältnis von Mensch und Natur, das waren Problematiken, die Sartre nicht berührt haben. Ein thematisches Gebiet also, so kann man annehmen, auf dem der „Meister“ noch keine „Fußabdrücke“ hinterlassen hat, wo es für Gorz nicht galt, Sartres Spuren zu folgen. Ein Feld, das der Prinzipal noch nicht ausgeleuchtet, abgeschritten und kategorisiert hat. Die Ökologie als Gelegenheit, ganz eigene Gehversuche zu unternehmen, sich „frei zu schwimmen“, sich vom Über-Ich zu emanzipieren. Eine Chance, die Rolle des Übersetzers und Interpreten der Sartreschen Philosophie abzulegen, Möglichkeit, aus Sartres Schatten herauszutreten, um den Weg zum eigenen Werk zu finden.
Unterstützen lässt sich diese These durch das pikante Detail, dass die Ökologie-Bücher, Ecologie et Politique sowie Ecologie et Liberté, nicht unter André Gorz, sondern unter Michel Bosquet, seinem zweiten Pseudonym, erschienen sind. Gorz folgte eigentlich mit der Verwendung der Pseudonyme einer strikt selbst auferlegten Klassifikation: Bosquet ist der Kommentator des Alltags, ein Journalist. Gorz der Philosoph, der Intellektuelle, der sich im Kreis der Temps Modernes bewegt. Dass Gorz im Zusammenhang mit den Ökologie-Büchern mit der selbst auferlegten Auseinanderhaltung bricht, legt nahe, dass es für ihn reizvoll erschien, seine neuen, antinuklearen und ökologischen Positionen unter jenem Pseudonym zu veröffentlichen, das die enge Verbindung zu Sartre und den Les Temps Modernes nicht direkt preisgab.
Man kann die Dinge aber auch anders sehen. So lässt sich anführen, dass die Entdeckung des ökologischen Themas auf dem Terrain von Bosquet erfolgt und nicht auf jenem von Gorz. Es ist Jean Daniel, mit dem Gorz 1963 den Le Nouvel Observateur ins Leben ruft, der ihn auf Ivan Illich bringt und unter dessen Einfluss er sich dem Thema nähert. Zudem sind es die mit Bosquet gezeichneten Leitartikel im Le Nouvel Observateur, in denen sein Interesse für die Ökologie zum Ausdruck kommt und die zugleich das Gerüst der beiden ökologischen Schriften bilden. Gedanken also, die bereits unter Michel Bosquet veröffentlicht wurden, werden erneut unter diesem Pseudonym in Buchform gedruckt.
Zudem reduziert Gorz Ökologie nicht auf eine Verteidigung von Natur und Klima, sondern verbindet das Thema mit der Suche nach der Möglichkeit menschlicher Authenzität, wodurch es für die Freiheitsphilosophie Sartres offen bleibt. Und noch dies: Bei genauer Lektüre der Ökologie-Bücher gerät in den Blick, dass Sartres Stimme hier sehr wohl zu vernehmen ist und dass Gorz sich darauf versteht, sie mit der Stimme Illichs in Harmonie zu bringen.
In Sartres Kritik der dialektischen Vernunft spielt „rareté“ – in der deutschen Fassung als „Mangel“ übersetzt – eine bedeutende Rolle, als Negativität, die negiert werden muss und als Moment der Geschichte wirkt. „Diese ursprüngliche Negation“, so Gorz im Der schwierige Sozialismus, „die ihrerseits zu negieren ist, weil sie eine Todesgefahr darstellt, ist nach Sartre der Mangel. Damit ist die Tatsache gemeint, daß die natürliche Umwelt dem organischen Leben feindlich ist, daß »das Leben auf Erden unwahrscheinlich ist«, daß »nicht genug für alle da ist«. […] Damit das Leben möglich ist, muß er [der Mensch] die natürliche Umwelt verändern […]. Die grundlegende Bedingung für eine dauerhafte Aufhebung der Entfremdung (oder, wie Marx sagte, für den Kommunismus) ist also der Sieg über den Mangel.“ (Gorz 1969: 233-234).
Das ist die Stimme Sartres vermittelt durch Gorz. Wer an einer Vertiefung der philosophischen Diskussion über den Mangel interessiert ist, mehr erfahren will über seine Unaufheb- oder Aufhebbarkeit und über Sartres plötzliche Hinwendung zur hegelianischen Geschichtsphilosophie, sollte das Buch Alexandre Kojèves (1975) und im Anschluss den ersten Band der Kritik der dialektischen Vernunft zur Hand nehmen. In den Schriften von André Gorz wird er dazu wenig finden. Seine Texte geben der Rede vom Mangel eine andere, keine streng philosophische Nuancierung. Er verkneift sich die Erzählung vom „Ende der Geschichte“, wo die Subjekte eines Tages den Sieg über den Mangel und die Entfremdung in einem rauschenden Fest begehen und, im Überfluss lebend, miteinander kooperieren, statt sich gegenseitig mit ihren Blicken zu objektivieren. Das ist Sartres Part. Gorz hingegen nimmt den Theoriebaustein des Mangels und schleppt ihn auf sein Kampfgebiet, das der expliziten Kapitalismuskritik. Ausgehend von Sartres Überlegungen zum ursprünglichen Mangel, analysiert er, wie die kapitalistische Produktion den grundlegenden Mangel auf anderen Ebenen reproduziert.
