Die Keimformtheorie ist tot! Es lebe die Keimformtheorie!

Elementarformen

Nachdem ich etwas holprig bestimmt habe, was Elementarformen sind und welche es bisher in der Menschheitsgeschichte gab und nachdem ich erste Eigenschaften bestimmt habe, die die Elementarform des Kommunismus haben muss, möchte ich jetzt das Thema noch weiter vertiefen und mich dabei auch etwas genauer mit dem Begriff der Keimform auseinandersetzen. Die Diskussion wurde in der Vergangenheit etwas erschwert dadurch, dass es hier in unseren Kreisen zwei Verwendungen des Begriffs gibt. Die erste, die im Untertitel unseres Blogs allgemein beschrieben wird als „Das Neue im Alten“ ist sehr unbestimmt und bezeichnet eigentlich mehr oder weniger alle Ansätze im Hier und Heute, in denen wir Potential sehen für eine Neue emanzipatorische Gesellschaft. Neben dieser Verwendung gibt es noch eine speziellere, wie sie vor allem von Stefan, Simon und anderen in der ungeliebten Nachfolge von Robert Kurz  verwendet wird. Sie meinen mit „Keimform“ die Vorläufer der Elementarform der Neuen Gesellschaft in der Alten. Ohne die erste allgemeinere Verwendung des Wortes ausschließen zu wollen, beziehe ich mich im Folgenden auf die zweite, engere Verwendung des Begriffes, weil nur in diesem Sinne von einer „Keimformtheorie“ gesprochen werden kann und weil ich denke, dass ich, nachdem ich etwas präziser verstanden habe als bisher, was die Elementarform einer Gesellschaft ausmacht, ich nun auch etwas präziser bestimmen kann, was die Keimform einer neuen Gesellschaft in diesem engeren Sinn auszeichnen müsste.

  1. Da die bestimmende Eigenschaft von Elementarformen ist, die Kohärenz einer Gesellschaft herzustellen, kann es nicht mehrere Elementarformen gleichzeitig geben, da eine Gesellschaft nicht auf mehrere Arten kohärent sein kann. Es kann nur eine Elementarform geben.
  2. Daraus folgt unmittelbar, dass es zu jeder Bewegung von einer Elementarform zu einer anderen auch nur eine Keimform (ge)geben (haben) kann. Es mag mehrere verschiedene Formen gegeben haben, die von der alten Elementarform abgewichen sind, aber nur eine davon konnte sich in einer Richtung zur neuen Elementarform entwickeln. Es kann aber durchaus unterschiedliche Keimformen geben, die sich in unterschiedliche Richtung in der Elementarform-Matrix entwickeln. Vom den agrargesellschaftlichen Imperien aus betrachtet sind also sowohl Warenproduktion als auch Care und Commons Keimformen.
  3. Wir haben gesehen, dass schon die Veränderung eines Parameters in der Matrix ein extrem seltenes und schwieriges Ereignis ist. Dass sich beide Parameter gleichzeitig ändern, können wir also als nahezu unmöglich ausschließen. Mit anderen Worten: Es gibt keine Keimformen, die zu einer diagonalen Bewegung in der Matrix führen. Das bedeutet also, der direkte Weg von einer imperial organisierten Gesellschaft zum Kommunismus ist ausgeschlossen. Ebenso ausgeschlossen ist aber auch der direkte Weg vom Kapitalismus zu einer auf Commons und Care und interpersonaler Vermittlung basierenden Gesellschaft.
  4. Aus der Geometrie der Matrix und des Ausschlusses der diagonalen Bewegung folgt also direkt, dass es in jeder Elementarform genau zwei Keimformen gibt. Für uns heute ist das die Keimform des Kommunismus und die der Imperien.
  5. In allen bisherigen Epochenschritten gab es nur eine Richtung nach vorne oder zurück. Die Geschichte erschien also als linear (nicht im Sinne von nur vorwärts verlaufend, aber im Sinne von nur vorwärts oder zurück verlaufend), obwohl sie schon immer zweidimensional angelegt war. Es wäre eine alternative Geschichte denkbar gewesen, die direkt von den frühen Agrargesellschaften und ihrem Urkommunismus zum Kommunismus verlaufen wäre. Doch als sich der Weg zu den Imperien einmal verfestigt hatte, war der direkte Weg zum Kommunismus bis auf weiteres versperrt.
  6. Neben diesen existieren aber natürlich auch Commons und Care als potentielle Elementarform weiter. Im Kapitalismus gibt es also zum ersten Mal in der Geschichte eine Form, die weder Keim- noch Elementarform ist sondern sozusagen Keimform im Wartestand oder Keimform zweiter Ordnung.
  7. Ebenso zum ersten Mal in der Geschichte sind wir im Kapitalismus in einer Situation in der diese Keimform zweiter Ordnung in zwei Richtungen wirken kann. Sie kann sich also mit der Keimform der Imperien verbünden oder mit der Keimform des Kommunismus, je nachdem ob ihr interpersonaler oder ihr kollektiver Aspekt in den Vordergrund gerückt wird. Commons und Care sind also zwar nicht selber Keimformen aber können in der Krise der kapitalistischen Elementarform sozusagen als Zünglein an der Waage entscheiden, in welche Richtung sich die Geschichte bewegt. Für uns arbeitet dabei ihr kollektiver Aspekt, ihr interpersonaler gegen uns.
  8. