Die Gesellschaft nach dem Geld (2)
[Kolumne Immaterial World in der Wiener Zeitschrift Streifzüge]
In der letzten Ausgabe der Streifzüge (Frühling 2020) habe ich die Entstehung und Grundüberlegungen des Forschungsprojekts Die Gesellschaft nach dem Geld (GndG) vorgestellt. Letztere habe ich in vier Punkten zusammengefasst: (1) Beiträge und Entnahmen erfolgen freiwillig und bedürfnisbasiert; (2) Menschen besitzen sowohl beitragsbezogene produktive wie nutzenbezogene sinnlich-vitale Bedürfnisse; (3) Bedürfnisunterschiede nehmen keine Interessenform an, sondern werden als Bedürfniskonflikte vermittelt; (4) die Verfügung über die Produktion und ihre Ergebnisse erfolgt kollektiv durch die tätigen Menschen.
So weit, so abstrakt. Wie sind wir im Projekt vorgegangen? Zunächst haben wir uns für eine Computersimulation auf Basis eines agentenbasierten Modells (ABM) entschieden. Während etwa bei einer Wettersimulation das ganze System mathematisch beschrieben wird, aus dem sich dann top-down einzelne Effekte ableiten lassen, beschreiben wir Eigenschaften und Aktionsweisen individueller Agenten, deren Interaktionen bottom-up das Systemverhalten ergeben. Die emergierende Computergesellschaft ist wiederum Aktionsbedingung für die interagierenden Agenten. Diese Feedback-Schleifen operieren zwar immer noch deterministisch, machen das Ergebnis jedoch gleichzeitig unvorhersagbar.
Als Zwischenschritt zwischen den theoretischen Annahmen und agentenbasierter Computersimulation diente uns ein Narrativ. Im Narrativ erzählen wir in semiformaler Weise, wie die Gesellschaft nach dem Geld funktioniert. Das Modell kennt drei Agententypen: Personen, Gruppen und Mittel. Die Personen besitzen Bedürfnisse, Emotionen, Motivationen sowie Erfahrungen aus früheren Aktionen, die sich als Bevorzugungen (Prioritäten) niederschlagen. Die Gruppen unterscheiden sich entsprechend der Mittel, mit denen sie zu tun haben. Mittel sind alle Aspekte menschlicher Existenz, die die Personen oder Gruppen brauchen: Lebensmittel, Produktionsmittel, Caremittel (Krankenversorgung und Pflege), Ökomittel (Ressourcenquellen und -senken) und Konfliktmittel (Mediations- und Entscheidungsverfahren). Sie werden einerseits durch tätige Beiträge in unterschiedlichen Produktivgruppen her- und bereitgestellt und andererseits in der Lebensgruppe und den Produktivgruppen genutzt und zum Teil auch verbraucht.
Die gesellschaftliche Vermittlung erfolgt stigmergisch, das heißt, durch Zeichen. Diese Zeichen sind qualitativer Art, sie vermitteln Bedürfnisse. Sie kommen entweder aus dem Prozess selbst (eine Entnahme eines Mittels löst eine Anforderung zur Herstellung eines neuen aus) oder begleiten und leiten die Vermittlung an (etwa als lokaler Plan). Damit gelingt eine weitgehende quasi-automatische transpersonale Vermittlung auf Basis dezentraler Selbstorganisation. Es gibt also keinen übergreifenden Zentralplan, gleichzeitig jedoch eine weitreichende Informationstransparenz. Lokal können also jederzeit die Daten der assoziierten Produktionskette ermittelt werden, auf deren Basis eigene Entscheidungen getroffen werden.
Gehen Beiträge und Entnahmen nicht auf, können Entscheidungen nicht mehr konfliktfrei getroffen werden. Solche Konflikte müssen nun interpersonalisiert, d.h. aus der automatischen transpersonalen Vermittlung herausgeholt und von den betroffenen Personen im direkten Kontakt gelöst werden. Konflikte können eine unterschiedliche Reichweite besitzen, was von der Komplexität des Mittels und Position des Konflikts innerhalb der gesellschaftlichen Tätigkeitsteilung abhängig ist. Einfache Mittel mit wenigen vorausgesetzten Vorprodukten erzeugen eher lokale Konflikte, während die Konflikte um komplexe Mittel mit vielen vorausgesetzten Zulieferungen – insbesondere bei Produktionsmitteln – großräumiger sein können.