„Als äußere Negation“, heißt es im Der schwierige Sozialismus, „des Menschen durch die Natur wird der Mangel unvermeidlich als praktische Negation des Menschen durch den Menschen erfahren und verinnert.“ (Gorz 1969: 234). Sei es drum, daran kann man höchstwahrscheinlich, nach Gorz, nicht viel ändern. Nur, und das ist seine Pointe, gießt der Kapitalismus hinsichtlich „der Negation des Menschen durch den Menschen“ geradezu Öl ins Feuer. Die kapitalistische Logik produziert keinen Überschuss, sondern Mangel, an Zeit, Ressourcen, Energie. Sie bedient sich der „Möglichkeit, durch künstliche Verknappung der reichlich vorhandenen Ressourcen reiche Menschen zu schaffen und damit auch Arme“, wie es in Ökologie und Freiheit heißt. Sie verhängt Zugangsrechte und produziert Waren, die Quellen von Mangel sind. „Tatsächlich“, schreibt er, „ist die Differenzierung durch den Konsum oft nur das Mittel, die gesellschaftliche Hierarchie zu bestätigen. Im Grunde ist ihr einziges Ziel, […] Menschen als Arme zu konstituieren.“ Der distinktive Konsum – jener „Verbrauch von Gütern und Dienstleistungen von zweifelhaften Gebrauchswert, die jedoch durch ihre Knappheit […] ihren Konsumenten privilegieren“ – bringt „Macht zum Ausdruck“, die sich darin offenbart, „zu Dingen Zugang zu haben, die nicht allen zugänglich sind.“ „Wenn ein Gebrauchsgegenstand weit verbreitet ist“, und das sind noch immer Gorz’ Worte aus Ökologie und Freiheit, „genügt es, einen neuen Gegenstand zu lancieren, der selten und schon auf Grund seiner einzigartigen Neuheit teuer ist, damit […] der Reiche eine Gelegenheit findet, sich als Reicher zu beweisen und die Armut des Armen wiederherzustellen. Das ist das, was Ivan Illich die »Modernisierung der Armut« nennt.“ (Gorz 1980: 31-33). Oder eben das, was Gorz im Zuge seiner Wachstumskritik sich vom Theorem des Mangels zu Eigen macht.
Man sollte bei der hier verhandelten These vom Bruch mit Sartre Gorz beim Wort nehmen: „Brüche mit Sartre gab es für mich nie“ (DGB 1983: 168). Dennoch: Es wäre fahrlässig, so zu tun, als wäre der Einfluss Sartres auf Gorz eine immer gleich bleibende Distanz, eine feste Ortsbestimmung, die sich als ein statisches Meister-Schüler-Verhältnis deklarieren ließe. Als gäbe es also in der über dreißigjährigen Bekanntschaft und jahrzehntelangen Zusammenarbeit und Freundschaft der beiden keine Nuancen, Diskussionen, Streitigkeiten, Distanzierungen und Wiederannäherungen. Doch auch wenn es zeitweilige Brüche und Dispute gab, auch wenn man aufzeigen kann, dass Gorz phasenweise Sartre die Gefolgschaft verweigert und sich thematisch anders orientiert als der große existentialistische Philosoph des 20. Jahrhunderts, so lässt sich gleichwohl in dieser Beziehung, in dieser Beeinflussung, eine gewisse Konstanz aufdecken. Gorz hat die philosophischen Arbeiten seines Lehrers zum Teil weiterentwickelt und immer verstanden, diese als Bausteine für seine eigene Theoriebildung zu benutzen.
Gorz ein Marxist?
Das Gorz als Marxist gilt, bedarf wohl keiner besonderen Betonung. Es wurde oft genug herausgestellt – für unseren Geschmack ein wenig zu oft. Micha Brumlik sieht ihn gar in einem „orthodox marxistisch wirkenden“ Deutungsmuster gefangen (Brumlik 2009: 39). Axel Honneth spricht davon, dass sich Gorz von einem solchen Deutungsmuster erst mühsam befreien musste, dass er „schrittweise den geschichtsphilosophischen Rahmen der Marxschen Theorie verlassen, die Arbeiterexklusivitätsthese preisgeben und am Ende ein erweitertes Konzept der menschlichen Identitätsvoraussetzungen aufsuchen“ musste (Honneth 1989: 101).
Hatte Gorz überhaupt jemals ein solches Deutungsmuster besessen? War er je mit „beiden Füßen“ in den „geschichtsphilosophischen Rahmen der Marxschen Theorie“ eingetreten? Es wird nicht versucht, diese Fragen zu ergründen, sie sind rhetorischer Natur. Was sie deutlich machen sollen, ist, dass Gorz’ Schriften – von den Strategien der Arbeiterbewegung im Neokapitalismus über den Abschied vom Proletariat, die Wege ins Paradies und der Kritik der ökonomischen Vernunft bis hin zu Wissen, Wert und Kapital – nahezu ausschließlich vor dem Hintergrund der Marxschen Kapitalismustheorie verstanden, befragt und kritisiert wurden, so dass das existentialistische Fundament seiner Überlegungen weitgehend im Dunkeln geblieben ist. Zu oft wurde übersehen, was Gorz selbst oft genug betont hat: „To be honest, I did not know any other philosophy than Sartre.” (Gorz, in: Lodziak/Tatman 1997: 117). Und in der Tat ist auf dieses „übersehen“, auf dieses „Im-Dunkeln-Geblieben-Sein“ eine ganze Reihe von Missverständnissen und Fehlinterpretationen zurückzuführen.
Beispiele? Honneth und Brumlik wurden schon genannt. Ferner Bernd Rabehl auf der Arbeitstagung in Oberursel im Sommer 1983. Gorz ist ein „anfangs marxistisch orientierter Theoretiker“, der sich dann im Abschied vom Proletariat „theoretisch gegen Marx“ wendet. Nach den Strategien der Arbeiterbewegung im Neokapitalismus „schreibt der Gorz eine andere Theorie, wo er seinen eigenen Ansatz über Bord wirft“ (DGB 1983: 27, 33, 85). Die Mitdiskutanten der Tagung nicken zustimmend und klatschen Beifall. Gorz mimt den Unschuldigen: „Ich bin mir keines Bruches, keiner ‚epistemologischen Wende’ in meinen Denken – zwischen dem ‚Strategie’-Buch und dem ‚Abschied’ – bewußt, obwohl ca. 15 Jahre zwischen den beiden liegen. Beide waren für mich philosophische Essays über dieselbe grundlegende Frage: Die Frage der Entfremdung und der Möglichkeit ihrer Überwindung.“ (ebd.: 118). Unter den Teilnehmern der Tagung herrscht allgemeine Verwunderung. Was meint er? Nach kurzer Irritierung wird die Diskussion an anderer Stelle fortgesetzt. Die Verantwortlichen für die Erstellung des Diskussionsprotokolls, das im Anschluss an die Tagung veröffentlicht werden soll, wollen es genauer wissen. Sie reisen nach Frankreich, um Gorz nach der philosophischen Tradition seines Denkens zu befragen. In einem ausführlichen Interview erzählt er ihnen von Sartre, vom Existentialismus, von der Freiheit und der Entfremdung. Am Ende des Diskussionsbandes heißt es: „Ausgangspunkt der Überlegungen für dieses Interview war die Bemerkung von André Gorz, er verstehe sowohl die ‚Strategien der Arbeiterbewegung im Neokapitalismus’ als auch den ‚Abschied vom Proletariat’ als philosophische Essays. In der vier Tage dauernden Diskussion war André Gorz jedoch eher als ‚Industriesoziologe’ und ‚Theoretiker der Neuen Linken’ verstanden worden. Der Zusammenhang seines Denkens zum Existenzialismus von J.P. Sartre war vernachlässigt worden.“ (ebd.: 199).
