Freiwilligkeit und Utopie
[Kolumne Immaterial World in der Wiener Zeitschrift Streifzüge]
Freiwilligkeit ist nicht die Norm. Etwas freiwillig zu tun, schließt ungesagt mit ein, dass es normalerweise eine Gegenleistung oder gar ein Zwang ist, welche zur Tat anhalten. Es ist die Tauschlogik, die dahinter hervorlugt, und das setzt, was als normal gilt. Im Kapitalismus ist Freiwilligkeit die geadelte Ausnahme. Sie erscheint als Ehrenamt, als gute Tat, als Altruismus in einer Welt, in der Lohnarbeit, Profitstreben und Egozentrismus als selbstverständlich gelten.
Jede gesellschaftliche Utopie enthält Freiwilligkeit mindestens als Moment, wenn nicht gar als konstitutiven Baustein. Die bisherigen Utopien lassen sich in drei Gruppen einteilen: kollektivistische, individualistische und ethisch-moralische.
In kollektivistischen Utopien, wie sie vor allem in der historischen Arbeiter*innenbewegung verbreitet waren, ist das freiwillige Engagement Ausdruck der Einsicht in übergeordnete Notwendigkeiten. Die individuelle Besonderheit ist im kollektiven Ganzen aufgehoben. Freiwillig im Sinne der Notwendigkeiten des Ganzen zu handeln, bedeutet, die eigene Individualität zu leben. Dieser Zusammenhang liegt nicht auf der Hand, sondern muss erst erkannt werden. Erziehung und positiv verstandene Ideologie erhalten hier ihre zentrale Funktion.
Individualistische Utopien vor allem anarchistischer Strömungen vertreten in gewisser Weise genau das Gegenteil. Freiwilligkeit kann hier nur auf individueller Entfaltung jenseits übergeordneter Notwendigkeiten basieren. Das kollektive Ganze ist den Individualitäten nicht vorausgesetzt, sondern entsteht erst aus der freien Entfaltung der individuellen Besonderheiten.
Vielleicht ist durch die Art der von mir gewählten Beschreibung schon deutlich geworden, dass sich kollektivistische und individualistische Utopien nicht so gravierend unterscheiden, wie es ihre reale historische Feindschaft nahelegen mag (exemplarisch: Konfrontation von Anarchist*innen und Kommunist*innen während des Spanischen Bürgerkriegs). Beide thematisieren das Verhältnis von Individualität und gesellschaftlicher Ganzheit, von Freiwilligkeit und Notwendigkeit – nur jeweils von unterschiedlichen Polen aus. Die Unvereinbarkeit kommt erst ins Spiel, wenn die Notwendigkeiten im ersten Fall als herrschaftsförmig strukturierter Staat (oder Partei als Proto-Staat) und im zweiten Fall als dem Anspruch nach möglichst herrschaftsfreie Versammlung oder Räte-Struktur ihre konkrete Form finden.
Der Bezug auf ein gesellschaftliches Ganzes ist hingegen in ethisch-moralischen Utopien unterbelichtet oder völlig abwesend. Stillschweigend wird hier die gegenwärtige gesellschaftliche Formierung über Markt und Staat hingenommen. Was allein zählt ist das individuelle Handeln. Dieses soll sich an zu vereinbarenden Werten oder ethisch fundierten moralischen Normen ausrichten. Beredtes Beispiel für solche Ansätze sind die verbreiteten Varianten der Konsumkritik. Freiwillig soll auf bestimmte Formen des Konsums verzichtet werden, um die Welt zu einem „better place“ zu machen. Erziehung und Ideologie, gepaart mit schlechtem Gewissen, sind ihre Begleiter.
So klar abgegrenzt wie hier überzeichnet dargestellt, sind die drei utopischen Ansätze in Wirklichkeit nicht. Tatsächlich gibt es nahezu beliebige Mischformen, die es meist jedoch nicht besser machen. Dennoch enthalten sie alle berechtigte Aspekte, die in einer zu begründenden commonistischen Utopie aufgehoben werden müssten.