Treiber von Veränderungen und damit potenziell von Konflikten sind keine „dritten Faktoren“ mehr (wie etwa die Verwertungs- und Wachstumslogik im Kapitalismus), sondern allein die Bedürfnisse. Schematisch betrachtet können dabei zwei Quellen ausgemacht werden. Veränderungen können über veränderte sinnlich-vitale Bedürfnisse, also von der konsumtiven Seite angestoßen werden. Sie können jedoch in gleicher Weise über veränderte produktive Bedürfnisse, also der Seite der Beiträge ausgelöst werden. Beides wiederum ist eng mit der individuellen Bewertung der Lebenslage der Personen verbunden, wobei wir hier unterschiedliche Reichweiten vorsehen wollen: von eher „bornierten“ Sichten nur auf das lokale Personenumfeld bis zu „weiten“ Sichten auf die gesamtgesellschaftliche Situation.
Konfliktlösungen können auf verschiedene Weise geschehen, wobei wir exkludierende, meritokratische und inkludierende Lösungstypen untersuchen wollen. Exkludierende Lösungen streben danach, den eigenen Vorteil zu Lasten anderer durchzusetzen – das, was wir als „Normalfall“ im Kapitalismus allzu gut kennen. Meritokratische Lösungen sind kooperative Varianten der Exklusionslösung: Es werden die unmittelbaren Kooperationspartner*innen bevorzugt, die einem selbst die meisten Vorteile bringen. Inkludierende Lösungen versuchen darüberhinaus die Bedingungen aller abhängigen Partner*innen in die Entscheidungsabwägung hineinzunehmen. Schon aus dieser Beschreibung wird deutlich, dass es sich um ein Kontinuum von eher borniert-exkludierenden bis hin zu weit-inkludierenden Konfliktlösungen handelt. Uns interessiert, welche Bedingungen welche Lösungsrichtungen befördern.
Nach dem Aufbau der Modellwelt im Computer mit Hilfe der Programmiersprache NetLogo testen wir zunächst, ob sich die Gesellschaft kohärent und stabil verhält. Dabei nehmen wir zu Beginn ideale Bedingungen an. Ziel dieser Phase ist es, die Gesellschaftsgröße herauszufinden, bei der sich die Ergebnisse nicht mehr sprunghaft ändern, sondern in einer definierten Bandbreite reproduzierbar sind. Wir erwarten solche Sprünge, weil wir das eigentlich indeterministische Verhalten realer Menschen und Gruppen mit deterministischen Algorithmen abbilden, deren berechnetes Verhalten wir mit Zufallsfunktionen variieren. Gibt es solche Zufallsvarianzen an vielen Stellen im Modell, so können diese kumulative Ausschläge in die eine oder andere Richtung erzeugen. Solche überschießenden Effekte lassen sich wiederum nur durch entsprechend große Agentenzahlen ausmitteln und glätten. Wir wissen jedoch derzeit nicht, ob eine solche Glättung und damit eine gewisse Reproduzierbarkeit bei 100.000, einer Million oder noch mehr Personen eintreten wird. Da wir über keine unbegrenzten Rechenkapazitäten verfügen, müssen wir versuchen, die minimale reproduzierbare Größe zu finden, um von dort aus – mit einem gewissen zusätzlichen Puffer – unsere Experimente durchzuführen.
Reproduziert sich die künstliche Gesellschaft jenseits von Geld, Markt und Staat stabil, können wir durch gezielte Einschränkungen der Randbedingungen und Modifikationen der Algorithmen weitere Fragen untersuchen. Etwa: Ab welchem Prozentsatz von Personen, die keine Beiträge leisten, ist eine Wirkung sichtbar? Was bedeutet eine eingeschränkte Informationstransparenz für die Entscheidungen? Wie wirken sich unterschiedliche Konfliktlösungsarten auf die Systemstabilität aus? Kann eine inklusionslogisch strukturierte Gesellschaft auch unter drastisch verschlechterten Bedingungen einer Klimakrise stabil bleiben?