Schließlich noch Oskar Negt. In einem sehr schönen Text, den er anlässlich des 65. Geburtstages von Gorz verfasst, gesteht er, dass der Jubilar zu seinen „geheimen Lehrern“ und zu den wenigen Pariser Intellektuellen gehört, dessen lebendiger „dialektischen Denkweise“ er „folgen konnte.“ Aber auch Negt stößt sich an einer Menge Ungereimtheiten, wie er an Gorz gerichtet schreibt: Da gibt es Brüche „in Deinem Denken, von denen Du Dich vielleicht nie ganz erholt hast“. Kritisch bemerkt er, dass Gorz „Mitte der siebziger Jahre (spätestens) zur Marxschen Gesellschaftstheorie ein Verhältnis bekomm[t], in dem dialektisch-materialistisches Denken zunehmend durch kritischen Individualismus überlagert und davon noch einmal verkürzt wird.“ (Negt 1989: 55-64). Dass dieser „kritische Individualismus“ in Form Sartres Existentialphilosophie am Anfang aller Gorzschen Überlegungen steht und in seinem Gedankengebäude das Fundament bildet, scheint Negt nicht zu ahnen.
Derlei Beispiele ließen sich fortführen. Man kann endlos vor dem Hintergrund der Marxschen Theorie Brüche im Denken von André Gorz identifizieren und über ihre Stichhaltigkeit diskutieren. Man könnte so die Liste der Missverständnisse und Fehlinterpretationen verlängern, die einer einseitig marxistischen Lesart der Gorzschen Texte geschuldet sind. Eine Lesart, die Gorz stets als Theoretiker des Kapitalismus Marxscher Tradition oder als Abweichler dieser Tradition identifiziert und kritisiert. Doch das ist er weit weniger, als man immer behauptet hat. Gorz ist in erster Linie kein marxistischer Theoretiker des Kapitalismus, sondern ein existentialistischer Theoretiker seiner Überwindung und genau hierfür bedient er sich Marx’.
Marx an der Seite des Existentialismus
Warum wurde Gorz stets einseitig als Marxist verstanden und wird noch immer als solcher erkannt? Nun gut, Marx fehlt in keinem Buch von Gorz, er ist stets feste Referenzgröße und keine Gorzsche These, die nicht einen marxistischen Tonfall hätte. Hinzu kommt sein Vokabular. Alles in allem eine beständige Rede in Marxschen Termini. Warum tut er das, wenn er doch – wie behauptet – mehr Existentialist als Marxist ist? Auf diese Frage lassen sich – soweit wir sehen – drei Antworten geben.
Zu Beginn der ersten Antwort stehen erneut einige Fragen. Für wen schreibt Gorz? An wen richten sich seine Texte? Wer ist sein Publikum? Die Linke. Nennen wir sie genauer, eine kapitalismuskritische Linke mit emanzipatorischer Perspektive. Er benötigt Marx und seine Begriffe, um sich besser im Diskurs dieser Linken verständlich zu machen. Er gibt seinem Publikum zu verstehen, auch er sei ein Marx-Erbe, ein direkter Ahne des großen Marx. Er weist sich als ernsthafter Marxist aus. Er zollt einem Diskurs Tribut, in dem der Rekurs auf Marx und den Marxismus als Zeichen linker, emanzipatorischer Theorie gilt. Vielleicht gar mehr als das. In seiner Tiefenstruktur ist dieser Diskurs streng genommen ein marxistischer. Und Gorz muss den diskursiven Regeln folgen, da es außerhalb dieses Diskurses, wie er selbst bemerkt, „keine intellektuellen Kräfte [gibt], die eine nicht-kapitalistische Alternative entwerfen und an der Überwindung des Kapitalismus arbeiten.“ (DGB 1983: 172).
Zur zweiten Antwort. Gorz benötigt Marx und seine Begriffsinstrumente tatsächlich. Um die kapitalistische Logik zu verstehen und analysieren zu können, ist er von Marxens Handwerkzeug ganz abhängig. „Es gibt keine andere Theorie“, äußert er, „zum Verständnis der kapitalistischen Ökonomie als die marxistische. In verschiedenen Punkten ist sie überholt oder anfechtbar, aber man kann ohne sie nicht auskommen, wenn man die Entwicklung, Logik, Widersprüche und Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft verstehen will.“ (ebd.: 171).