Ausgangspunkt einer solchen Utopie ist die Frage nach der Gestaltung des Verhältnisses von Freiwilligkeit und Notwendigkeit. Die Antwort kann nicht in einer einseitigen Unterordnung des Individuums unter die Gesellschaft oder umgekehrt bestehen. Solche Vereinseitigungen entstehen, wenn der Fokus auf die Personen oder Institutionen der Herrschaft gerichtet wird anstatt auf die zugrunde liegende Handlungsmatrix. Eine Handlungsmatrix ist die Bedingungsstruktur, die gesellschaftlich wie individuell nahelegt, gemäß ihrer Logik zu handeln, weil es funktional ist und die eigene Existenz sichert. Ist diese (wie bisher immer) exklusionslogisch formiert – die Bedürfnisbefriedigung der einen geht zu Lasten der von anderen – dann ist es zweitrangig, welche Formen die Herrschaft annimmt (Kapital, Partei, Staat, Räte etc.). Der kollektivistische Ansatz versucht Herrschaft bewusst für den guten Zweck zu instrumentalisieren, während der individualistische Ansatz Herrschaft abstrakt bekämpft – sich aber durch die Hintertür wieder rein holt.
Nehmen wir nun an, die gesellschaftlich-individuelle Handlungsmatrix ist inklusionslogisch strukturiert, dann stellt sich das Verhältnis von Freiwilligkeit und Notwendigkeit völlig anders dar. Die Inklusionslogik basiert auf der Abwesenheit von Eigentum, also der andere exkludierenden Verfügung über Ressourcen. Damit gibt es keine Machtmittel, um Menschen zu einer Tätigkeit zu bringen, die sie nicht wollen. Kooperation ist weiterhin notwendig, aber immer freiwillig. Niemand kann gezwungen, sondern nur noch gewonnen werden. Der Fokus richtet sich auf die Bedingungen, die so einladend sein müssen, dass sich Menschen gerne beteiligen. Freiwilligkeit und Inklusion erzeugen sich gegenseitig. Es ist nun „nur noch“ eine Frage der Organisation, wie die freiwilligen Tätigkeiten die gesellschaftlichen Notwendigkeiten abdecken. Für einen Rest unabgedeckter Notwendigkeiten findet sich dann auch eine Lösung.
Doch im Kapitalismus ist die allgegenwärtige Handlungsmatrix exklusionslogisch strukturiert. Wir leben und reproduzieren sie, nahezu täglich. Freiwilligkeit braucht hier geschützte Räume, in denen die Wirkungen der Exklusionslogik abgemildert oder gar neutralisiert werden. Dazu gehört ganz zentral die Neutralisierung der exkludierenden Wirkung des Eigentums. Aber auch die von uns verinnerlichten „normalen“ exkludierenden Handlungsweisen müssen entlernt werden. Freiwilligkeit ist kein bloß individueller Willensakt, sondern kollektiv zu erlernende Handlungsweise, die bewusst zu schaffende Ermöglichungsstrukturen braucht. Das ist der Sinn der Commons. Es sind Räume des Erlernens von Freiwilligkeit und Inklusion, Räume des Commoning.
So verstanden ist Freiwilligkeit der Kern radikaler Utopie.
((Das nachfolgende dient auch als Ergänzung meines Kommentars zum vorausgehenden Text von Stefan „Peer-commonist-produced-livelihoods“.))
