Industrial Leaking ist gefordert

Im vergangenen Jahr ist das Leaking, das Herausschleusen mehr oder weniger geheimgehaltener Informationen, in den Fokus der medialen Öffentlichkeit vorgedrungen. Das politische Leaking ist in Mode gekommen, Plattformen schießen wie Pilze aus dem Boden. Ob es sich dabei um vertrauenswürdige Angebote handelt oder diese Sammelstellen für Geheimnisse als Fallen von Geheimdiensten, Regierungen oder privaten Akteuren installiert wurden, ist nicht überprüfbar. Nicht nur deshalb plädiere ich dafür, den Geheimnisverrat in die eigenen Hände zu nehmen. Wie gezeigt wird kann jeder einen kleinen Beitrag für mehr Transparenz leisten.

Die Verbreiter und Konsumenten geheimen Wissens sind häufig und seit vielen Jahren auf gemeinschaftliche, P2P-basierte, Veröffentlichungswege angewiesen, die für ihre Zwecke auch viel effizienter als WikiLeaks & Co funktionieren. Zum geheimen Wissen zähle ich alle Informationen, die nur in künstlich eingeschränkter Weise zugänglich sind. Die Beschränkung kann z.B. durch Autorisierung, durch Gesetze oder durch die Warenform der Information gegeben sein, wo das Geld die trennende Schranke ist. Die veröffentlichten Botschaftsdepeschen waren durch die ausschließliche Autorisierung von ca. 2 Millionen US-Bürgern allen anderen Menschen nicht zugänglich. In einem Überbau aus Gesetzen ist das ebenso geregelt wie die Einhegung von Informationen, die durchaus für eine Verbreitung – nämlich auf Märkten gegen Geld – bestimmt sind. Die meisten publizierten Informationen werden unter dem Regime des Copyrights, des Urheberrechts und von Leistungsschutzrechten zur Ware erklärt. Sie müssen erworben werden und dürfen nur unter besonderen Bedingungen und in begrenztem Umfang weitergegeben werden. Man besitzt also die erworbene Information nicht vollständig, sondern erkauft sich das Recht auf private Nutzung mit speziellen Pflichten, die einem Informationsanbieter und Staaten auferlegen. Im Kampf gegen diese totale Unterwerfung aller Information unter die Warenform haben sich dank Internet im letzten Jahrzehnt lose, auf Freiwilligkeit setzende, „Widerstandsbewegungen“ gebildet, die zuversichtlich stimmen. Jeder Internetnutzer kann sich an ihnen beteiligen, und sei es nur, indem er gelegentlich eine P2P-Software benutzt. Diese Bewegungen sind zwar derzeit noch so unbedeutend, dass sie die kapitalistische Informationsproduktion nicht ankratzen – P2P-Tausch scheint das Geschäft eher anzukurbeln –, eröffnen jedoch eine Perspektive für eine Zukunft, in der Information tauschwertfrei ist. So werden etwa heute schon Hunderttausende Bücher (darunter auch für eine künftige Peerproduktion wertvolle wissenschaftliche und Fachliteratur) in Foren und Linkplattformen kostenlos angeboten und Filme, Musik und Software lassen sich i. Allg. frühestens kurz vor oder nach Veröffentlichung „saugen“.

Doch eine Gattung des Geheimwissens findet noch immer zu wenig Beachtung und ist weitgehend unzugänglich: Industrielle Geheimnisse. Von ihrer Existenz erfährt man bestenfalls durch Skandale und Unglücksfälle, meistens jedoch nicht, etwa wenn das Desaster allgegenwärtig ist und seine Schäden breit gestreut sind wie im Fall der kapitalistischen „Nahrungsmittel“-Produktion. Viele Katastrophen hätten verhindert werden können, wäre das industrielle Wissen nicht geheim gewesen. Zum industriellen Geheimwissen gehören u.a. Produktionsverfahren, die Zusammensetzung von Stoffen aller Art, der Quellcode vieler Programme und die Geldströme des Kapitals. Für eine moderne Industrie, die in Peerproduktion von den Produzenten verwaltet wird, ist eine lückenlose Transparenz aller Produktionsvorgänge eine notwendige Vorbedingung. Heute, unter kapitalistischer Produktion, ist die industrielle Geheimhaltung eine Gefahr für Leib und Leben von Produzenten und Konsumenten. Daher sollte der Verrat dieser Geheimnisse schon heute die verantwortungsvolle Pflicht aller sein, die Kenntnis von ihnen haben.