Dritte Antwort: Ende der 1950er Jahre, mit der Beschäftigung und Ausarbeitung der Gedanken, die die Kritik der dialektischen Vernunft bilden werden, gibt es eine klare Bestrebung Sartres, sein Denken dem Marxismus anzunähern. 1960, in Marxismus und Existentialismus, formuliert er, dass er den Existentialismus lediglich „für eine Ideologie halte“. Denn, so fährt er fort, „er ist ein parasitäres System, das am Saum des Wissens lebt, des Wissens, dem er sich ursprünglich entgegenstellt, dem er sich aber heute einzugliedern sucht.“ (Sartre 1964: 10). Und dieses „Wissen“ ist der Marxismus, zumindest eine Variante von ihm. Gorz vollzieht diese Hinwendung mit. Seine zweite Veröffentlichung, La morale de l’histoire, die 1959 erschienen ist und an der er parallel zu Sartre arbeitet, als dieser die Kritik der dialektischen Vernunft entwickelt, zeigt das deutlich. Thematisierten die Fondements pour une morale und auch der Traître noch vordergründig das Verhältnis des Subjektes zu sich selbst und zur Welt, wodurch sie als existentialistische Texte ins Auge fallen, verleiht Gorz der Geschichte der Moral eine eindeutig marxistische Stoßrichtung. Entschieden stellt er hier die Frage nach den Subjekten der gesellschaftlichen Veränderung, um die sich die Marxsche Theorie kaum oder keine konkreten Gedanken gemacht hat. Besonders beschäftigt ihn die Fragestellung, wie das Marxsche Proletariat dazu berufen sein kann, sich selbst und zugleich alle Bereiche der Gesellschaft zu befreien. Mit seiner Antwort betont Gorz gegen die dogmatischen Marxisten, dass es ein revolutionäres Klassenbewusstsein nicht geben kann, solange nicht jedes einzelne Mitglied dieser Klasse, als individuelles Subjekt, ein solches Bewusstsein ausbildet. Mit La morale de l’histoire versteht es Gorz, alle seine Schriften „am Saum“ des Marxismus anzusiedeln, und er räubert buchstäblich mit ihnen in diesem Gedankengebäude, in diesem „Wissen“. Jedoch stets in der Absicht, und das letztendlich konsequenter als Sartre mit der Kritik der dialektischen Vernunft, dem Marxismus den existentialistischen Virus einzuimpfen.
Auf welche Schriften greift Gorz zurück, wenn er Marx zur Unterstützung seiner Argumente heranzieht? Sein Marxsches Rüstzeug ist im Wesentlichen das eines typischen „westlichen Marxisten“. Immer am „Mann“ hat er die Manuskripte, Die deutsche Ideologie, die Grundrisse und hier und da einen Satz aus dem Manifest. Ferner einige Passagen, aber nie mehr als nötig, aus dem Kapital. Die deutsche Ideologie hat es ihm besonders angetan. Für Gorz enthält sie einen phantastischen philosophischen Reichtum an Einsichten und Ideen. Auf die Grundrisse, eine weitere Lieblingsschrift von ihm, muss er erst gebracht werden. Die Bekanntschaft mit ihrer Inspirationskraft verdankt er im Jahr 1959 Jean Marie Vincent. Im Manifest interessiert ihn genau genommen nur ein Satz. Gleichwohl, für Gorz, ein genialer. Nein, es ist nicht einmal ein Satz, es ist ein Teil eines Satzes, ein paar Wörter, die das Ende eines Satzes bilden und am Ausgang des Abschnittes über Proletarier und Kommunisten stehen. Gemeint ist jene Stelle, wo es heißt, dass „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ (Marx/Engels 1964: 68). Klingt das nicht ur-existentialistisch? Hätte es der Marxismus, vor allem seine dogmatische Variante, nicht bestens verstanden, einen solchen Gedanken aus seiner Theorie und insbesondere seiner Praxis zu verbannen, hätte Gorz vielleicht nie Existentialist werden müssen.
Schließlich noch eine kurze Bemerkung zum Kapital. Tatsache ist: Die drei Bände des Kapitals zählen nicht zu seinen Favoriten. Er benötigt sie, daran besteht kein Zweifel. Er hat sie also gelesen, aber ohne Freude. Zu schematisch-ökonomisch, zu sehr den Ökonomismus zelebrierend, erscheint ihm das Ganze. Stellen wir uns Gorz bei seiner Lektüre vor, wie er sich blätternd fragt, ob Marx nicht aufgebrochen war, aufzuzeigen, dass die ökonomischen Kategorien zum „Absterben“ bestimmt sind. War es nicht Marx’ eigentliches Projekt, der Ökonomie ihren Nimbus als etwas Unüberschreitbares, als ewiger Horizont zu nehmen? Wo ist das alles hin, scheint er sich zu wundern. Sicher, im dritten Band taucht davon einiges wieder auf. Aber ansonsten? Gorz vermisst in diesem Werk einen gewissen Esprit.
Was ihn bei Marx tatsächlich interessiert, was ihn regelrecht entzückt, wo er ihn als „Bruder im Geiste“ erkennt, ist all das, was bei diesem Denker über die Ökonomie hinausweist. Die philosophischen Gedanken des Kritikers der politischen Ökonomie, seine philosophische Anthropologie, seine Entfremdungstheorie, jene Gedankenexperimente also, die in Gorz’ Lieblingsschriften verstreut zu finden sind, der deutschen Ideologie, den Grundrissen. Hier entdeckt er jene nie versiegen wollende Quelle an Inspiration, jenen „philosophischen Reichtum“ an dem er sich abarbeitet, den er versucht weiter zu denken, und jenen Marx, wie Gorz sagt, den „die meisten Marxisten kaum“ kennen und „deshalb Marx hauptsächlich als Theoretiker des Kapitalismus“ verstehen, „ohne sich zu fragen, wohin letzterer überwunden werden könnte und sollte.“ (DGB 1983: 172).
Immer wenn Marx davon spricht, dass der Mensch Urheber seiner selbst ist, wenn er schreibt, „wie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie“, wenn er von der „reichen Individualität“ spricht und „die freie Entwicklung der Individualitäten“ preist, wenn er ausruft, „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“, wenn er sich die Arbeit, „als volle Entwicklung der Tätigkeit selbst“ ausmalt, wenn er von der Möglichkeit referiert, „heute dies, morgen jenes zu tun“ und damit die Beseitigung des herkömmlichen Verständnisses von Arbeit ankündigt, wenn er für die „Ausbildung der Individuen […] freigewordene Zeit“ berichtet, wenn er sich fragt, „was ist der Reichtum anders, als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen?“, wenn er daran festhält, dass „die auf dem Tauschwert ruhnde Produktion“ zusammenbrechen muss, wodurch die relativen Werte, allen voran das Geld, den Schein absoluter Werte verlieren, wenn er sich über das „Sichfestsetzen der sozialen Tätigkeit“ echauffiert, „diese Konsolidation unsres eignen Produkts zu einer sachlichen Gewalt über uns, die unsrer Kontrolle entwächst, unsre Erwartungen durchkreuzt, unsre Berechnungen zunichte macht“, dann ist Gorz ganz Ohr, dann lauscht er einem Marx, der ihn fasziniert und inspiriert (Marx/Engels MEW 3: 21; MEW 42: 244; ebd.: 601; MEW 19: 21; MEW 42: 244; Marx/Engels MEW 3: 33; MEW 42: 601; ebd.: 396; ebd.: 601; Marx/ Engels MEW 3: 33). Einen Marx, der – wie es Sartre über Hegel sagt – sich ohne Zweifel auf die Seite des Existentialismus ziehen lässt.