Die „Logik“ exklusiver Berechtigungen beim Zugriff auf gesellschaftlich verfügbare und reproduktions-notwendige Ressourcen ist auch eine, eben die liberale Utopie. Aber sie reagiert auf einen viel fundamentaleren Exklusions-Sachverhalt, den Ausschluss vom sachverständig-vernünftigen Entscheiden-Können, den alle irgendwie speziell Ausgebildeten ganz unfreiwillig wechselseitig gegeneinander geltend machen müssen; und: den wechselseitigen Ausschluss der Meinungen, die untereinander Unverständigte aufrechterhalten, die (neben und somit wegen ihrer Spezialistentätigkeit) nicht die Zeit finden, auch noch die Inhalte der Bildungsgänge aller Andern, mit all ihren unendlich vielfältigen Begriffen, Gesichtspunkten, Basis-Hypothesen, kennenzulernen, geschweige denn, sich mit sich selbst und den Betroffenen darüber zu verständigen. Genau diese doppelte und ganz und gar ausser- und vor-moralische Exklusion, die direkt und indirekt aus moderner Arbeitsteilung resultiert, ist gemeinsamer Ausgangspunkt all der (utopisch, idealistischen) Vorschläge, ihr durch Freiheit oder Freiwilligkeit entweder oder aber gutgemeinten Zwang, „Erziehung“, Manipulation abzuhelfen, und ihr zum Trotz zu irgend gültigen und halbwegs koordinierten arbeitsteiligen (und modern-hochproduktiven) Formen von Reproduktion und Fortschritt auf gesellschaftlicher oder gar globaler Ebene zu gelangen. Kurz gesagt: Diese Exklusion, die dem erreichten Stand der Produktivkräfte entspricht, ist die materielle Basis, die (wenn man auf dieser Basis sich reproduzieren will) ein Produktionsverhältnis erzwingt, das ihr gerecht wird: „It’s the production forces, stupid“ war im andern Kommentar drüben der saloppe Spruch, in den dieser ernste Sachverhalt gekleidet war.
„Freiwilligkeit“ (oder: Zwanglosigkeit und Einsichts-Basiertheit, Rationalität von arbeitsteiliger Koordination, bei anwachsendem und kollektiv zu verarbeitendem Wissen) ist das Problem, das zu lösen ist, eine Anforderung, der Praktiken selbstverständlich gerecht werden müssen, die über das gegenwärtige Elend hinausführen; sie zu fordern (besser ausgedrückt: sich der objektiven Anforderung als solcher bewusst zu sein), IST aber nicht schon die Lösung.
Das gilt übrigens auch für zwei weitere über die gegenwärtigen Verhältnisse hinausweisende (An)Forderungen, bei denen in ähnlicher Weise kaum zu sehen ist, wie sie auf Basis der derzeitigen materiellen Produktions-Basis und der ihr entsprechenden Gesellschaftsverfassung je befriedigt werden könnten: dass die modern-arbeitsteilige, globalisierte Produktion naturverträglich wird; und, dass sie sich mit menschlichen Bedürfnissen, Wünschen, Leistungsgrenzen versöhnen lässt (also eigentlich mit dem, was wir von Natur aus an Anforderungen an eine Lebensführung mitbringen, wenn sie gut, glücklich, erfüllend sein soll: unsrer eignen Natur, die wir genauso missachten wie die weitere, uns „umgebende“, deren Teil wir oder sie (ein bezeichnender Dualismus) doch sind).
Ich sage: Die moderne Industrie-Produktion, die grösste aller Errungenschaften, „hinter“ die wir nie, nie wieder „zurückfallen“ wollen – die ist das Problem. Die Frage ist: Was über sie hinausführt.
@franziska:
Das dachte der Realsozialismus auch lange. Daraus spricht ein Determinismus, den ich nicht teile, weil er die Verkehrung von Sozialem und Sachlichem (aka: Fetischismus) reproduziert. Es gibt keine Apriori Techno-Exklusionen, sondern Exklusionen sind gemachte soziale Verhältnisse. Dass diese im Kapitalismus aus einer Verkehrung resultieren und sich als neutrale Sachzwänge präsentieren, gilt es IMHO zu kritisieren und nicht zu affirmieren.
Aus meiner Sicht gibt es nicht „die moderne Industrie-Produktion“, sondern die kapitalistischen Verhältnisse sind untrennbar in die „moderne Industrie-Produktion“ eingeschrieben. Hinter ihre tödliche Effizienz „zurückfallen“ zu müssen, ist an vielen Stellen unvermeidbar. Aber vielleicht meinst du ja das gleiche mit dem Gedanken des Hinausführens…
Und ja, Freiwilligkeit ist nicht schon selbst „die Lösung“, aber ein unhintergehbarer Baustein. Auf eine Formel gebracht: Enthält die Utopie Zwang als konstitutives Merkmal, taugt sie nichts.