Ich möchte ein Industrial Leaking anregen, an dem sich jeder Arbeiter in jeder Position beteiligen kann. Ein Arbeiter an der passenden Position im Einzelhandel kann beispielsweise die Buchführung seines Betriebs mit einfachen technischen Mitteln wie Handykamera und USB-Stick offenlegen. Gewiss wird sich die breite, öffentliche, Diskussion brisanteren Informationen zuzuwenden haben. Arbeiter in chemischen Betrieben und in der Nahrungsmittelindustrie haben die Gelegenheit, Informationen zu sammeln, die für die Gesundheit und Sicherheit der Verbraucher unentbehrlich sind: Woraus wird unser Essen hergestellt? Welche Giftstoffe setzt welche Fabrik den Materialien und Substanzen, mit denen wir uns umgeben, zu? Wieviele Tote sind bei riskanten Verfahren und Produkten um des Profits willen einkalkuliert? Wie werden forschungsintensive technische Produkte hergestellt? Mit welchen Methoden gelingen kunstvolle und erlesene Güter? Projekte der Peerproduktion könnten sich in Zukunft solche Betriebsgeheimnisse zunutze machen. Eine unvorstellbar große Produktivität würde freigesetzt und unzählige Arbeitsstunden würden überflüssig, wenn nicht wie heute Betriebe nebeneinander ohne Wissenstransfer forschen, sondern Projekte ihr Wissen frei beziehen und frei zugänglich machen. Bisher ist der Nutzen der Industriespionage eher zweifelhaft. Konkurrenten produzieren qualitativ minderwertige Produkte ohne eine Lizenz zu erwerben. Die Produzenten und Konsumenten haben immer noch keinen Einblick in das Wissen des Kapitals, um damit selbst für ihre Bedürfnisse produzieren zu können. Frei zugängliches Unternehmerwissen liegt im Gesamtinteresse der Arbeiterklasse heute und der sich etablierenden Peerproduzenten. Freies industrielles Wissen ist geeignet, rechtliche und ökonomische Umwälzungen zu flankieren, indem es eine weitere Gattung des Geistigen Eigentums praktisch unterminiert.

Anzustreben wäre, dass in der organisierten Arbeiterschaft, vielleicht innerhalb revolutionärer Gewerkschaften, ein Bewusstsein keime, dass der gesellschaftliche Nutzen veröffentlichter Betriebsgeheimnisse den möglichen Schaden für einzelne Arbeiter, die idealistisch am Lohnsystem festhalten, überwiegt. Eine Leaking-Kultur, die alles produktionsrelevante Wissen veröffentlicht, das nicht „niet- und nagelfest“ ist, muss den Arbeitenden zur zweiten Natur werden. Der Respekt vor Geheimwissen, das schließlich auch Herrschaftswissen ist, muss einem Ethos der ubiquitären Transparenz weichen.

Weil für ein Industrial Leaking bisher keine Plattform zur Verfügung steht und auch sonst das Vertrauen in diese Seiten nicht gerechtfertigt ist, sind die Produzenten bei der Veröffentlichung auf sich allein gestellt. Zunächst muss beachtet werden, dass alle Hinweise auf die Identität des Herausgebers einer Information entfernt werden. Das Material soll keine Schlüsse auf einzelne Personen zulassen, die es veröffentlicht haben könnten. Die Dateien müssen von digitalen Spuren, wie Metadaten und Wasserzeichen, gereinigt werden. Das Material sollte im Schutz eines anonymisierenden Netzwerks veröffentlicht werden. Dazu bietet sich das Tor-Netzwerk an. Die Daten können anonym ins öffentliche Web hochgeladen werden. Mangels etablierter Anlaufstellen könnten ad hoc Blogs und Foren für die Präsentation und Diskussion des Materials eingerichtet werden. Brisante Informationen über skandalöse Missstände – mithin den Regelfall der kapitalistischen Produktionsweise, die gemessen am Möglichen ein einziger großer Missstand ist – kann man auch Interessenorganisationen und geeigneten Presseorganen zuspielen, falls weniger auf die zeitnahe Veröffentlichung als auf die effektvolle Aufarbeitung Wert gelegt wird. Ob die Presse demnächst, wie angekündigt, entsprechende Angebote schafft, bleibt abzuwarten. Im Mittelpunkt sollte die selbstorganisierte Publikation aller verfügbaren Informationen stehen, die langfristig eine Demokratisierung der Produktion, die schrittweise Enteignung des Kapitals und den allmählichen Übergang in eine allgemeine Peerproduktion begleiten könnte. Ziel sollte nicht der einzelne Skandal sein, sondern die informierte Planung der gesamten Produktion durch die gesamte Gesellschaft.

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