André Gorz und der Wissenskommunismus
Wie viele Alternativ- und Postmarxisten war André Gorz besonders an den Grundrissen von Karl Marx (MEW 42, 1983) interessiert. Sie bergen ein utopisches Potenzial in sich, dass er vor allem mit der aufkommenden Wissensökonomie aktualisiert sah. Gleich im ersten Satz des Vorworts zur deutschen Ausgabe von Wissen, Wert und Kapital weist Gorz gleichsam programmatisch auf diesen Aspekt hin: „Die allgemeine Erkenntnis, dass Wissen zur wichtigsten Produktivkraft geworden ist, hat einen Wandel in Gang gesetzt, der die Gültigkeit der ökonomischen Schlüsselkategorien untergräbt und auf die Notwendigkeit hinweist, eine andere Ökonomie zu gründen“ (Gorz 2004: 9). Diese Suche möchte er unterstützen und greift bei der Analyse der Wissensökonomie immer wieder auf die Grundrisse zurück. Folgende Argumentationsfiguren interessieren ihn dabei besonders.
Messbarkeit der Arbeitszeit
Marx unterscheidet in den Grundrissen die unmittelbar verausgabte Arbeitszeit von wissenschaftlicher Tätigkeit, die die „powerful effectiveness“, also die Wirksamkeit der in Bewegung gesetzten „Macht der Agentien“ (MEW 42 1983: 600) bestimmt. Marx sieht hier einen Selbstwiderspruch heranreifen: „Das Kapital ist selbst der prozessierende Widerspruch [dadurch], daß es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren strebt, während es andrerseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt“ (ebd.: 601). Für Gorz ist nun die „Arbeitszeit als einziges Maß“ des Werts der zentrale Aspekt des Widerspruchs. Er argumentiert, dass „Wissen … nicht in einfache, abstrakte Einheiten übersetzt und nach solchen bemessen werden“ könne, was folglich zur „Krise des Wertbegriffs“ führe. Wissen umfasse verschiedenartige Fähigkeiten „ohne gemeinsamen Maßstab“ (Gorz 2004: 31). Und weiter: „Die Unmessbarkeit der Arbeit führt unvermeidlich zur Unmessbarkeit des Wertes. (…) Und die Krise der Bemessung des Wertes stellt das Wesen des Wertes in Frage und folglich das System von Äquivalenzen, das den Warentausch regelt“ (ebd.: 32).
Für André Gorz spielte die Frage der Unmessbarkeit immer wieder eine wichtige Rolle. Dem Argument, dass sich das System der Äquivalenzen und somit der Wert stets als gesellschaftliches Verhältnis aller Waren bilde und es folglich gar nicht darauf ankomme, die Arbeitszeit zur Herstellung einer einzelnen Ware tatsächlich zu messen, mochte Gorz nicht folgen, obwohl ihm das Faktum sehr wohl bekannt ist und auch einleuchtet.3 Gorz verweist auf Marx, demzufolge die Arbeitszeit das „einzige Maß und Quelle des Reichtums“ bleibt. Müsse man diese nicht auch irgendwo messen können?
Ganz offensichtlich fallen für viele Waren die aufgewendete Arbeitszeit und der erzielte Gewinn beim Verkauf auseinander – Gorz denkt hier etwa an Softwareproduzenten wie Microsoft oder an Firmen wie Nike, die selbst gar nichts mehr produzieren, sondern nur noch eine Marke lizensieren. Gorz schließt, dass es sich bei den Erträgen um eine Monopolrente handeln müsse. Eine Rente jedoch ist „arbeitsloses“ Einkommen, sie wird von der Wertschöpfung anderen Orts alimentiert. Auch hier wieder bietet der Wert als gesellschaftliches Verhältnis4 den Schlüssel zum Verständnis der Missproportionen: Das gesamtgesellschaftliche Wertvolumen als Verhältnis aller Aufwände zur Herstellung der Waren verteilt sich eben nicht nach diesem Aufwandsverhältnis – welches ohnehin nicht (mehr) messbar ist, wie Gorz feststellt – sondern nach ökonomischen Machtverhältnissen unten den Produzenten. Drei Faktoren, mit denen sich Gorz immer wieder befasste, sind hier zu nennen:
- Produktivitätsvorsprung: Der Wert bemisst sich am gesellschaftlich gültigen Niveau der Produktivität. Gelingt es einem Produzenten durch technische oder andere Innovationen die maßgebliche Produktivität zu übertreffen, so kann sich dieser einen relativ größeren Teil des gesellschaftlich produzierten Werts aneignen (realisiert als sog. Extraprofit).
- Renteneinkommen: Über den Weg des „geistigen Eigentums“ (Copyright, Patent, Markennamen, Geschmacksmuster etc.) werden Wissensmonopole geschaffen. Es bildet sich ein „immaterielles Kapital“ (ebd.: 42ff ) heraus, das sich einen überproportionalen Anteil des gesellschaftlichen Wertvolumens als Monopolrente aneignen kann. Investitionen solcher „symbolischen Monopole“ (ebd.: 49ff ) fließen vorwiegend in die Schaffung und Sicherung von Wissensmonopolen sowie in Werbung und Marketing, die aus der Perspektive des Gesamtkapitals jedoch unproduktive Ausgaben darstellen. Auch hier findet folglich eine Umverteilung des gesellschaftlich produzierten Wertvolumens statt.