@Stefan: Du definierst „Freiwilligkeit“ hier auf eine ungewöhnliche Weise, nämlich als Abwesenheit von Zwang oder Gegenleistung. Normalerweise wird aber nur ersteres — die Abwesenheit von Zwang — als Kriterium für Freiwilligkeit benutzt. Nun kann man natürlich Begriffe umdefinieren, wenn man gute Gründe dafür hat, aber da muss man immer auch den unvermeidlichen Effekt mit einkalkulieren, dass man dann schnell an anderen vorbei reden wird — weil die die Alltagsdefinition im Kopf haben und deshalb etwas anderes vorstehen als man eigentlich sagen wollte.
Um diesen Effekt zu vermeiden, ist es IMHO nahezu immer besser, auf solche unerwarteten Redefinitionen zu verzichten und lieber eigene Begriffe zu prägen — du könntest, um die Abwesenheit von Zwang und Gegenleistung zu bezeichnen, z.B. von „unentgeltlicher Freiwilligkeit“ sprechen, das würde das Missverständnis-Risiko sehr reduzieren.
Zumal du ironischerweise selbst in die Alltagsdefinition zurückzufallen scheinst, wenn es dir argumentativ gerade passt. So fragst du anderswo rhetorisch: „was die Alternative [zur Freiwilligkeit] sein kann — doch nur der Zwang oder?“
Dabei weist du es ja selber besser: Gemäß dieser Kolumne kann auch eine vereinbarte/ausgehandelte Gegenleistung die Alternative sein, ohne dass sich dahinter notwendigerweise Zwang verstecken würde. Z.B. nimm eine Solawi: Alle tragen die anfallenden Kosten gemeinsam (finanzielle sowie Arbeit/Aktivitäten) und genießen die Früchte (produzierte Lebensmittel) gemeinsam. Es gibt also eine Gegenleistung für die eigene Beteiligung — wer nicht beiträgt, kann auch nicht konsumieren. Das ist übrigens das übliche Arrangement für nahezu alle nicht-digitalen Commons. Gemäß deiner eigenen Definition wären das also alles keine freiwilligen Arrangements. Andererseits wäre es absurd, hier von „Zwang“ zu sprechen, solange es mir frei steht, ob ich mich an der Solawi/dem Commons beteilige oder nicht.
Du solltest also, wenn du schon so eine spezielle Definition verwendest, zumindest darauf achten, dieser auch treu zu bleiben — womit du freilich auch die meisten Commons aus deinem Reich der Freiwilligkeit ausschließen würdest. Sinnvoller wäre es IMHO aber, näher an der Alltagsdefinition zu bleiben und für das darüber Hinausgehende andere Begriffe wie eben „unentgeltlich“ oder z.B. „Schenken“, „bedingungsloses Geben“ zu verwenden.
Nur eine Randnotiz:
„In kollektivistischen Utopien, wie sie vor allem in der historischen Arbeiter*innenbewegung verbreitet waren“…
„Individualistische Utopien vor allem anarchistischer Strömungen“ …
damit reproduzierst Du die Geschichtserzählung des Realsozialismus. Tatsächlich war bis zum ersten Weltkrieg und oft auch noch bis zum zweiten die Arbeiter_innenbewegung in fast allen Ländern zu sehr großen und oft mehrheitlichen Teilen anarchistisch. Deutschland ist hier eher die Ausnahme und auch hier gab es bis zum ersten Weltkrieg sehr große anarchistische Fraktionen innerhalb der Arbeiter_innenbewegung.