Mit Hilfe dieses Vorgehens wollen wir belastbare Aussagen über eine Gesellschaft nach dem Geld gewinnen, obwohl wir keine Vergleichsgesellschaft haben, die auch nur annähernd ihre gesellschaftliche Vermittlung ohne Geld, Markt und Staat organisiert. So sind wir immer wieder angehalten, die erkenntnistheoretischen Grenzen eines solchen Vorgehens zu reflektieren. Wir hoffen dennoch auf valide Ergebnisse, die nicht nur binnenwissenschaftlich bislang unhinterfragte Setzungen aufweichen, sondern auch Hinweise für emanzipatorische Bewegungen liefern können, die mit utopischen Diskussionen vertraut sind.
Klingt ganz interessant.
Gibt es schon konkretere Informationen darüber?
Also z.B. nach welchen Formeln die Agenten agieren, so dass man es auch nachprogrammieren könnte, wenn man wollte?
Können aus den math. Formeln allgemeinere math. Sätze abgeleitet werden?
Warum ist das Modell nicht math. explizit aufschreibbar, sondern benötigt man Computerversuche, um Wirkungen herauszufinden ?
@Tobias: Wir planen, den Code zu open sourcen, wenn ein Modell läuft. Wie beschrieben, haben wir das Agentenverhalten in semiformaler Weise, also in einer Art Pseudocode beschrieben. Im Prinzip kann man das nachprogrammieren. Beim Transfer des Narrativs in Code haben sich für uns noch eine Reihe von Veränderungen ergeben, die nicht mehr dem Narrativ entsprechen. Dennoch will ich das Narrativ demnächst mal publikationsreif machen und online stellen. Schon darüber lässt sich ganz gut diskutieren.
Ich glaube nicht, dass aus den mathematischen Formeln allgemeinere Sätze innerhalb der Mathematik abgeleitet werden können. Die mathematische oder besser: algorithmische Formulierung ist eine Notwendigkeit innerhalb der Simulation, jedoch kein Ziel, weil wir kein analytisches Modell verwenden oder auch nur anstreben. Das beantwortet auch, warum das Modell nicht mathematisch explizit beschreibbar ist. Und wir haben uns gegen ein analytisches Modell entschieden, weil wir eine Gesellschaft als Gesamtsystem nicht für analytisch beschreibbar halten. Auch eine algorithmisch-iterative Approximation eines Systemverhaltens stellt nur eine simulative Annäherung dar; welchen Grad an Wirklichkeitsbezug die Ergebnisse haben, ist dann immer noch Sache einer (u.U. strittigen Interpretation).
Wenn es programmiert ist, wird es ein Modell bleiben, und zwar ein mathematisch vollständig formal definiertes Modell.
Die Agenten werden Funktionen mit Input und Output sein, richtig? Evtl. sogar mit einer Wahrscheinlichkeitsverteilung in ihren Entscheidungen und damit ihren Outputs.
Das Ergebnis der Simulation werden zu jeder Runde/zu jedem Zeitpunkt bestimmte Bilanzen von Werten oder Bedürfnisbefriedigungen sein, gemessen in Zahlen.
Deshalb verstehe ich nicht, warum nicht zuerst das mathematische Vorgehen beschrieben wird, und diskutiert wird, inwieweit es mit der Realität übereinstimmt und dann wie bestimmte Eingangsgrößen/Parameter gewählt werden sollen.
Und natürlich ist das ganze Projekt eine analytische Beschreibung der Gesellschaft, sonst kann man nichts simulieren.
@Tobias:
Ich hoffe, ich fall Stefan jetzt nicht ins Wort. Aber ich glaube, der Witz an dem Projekt ist ja eben, dass nicht Gesellschaft, sondern individuelles Handeln unter bestimmten Bedingungen simuliert wird. Das Ergebnis der Simulation wäre dann Gesellschaft bzw. eine bestimmte Art der Gesellschaft, die eben nicht von Anfang an feststeht.
@Tobias: Richtig, mit Wahrscheinlichkeitsverteilungen, die die Approximation nicht vorhersagbar machen. Du könntest zwar zu jedem Zeitpunkt messen, wie der Zustand ist, du kannst ihn aber vorher nicht voraussagen. Das mathematische Vorgehen beschreiben wir (im Narrativ) schon, nur nicht als analytisches Gesamtmodell. Deswegen ist es anhand des Narrativs, also der groben Beschreibung des Modells, schon möglich, zu diskutieren, „inwieweit es mit der Realität übereinstimmt und dann wie bestimmte Eingangsgrößen/Parameter gewählt werden sollen“.