- Zugriff auf zukünftige Wertproduktion: Der Boom der Finanzsphäre „spiegelt in erster Linie die erhofften künftigen Gewinne. Die Immaterialität des intellektuellen Kapitals eignet sich am besten dazu, als Versprechen unbegrenzter künftiger Märkte für nicht schätzbare Waren zu funktionieren“ (ebd.: 47). Die Generierung von „fiktivem Kapital“ (ebd.) als „substanzlose Geldvermehrung“ (ebd.: 48) kann jedoch nicht unendlich fortgeschrieben werden und der Krise entkommen, denn: „Wie kann eine Warengesellschaft weiterbestehen, wenn die Produktion von Waren immer weniger Arbeit verwertet…?“ Die Finanzialisierung der Ökonomie durch fortwährende Schöpfung fiktiven Kapitals auf dem Wege der Schaffung neuer Finanzprodukte bedeutet faktisch einen Zugriff auf zukünftige (erhoffte) Wertproduktion. Die Umverteilung des gesellschaftlichen Wertvolumens besitzt also nicht nur eine geografische, sondern auch eine zeitliche Dimension.
Für Gorz ist die Wissensökonomie ein Versuch des Kapitals „das Markt- und Wertgesetz zu umgehen …, um immaterielles, nach keinem Maßstab messbares Wissen als Kapital und Quelle des ‚Wertes‘ funktionieren zu lassen“ (ebd.: 49). Im Versuch dem Selbstwiderspruch von notwendiger Verwertung lebendiger Arbeit und erzwungener Minimierung jener Arbeitsaufwände in der Produktion zu entkommen, schafft das Kapital die Voraussetzungen seiner eigenen Aufhebung. Das ist das Grundthese der Gorz‘schen Überlegungen.
Eigenwerte und Reichtum
Der Gegenbegriff zum (objektiven) „Wert“ als Kategorie der politischen Ökonomie ist der Begriff des (subjektiven) „Eigenwerts“, den Gorz von Gabriel Tarde („valeur intrinsèque“) übernimmt. Er geht damit bewusst das Risiko ein, zwei theoretisch eigentlich unvereinbare Begriffsebenen in Beziehung zu setzen. Damit wird das Gorz‘sche Denken unvorhergesehen anschlussfähig an die aktuelle Debatte um die Commons, die Gemeingüter. Auch Gorz verwendet explizit den Begriff des „Gemeinguts“, dies jedoch eher deskriptiv und in einem globalen Sinne von „allgemeinen Gütern der Menschheit“ und nicht direkt verbunden mit dem Begriff des Eigenwerts, den er wie folgt definiert: „Der ‚Eigenwert‘ steht seinem Wesen nach außerhalb der Ökonomie. Die Eigenwerte – namentlich die vitalen Werte im Sinne von Max Scheler (Kraft, Wendigkeit, Gesundheit, Mut) und die ästhetischen respektive ethischen Werte – sind weder vergleichbar, noch untereinander oder gegen anderes austauschbar“ (ebd.: 61).
Wissen besitzt nun eine Zwiegestalt. Als „Wahrheitswissen, Schönheitswissen und Weisheitswissen“ besitzt es einen Eigenwert, als „instrumentelles Wissen“ (ebd.: 62) kann es kapitalisiert werden und dazu dienen, die Produktivkraft der Arbeit zu steigern. Als Eigenwert ist es Reichtum und Selbstzweck, als Produktivkraft ist es Quelle von Reichtum und Mittel zum Zweck der Profitproduktion. Es müssen also zwei Formen des Reichtums unterschieden werden: der konkrete, unmittelbar sinnliche gegebene Reichtum der Sache (des Wissens usw.) selbst und der abstrakte, jeder Form entkleidete unbegrenzte monetäre Reichtum der Ökonomie – Eigenwert und Wert.
Der Eigenwert darf nicht mit dem Gebrauchswert verwechselt werden. Während der Gebrauchswert nur als andere Seite des Werts der Ware existieren kann5, gibt es den Eigenwert ausschließlich für sich und nur als Selbstzweck. Dennoch ist der Kapitalismus auf ihn angewiesen. Hierin liegt für Gorz der zentrale Widerspruch: „Wissen … gehört genauso wie die anderen menschlichen Fähigkeiten und wie Gesundheit, Leben und Natur … zu den nicht messbaren Reichtümern, die für das Warenproduktionssystem unabdingbar sind, aber nicht gemäß seiner Logik und seinen Methoden produziert werden können“ (ebd.: 63).
Damit sind wir bei den Commons, denn Vergleichbares gilt auch für die Gemeingüter. Der Kapitalismus entstand aus dem Prozess der Einhegung der Gemeingüter („enclosure of the commons“). Karl Marx hat die gewaltsame Enteignung der Bauern von ihren Subsistenzmitteln (Land und Ressourcennutzungsrechte) im Kapitel über die „sogenannte ursprüngliche Akkumulation“ im ersten Band des Kapital (MEW 23, 1983) beschrieben. Rosa Luxemburg hat festgehalten, dass die kapitalistische „Landnahme“ nicht bloß initialer Anstoß für die Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise ist, sondern kontinuierliche Voraussetzung für seine Reproduktion. Und heute wissen wir, dass die gegenläufigen Prozesse von Einschluss und Unterordnung unter die Verwertungslogik auf der einen und Ausstoß von nicht mehr ausreichend Verwertbarem auf der anderen Seite dynamische Grundlage des Kapitalismus sind. Dabei ist die „Landnahme“ nicht mehr territorial zu verstehen, sondern geht heute in die Tiefen des menschlichen Lebens hinein: Sie betrifft das, was Gorz als Eigenwerte bezeichnet und was vielerorts als Commons auch heute noch das Überleben der Menschen sichert. Commons oder Eigenwerte sind zur Produktionsvoraussetzung des Kapitalismus geworden, können „aber nicht gemäß seiner Logik … produziert werden“ – das hat Gorz klar erkannt.