@Christian: Danke für den Hinweis! Ich denke nicht, dass ich den Begriff der Freiwilligkeit hier ausweite. Aus Platzgründen konnte ich nicht ausführlich genug argumentieren. Tatsächlich diskutiere ich bei interpersonalen Beziehungen die Dimension der Reziprozität (anders als üblich neutral) entlang der beiden Aspekte der Bedingtheit und Relationalität. Mit dem Kriterium der Bedingtheit kann klar werden, dass es unbedingte (oder bedingungsfreie) oder bedingte (oder bedingungsvolle) Handlungen (z.B. Gaben) geben kann.
Bei bedingten Handlungen wird bei Gaben eine Gegengabe erwartet (etwa implizit beim Schenken oder explizit bei Tausch), bei bedingungsfreien Handlungen nicht.
[Nur der Vollständigkeit halber der zweite Aspekt: Bei exkludierenden Relationen sind Möglichkeiten erweiternde Ergebnisse von Handlungen mit einschränkenden Folgen für andere verknüpft, so dass Handlungen in Konkurrenz zueinandergeraten können; bei inkludierenden Relationen ergänzen und befördern die Handlungen einander.]
Bedingte Handlungen sind erzwungene Handlungen. Die Notwendigkeit, unsere Lebensbedingungen qua Stoffwechsel mit der äußeren Natur vorsorgend herzustellen, führt immer wieder zu Handlungszwängen aufgrund von Naturbedingungen. Diese sind begrenzbar, aber nie völlig aufhebbar (sofern man nicht an Transhumanismus glaubt). Davon abzuheben sind sozial hergestellte Bedingungen, die zu personal oder strukturell diktierten Handlungszwängen führen. Diese sind aufhebbar. Die Forderung nach Freiwilligkeit, also die Verhältnisse so einzurichten, dass niemand mehr sozial gezwungen wird oder sich gezwungen sieht für den eigenen Existenzerhalt zu handeln (etwa heute zu „arbeiten“) ist die radikale Konsequenz.
Aus meiner Sicht muss es kritischer Wissenschaft zunächst egal sein, was der Alltagsverstand denkt. Wenn du wiederholt die strukturelle Dimension aus Zwangsverhältnissen ausnimmst und allein auf die personale fokussiert, dann reproduzierst du erneut die alltagsgängige fetischistische Verkürzung. Wenn ich frage „was die Alternative [zur Freiwilligkeit] sein kann — doch nur der Zwang oder?“ dann spreche ich in der Tat sowohl vom personalen wie vom strukturellen Zwang. Zufällig argumentiere ich in dem Beispiel nun gerade nicht wie es mir passt. Vorkommen kann es aber schon.
Einen solchen kritischen Begriff von Freiwilligkeit zu haben, finde ich gerade auch wichtig, um heutige reale Commons nicht zu glorifizieren. Dort gibt es partiell Freiwilligkeit, etwa durch die teilweise eingerichtete Entkopplung von Geben und Nehmen auf der Gruppenebene. Immerhin, mehr aber auch nicht – was immer Meer der kapitalistischen Zwangsverhältnisse auch nicht anders sein kann.
@Benni:
Dieser Eindruck konnte nach der ARTE-Doku „Kein Gott, kein Herr!“ entstehen, aber ich denke, dass es sich seinerseits um eine Überhöhung der Bedeutung des Anarchismus handelt, die vielleicht dadurch entsteht, weil die reformistische Arbeiter*innenbewegung unterbewertet wird.
Auf welche Quelle beziehst du dich?
@Stefan #5:
Nachfrage zum Verständnis: Ist deine gesellschaftliche Utopie eine, in der es nur noch bedingungsfreie Handlungen gibt? (Man könnte das dann vielleicht eine „Gesellschaft des bedingungsfreien Gebens“ nennen.) Oder welche Rolle können bedingte Handlungen (mit explizit oder implizit erwarteter Gegengabe) in deiner Utopie noch spielten?