Die Krise des Kapitalismus besteht Gorz zufolge also darin, dass im Kapitalismus die „Substanz“, auf der er gründet, nämlich die Vernutzung von Arbeitskraft, kontinuierlich zurückgeht und nicht mehr durch die Ausweitung der Produktion (über-) kompensiert werden kann.6 Der Kapitalismus zieht sich gewissermaßen selbst den Boden unter den Füßen weg. Gleichzeitig ist er auf die zunehmende Subsumtion der nur außerhalb der kapitalistischen Logik schöpfbaren Eigenwerte angewiesen, die er nicht selbst herstellen kann. Hierin liege dann auch die Quelle seiner Überwindung und Aufhebung, so Gorz Überlegung und Hoffnung.
Keimformen eines Neuen
Ohne die unsichtbare „‚zweite‘ Ökonomie“, die den „untauschbaren, unbesitzbaren, unteilbaren, unverbrauchbaren Lebensreichtum schöpft“, so Gorz, „hätte die herrschende ‚erste‘ Ökonomie nie entstehen können“ und folgert: „Allein in dieser anderen Ökonomie, die auch das Andere der Ökonomie ist7, lernen wir uns gegenseitig selbst zu humanisieren und eine Kultur des Gemeinsinns und des Gemeinwesens hervorzubringen“ (Gorz 2004: 64). Hierin gründen Gorz‘ Hoffnungen der Konstitution eines Wissenskommunismus.
Interessanterweise stammt der sich auf die Wissenschaft beziehende Begriff „Wissenskommunismus“ aus einem durchaus traditionellen Kontext. Damit ist gemeint, dass sich die Wissenschaft nicht Privatinteressen unterordnen könne ohne ihre Funktion als Schöpferin allgemeinen Wissens einzubüßen. Gorz radikalisiert diese Überlegung, indem er Wissen und Wissenschaft in ihrer Bedeutung für den aktuellen Kapitalismus untersucht. In dem Maße wie Wissenschaft zur unmittelbaren Produktivkraft werde, überlebten sich die Grundkategorien des Kapitalismus: Arbeit, Wert und Kapital. Er kommt zu dem Schluss: „Eine authentische Wissensökonomie wäre eine Gemeinwesenökonomie, in der die Grundkategorien der politischen Ökonomie ihre Geltung verlieren und in der die wichtigste Produktivkraft zum Nulltarif verfügbar wäre“ (ebd.: 65).
Ausgangspunkt für die Bestimmung einer Gemeinwesenökonomie sind für Gorz wiederum die Grundrisse von Marx: „In fact aber, wenn die bornierte bürgerliche Form abgestreift wird, was ist der Reichtum anders, als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen? (…) Das absolute Herausarbeiten seiner schöpferischen Anlagen, ohne andre Voraussetzung als die vorhergegangene historische Entwicklung, die diese Totalität der Entwicklung, d.h. der Entwicklung aller menschlichen Kräfte als solcher, nicht gemessen an einem vorhergegebenen Maßstab, zum Selbstzweck macht?“ (MEW 42: 395f, Hervorh. nach Gorz 2004: 68f ). Verschwindet der selbstreferenzielle Zweck abstrakter Reichtumsvermehrung, so sind „die menschlichen Kräfte und Fähigkeiten … nicht mehr Mittel zur Produktion von [abstraktem] Reichtum, sondern sie sind der [konkrete] Reichtum selbst. (…) Der Unterschied zwischen produzieren und sich selbst produzieren bzw. an sich arbeiten verschwindet letztlich“ (ebd.). Selbstentfaltung hat sich selbst zum Zweck und die Entfaltung der anderen zur Bedingung. Hier hat Gorz längst den Wissenkommunismus als Bedingung eines funktionierenden Kapitalismus verlassen und ist beim Kommunismus sui generis angekommen.
Als subjektiv Handelnde entdeckt Gorz – wie auch das Oekonux-Projekt, auf das er sich u.a. bezieht – die freie Softwarebewegung. In ihr sieht Gorz die Vorboten (oder Keimformen) des historischen Umbruchs hin zu einer „Gesellschaft, die die volle Entfaltung jedes Einzelnen zum Ziel hat“ (ebd.: 70). Es ist das „Humankapital selbst“, das „sich vom Kapital zu emanzipieren sucht“ (ebd.). Heute wissen wir, dass die freie Softwarebewegung nur die ersten Anfänge einer Produktionsweise zeigte, die in Anlehnung an Yochai Benkler (2002) commons-basierte Peer-Produktion genannt wird und lange nicht mehr nur auf den Bereich der immateriellen Produktion beschränkt ist.8
Das wäre ein neues Thema für André Gorz geworden. Er hätte sich mit Begeisterung auf die aktuellen Entwicklungen gestürzt, hätte seine Analysen zugespitzt und dort verworfen, wo sie ihm überholt erschienen. Denn davor hat er sich nie gescheut: Eigene Fehler und „Dummheiten“, wie er sagte, einzugestehen und zu revidieren.
Anmerkungen
1: André Gorz wurde am 9. Februar 1923 unter dem Namen Gerhart Hirsch in Wien geboren. Seine Frau Dorine stammte aus Schottland und hieß mit bürgerlichen Namen Doreen Keir.
2: Die Schrift ist erst 1977, mehr als zwanzig Jahre nach ihrer Fertigstellung, bei Galilée erschienen.
3: Persönliche Mitteilung an Stefan Meretz.
4: Im Unterschied zum Preis, der an der Oberfläche erscheint und dieses Verhältnis unsichtbar macht.
5: Dies sah Marx anders, der den Gebrauchswert überhistorisch fasste.
6: Angebliche Gegenanzeigen wie die Zunahme der Anzahl von Arbeitsplätzen oder -stunden (etwa in China) gehen fehl, da die Menge der Arbeitsverausgabung stets am globalen Produktivitätsniveau bewertet werden muss. Beträgt die lokale Arbeitsproduktivität nur ein Zehntel, so erzielen zehn Arbeitsstunden auf diesem Niveau in der Summe doch nur das gleiche Wertvolumen wie eine Arbeitsstunde globaler Referenz-Produktivität.
7: …und gleichzeitig wie die Eigenwerte gar keine „Ökonomie“ im engeren Sinne mehr ist.
8: Vgl. dazu die Texte im kollektiven Blog keimform.de.
Literatur
Beauvoir, Simone de (2008) [1963]: Der Lauf der Dinge, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Benkler, Yochai (2002): Coase’s Penguin, or Linux and the Nature of the Firm. The Yale Law Journal 112(3), S. 429.
Brumlik, Micha (2009): Revolution, Reform, Evolution – André Gorz’ Hoffnungen, in: Zwengel, Ralf (Hg.): Ohne Proletariat ins Paradies? Zur Aktualität des Denkens von André Gorz, Essen: Klartext, S. 35-42. DGB-Bundesvorstand, Abteilung Jugend (Hg.) (1983): Abschied von Proletariat? Eine Diskussion mit und über André Gorz. Protokoll einer Arbeitstagung vom 30. Mai bis 3. Juni 1983, Düsseldorf.
Gorz, André (1969) [1967]: Der schwierige Sozialismus, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt.
Gorz, André (1980) [1977]: Ökologie und Freiheit. Beiträge zur Wachstumskrise 2, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Gorz, André (2004) [2003]: Wissen, Wert und Ka147 pital. Zur Kritik der Wissensökonomie, Zürich: Rotpunkt. Gorz, André (2009) [2008]: Auswege aus dem Kapitalismus. Beiträge zur politischen Ökologie, Zürich: Rotpunkt.
Hörfunk-Feature des Westdeutschen Rundfunks, Kultur und Wissenschaft, Redaktion: Lothar Fend: Die ich wählte, wiesen mich ab; die ich abwies wählten mich… Die Geschichte des André Gorz zwischen Österreich, Frankreich und Deutschland. Aufgezeichnet von Claus Leggewie, Sendung vom 20. Februar 1986, 21-22 Uhr, 3. Programm. (Für die Zusendung des Skriptes des Features danken wir Wolfgang Stenke und Claus Leggewie).
Honneth, Axel (1989): Logik der Emanzipation. Zum philosophischen Erbe des Marxismus, in: Krämer, Hans Leo/Leggewie, Claus (Hg.): Wege ins Reich der Freiheit. André Gorz zum 65. Geburtstag, Berlin: Rotbuch, S. 86-106.
Kojève, Alexandre (1975) [1947]: Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes, herausgegeben von Iring Fetscher, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Lodziak, Conrad/Tatman, Jeremy (1997): André Gorz. A Critical Introduction, London/Chicago: Pluto Press.
Marx, Karl (MEW 19/1962) [1891]: Kritik des Gothaer Programms, in: MEW, Bd. 19, Berlin: Dietz, S. 11-32.
Marx, Karl (MEW 42/1983) [1858], Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW, Bd. 42, Berlin: Dietz, S. 15-770.
Marx, Karl (MEW 23/1983) [1890], Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, von F. Engels in Hamburg herausgegebene Ausgabe, in: MEW, Bd. 23, Berlin: Dietz.
Marx, Karl/Engels, Friedrich (MEW 3/1962) [1846]: Die Deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, Berlin: Dietz, S. 9-532.
Marx, Karl/Engels, Friedrich (1964) [1848]: Manifest der Kommunistischen Partei, Berlin: Dietz.
Münster, Arno (2011): André Gorz oder der schwierige Sozialismus. Eine Einführung in Leben und Werk, Zürich: Rotpunkt.
Negt, Oskar (1989): Aus produktiver Phantasie – Ein revolutionärer Realist unserer Zeit, in: Krämer, Hans Leo/Leggewie, Claus (Hg.): Wege ins Reich der Freiheit. André Gorz zum 65. Geburtstag, Berlin: Rotbuch, S. 54-73.
Sartre, Jean-Paul (1964) [1960]: Marxismus und Existentialismus. Versuch einer Methodik, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Autoren
André Häger, Dipl.-Politikwiss., Doktorand an der Universität Greifswald
Stefan Meretz, Dr.-Ing., Dipl.-Inform., Mitarbeiter in der ver.di-Bundesverwaltung, Blogger unter keimform.de
danke für diesen gehaltvollen nachruf. würde man so in der jammernden deutschen „qualitätspresse“ kaum finden 🙂
„Der Kapitalismus zieht sich gewissermaßen selbst den Boden unter den
Füßen weg. Gleichzeitig ist er auf die zunehmende Subsumtion der nur
außerhalb der kapitalistischen Logik schöpfbaren Eigenwerte angewiesen,
die er nicht selbst herstellen kann.“ – kannst du vielleicht darauf mal näher eingehen? wieviel verwertbaren „Eigenwert“ schafft z.B. jon ive bei apple, oder auch die programmierer, gemessen am realisierten (mehr)wert zu den materiellen produktionskosten (foxconn produziert ja meines wissens nach immer noch relativ arbeitsintensiv), oder halt andere designer (möbel, klamotten….), oder künstler, obwohl, die sind ja bis auf maler und skulpturbauer eher immateriell – hier (original) könnte man dann auch wieder vergleiche anstellen mit dem preis, den son apple-prototyp letztens bei ner versteigerung erzielt hat…… oder mit mondpreisen für vergriffene vinyl-kleinstauflagen bei discogs – das ist in dem zitat jetzt nicht so gemeint, glaub ich, find das thema aber spannend im kontext von „markt, der nicht gesättigt werden kann“ (ausser es wird allen beteiligten irgendwann zu langweilig 🙂
@e.r.:
Da das eine Frage nach einer Quantität ist, hätte sie Gorz vermutlich zurückgegeben mit dem Hinweis, dass eben genau jener »Eigenwert« unmessbar und damit nicht quantifizierbar sei. Eigenwerte werden nach Gorz nur außerhalb der kapitalistischen Logik geschaffen, aber von dieser benötigt.
aber schafft nicht der „eigenwertschaffer“ wieder verwertbaren wert? die frage beschäftigt mich.
ist deine (gorz) antwort nicht tautologisch?
Tautologisch?
Die Eigenwerte sind Verwertungsvoraussetzung und gehen in Verwertung ein, sind aber selbst nicht quantifizierbar. Du kannst also nicht sagen, welchen oder wieviel »verwertbaren Wert« der »Eigenwertschaffer« geschafft hat. Das ist bei allen Voraussetzungen der kapitalistischen Warenproduktion so, also etwa Luft, Kooperation, Kreativität usw.