Du sagst das so kategorisch, aber mit welcher Begründung? Letztlich liegt es doch an den Menschen, ob sie Bedingungen formulieren — und ob sie das tatsächlich tun, wird wiederum von den gesellschaftlichen Umständen abhängen. Also klar, wenn eine gnädige Natur oder eine allmächtig-liebenswürdige KI dafür sorgt, dass alle all ihre Wünsche erfüllt bekommen, wird sicherlich niemand auf die Idee kommen, anderen Bedingungen zu stellen — man hat ja eh schon alles.
Aber solange dem nicht so ist, ist die Erwartung einer Gegengabe ja nicht von außen aufgezwungen, sondern kann durchaus naheliegend oder sogar notwendig sein. Vermutlich würde es kein Commonsprojekt, dass nicht bloß frei kopierbare Immaterialgüter herstellt, überleben, wenn sich die Mitgliederzahl auf einen Schlag verdoppelt, alle Neumitglieder aber nur nehmen und nichts geben/beitragen wollen. Die Altmitglieder würden in solch einer Situation mit Sicherheit auf einer faireren Lastenaufteilung bestehen — nicht weil sie irgendein feindliches Umfeld dazu zwingt, sondern weil sie den nötigen Zusatzaufwand alleine nicht gar nicht stemmen könnten oder auf Dauer jedenfalls keine Lust drauf hätten.
Auch du würdest ja wahrscheinlich zustimmen, dass selbstgesetzte Regelungen für jedes selbstorganisierte Projekt essenziell sind, und zwar aus seiner inneren Logik heraus, nicht nur weil ein feindliches kapitalistisches Umfeld das Projekt dazu zwingt. Warum sollte nun aber gerade für den speziellen Regelbereich der Entnahmerechte und Beitragspflichten das Gegenteil gelten?
@Stefan:
„Auf welche Quelle beziehst du dich?“
Vor allem auf Antje, die sich ausführlich mit der Geschichte der ersten Internationale auseinandergesetzt hat und da ihre Diss drüber geschrieben hat.
@Christian#7:
Nein. Wie ich ausführte, können wir Naturbedingungen nicht aufheben. Ja, sofern es sich auf sozial gesetzte (ggf. auch Struktur gewordene) Bedingungen bezieht.
Am Rande: Mit den Worten hadere ich noch. Versteht man „Bedingungen“ als „neutrale Voraussetzungen“, dann gibt es keine bedingungsfreien Handlungen, denn jede Handlung hat Voraussetzungen. Versteht man „Bedingungen“ als „bedingungsgekoppelte Handlungen“(„Nur wenn A, dann auch B“), dann werden diese Handlungen zum Zwang. Beispiel: Nur wenn du Geld ran schaffst, dann kannst du auch deine Existenz sichern.
Jein. Wegen der fetischistischen Verkehrung liegt es eben nicht nur an den Menschen, sondern der feudale Sozialzwang ist kapitalistischer Sachzwang geworden.
Wenn etwas naheliegend oder notwendig ist, dann drückst du genau das aus, was ich mit der fetischistischen Verkehrung sagen will: Die Bedingungen legen A dir nahe und manchmal nicht nur das, sondern manchmal ist A notwendig, weil sonst B nicht kommt. Anders gesagt: Es gibt gute Gründe, den Nahelegungen zu folgen, weil es funktional ist. So läuft eben der Laden. Eine kritische Analyse besteht darin, zu erkennen, dass das die moderne Form ist, in der Zwang auftritt, eben nicht mehr personal-unmittelbar, sondern strukturell-vermittelt.
Richtig. Aber ich verweise hier auf die Diskursunterscheidung. Dein Beispiel ist Trafodiskurs. Falsch wird es im Utopiediskurs. Warum? Weil die Bedingtheit der Handlungen im Commonismus nur auf gesellschaftlicher Ebene gilt: Nur dort müssen sich Geben und Nehmen ausgleichen. Ist meine These, sonst kein Commonismus.
Richtig, ist aber auch Trafodiskurs. Siehe mein Argument zuvor.
@Stefan:
Ach, das kann jetzt nicht dein Ernst sein, oder? Kannst du nicht wenigstens mal ein paar Tage lang deiner eigenen Definition treu bleiben? Oben (Nr. 5) hattest du geschrieben:
Das ist doch sehr klar und natürlich beziehe ich mich darauf, wenn ich den Begriff hier aufgreife. Ich hab das schon kapiert, dass es hier nicht um Naturbedingungen geht, und im Übrigen ja auch nicht um alle von Menschen gestellten Bedingungen, sondern um die ganz spezielle Einforderung einer Gegengabe. Also auch die Veröffentlichung von Software o.ä. unter Copyleft (Bedingung: Gib Weiterentwicklungen ebenfalls per Copyleft frei, wenn du sie veröffentlichst!) ist „bedingungsfrei“ gemäß deiner Definition, da hier zwar eine Bedingung gestellt, aber keine Gegengabe eingefordert (oder erwartet) wird.
Ob diese Definition terminologisch so ideal ist, darüber kann man streiten, aber ich finde sie erstmal OK, weil „Bedingungsfrei(heit)“ ein Fachbegriff ist (anders als „Freiheit“, wo jede_r schon Alltagsvorstellungen hat) und weil es mit dem „Bedingungslosen Grundeinkommen“ (BGE) ja auch schon einen bekannten Anwendungsfall gibt, wo Bedingungslosigkeit/-freiheit im Sinne des Verzichts auf eine spezielle Gegenleistung verwendet wird.
Seltsam finde ich es allerdings, dass du, kaum dass du diese Definition ins Spiel gebraucht, sie sofort wieder fallen lässt und stattdessen von „Naturbedingungen“ und „hadern mit Worten“ sprichst. Ja was denn nun??
„So will ich es eben, sonst ist es nicht meine Utopie.“ Kann man ja sagen, aber was ist damit gewonnen oder begründet? Mir scheint: nichts! Wir sind uns ja einig, dass sich Geben und Nehmen (auch noch in jeder nur denkbaren Utopie) auf gesellschaftlicher Ebene, also im Großen, ausgleichen müssen. Das Spannende an der Utopie könnte nun sein, zu beschreiben, wie im Kleinen dafür gesorgt wird, dass es im Großen aufgeht. Dem verweigerst du dich aber, stattdessen läuft es bei dir auf ein „Wenn es im Großen aufgeht, können im Kleinen alle tun, was sie wollen, aufgehen tut es ja (qua Voraussetzung) trotzdem“ hinaus. Weil du da vorne schon reingesteckt hast, was du hinten wieder rausholst („sonst ist’s halt kein Commonismus!“), ist das nur leider keinerlei irgendwie begründete und ausgeführte Utopie, sondern eine inhaltsleere Hoffnung auf „alles wird gut (wir wissen nur noch nicht wie)“.
@Christian: Ich verstehe nicht, was du mir sagen willst. Wenn du Differenzierungen als Widersprüche siehst, fällt mir dazu nichts mehr ein. Ebenso, wenn du mir ein fragendes Hadern nicht zugestehen willst und von mir offensichtlich eindeutige, widerspruchsfreie, immer währende Wahrheiten erwartest. Ebenso, wenn du nicht eine gewisse Anstrengung des Mitdenkens aufbringen willst, wenn dir die groben Züge zwar widerspruchsfrei, nun aber tautologisch erscheinen.
Ähm … ich muss auch gestehen Christian, dass ich deine Begriffskritik nicht verstehe. Wie du selbst schreibst bezieht sich Stefans „bedingungsfrei“ auf soziale Tatsachen, und das in allen Kommentaren … Welchen Begriffs-Widerspruch wirfst du Stefan denn vor?
Zu2: Stefan sagt doch nur, dass er dein Bsp. eines Commons, dass mehr Mitglieder erhält und darum Probleme bekommt wenn alle nur nehmen erkennt als ein Problem in der Überwindung, in der Transformation. Also einem Commons im Kapitalismus. Wenn dieses Commons jedoch in einer commonistischen Gesellschaft existiert, stellt sich das Problem, dass mehr Menschen Produkte von einem bestimmten Commons haben wollen nochmal ganz anders … Stefan will damit nicht einfach iwelche Probleme wegdiskutierten, sondern sagt, dass sich das Problem fundamental verändert ob es in der Transformation auftritt oder in der Utopie. Und der Versuch unserer Utopie ist ja auch ihr funktionieren darzustellen … Vl magst du nochmal versuchen dein Commons-Bsp. und das auftretende Problem im Utopiediskurs und damit bei einer entfalteten Commons-Gesellschaft zu reformulieren?
lg
@Simon (und Stefan):
Nein, eben nicht in allen — in #9 kommt er stattdessen plötzlich mit „Naturbedingungen“, obwohl doch klar gewesen sein dürfte, dass sich meine Frage nicht auf diese bezog. Das wirkte für mich wie ein Versuch des „Derailing“ — ein Versuch, die Diskussion vom Kurs abzubringen, indem man Fragen bewusst fehlinterpretiert. Deshalb meine relativ scharfe Antwort. Falls es nicht so gemeint gewesen sein sollte, sorry dafür!
Es stellt sich eventuell anders, aber es stellt sich – du erkennst das immerhin an. Damit hast du meine Frage freilich noch nicht beantwortet, aber das ist schon mal ermutigender als Stefans bloßes Abwimmeln („falsches Beispiel!“). Mein Problem mit Stefans Diskussionsführung: Er weigert sich einfach, inhaltlich zu diskutieren. Zu sagen: „Sollte sowas im Commonismus passieren, werden die Leute damit auf folgende Weise umgehen …“ (+ inhaltliche Details hier anhängen) oder auch „Im Commonismus wird sowas gar nicht erst passieren, weil …“ (+ inhaltliche Details hier anhängen), wären konstruktive Möglichkeiten, die Debatte voranzubringen. Dafür bräuchte es aber entsprechende Inhalte, die ich bislang weder von Stefan noch von dir gehört habe.
Stattdessen lässt sich Stefans Argumentation aus #9 zusammenfassen als: „Dieses Problem wird im Commonismus einfach deshalb nicht auftreten, weil, wenn es auftreten würde, es kein Commonismus wäre“. Das ist nur leider überhaupt kein Argument, sondern eben eine bloße Tautologie und ein Wegwünschen von inhaltlichen Fragestellungen, denen man sich ansonsten stellen müsste.
Wenn ihr wollt, dass man euch ernst nimmt, dann könnt ihr so nicht weitermachen, sondern müsst euch stattdessen inhaltlich auf kritische Nachfragen und Einwände einlassen. Und das gilt nicht nur für mein kleines Beispiel, sondern ganz generell. So gab es auf meine kritische Auseinandersetzung mit dem Potenzial von Stigmergie und freiwilliger Selbstauswahl von Stefan gar keine Antwort, von dir nur das Zugeständnis, dass damit „noch nicht alle Fragen einer commonistischen Vermittlung beantwortet“ sind. Womit aber die eigentlich inhaltliche Frage, wie denn sonst die commonistische Vermittlung geregelt werden könnte, noch offen bleibt.
Und auch eure Vorstellungen zum Thema Konflikte sind extrem unterkomplex und scheinen im Wesentlichen auf ein „Da müssen die Betroffenen halt so lange miteinander reden, bis sie sich geeinigt haben“ hinauszulaufen. Zu naheliegenden Folgefragen wie etwa „Und was, wenn die Situation so festgefahren ist, dass sie sich nicht einigen können?“ (wofür ja schon eine starrsinnige Person ausreichen kann) schweigt ihr euch aus. Um inhaltlich voranzukommen, müssten ihr euch aber mit den schwierigen Fragen inhaltlich auseinandersetzen statt nur ein Schönwetter-Szenario zu skizzieren und alle denkbaren Probleme mit „dafür werden sich dann schon Lösungen finden“ abzuwimmeln.
Wie schwer das mit den Konflikten ist, wo es „nur“ um Gedanken geht, sehen wir ja hier 🙁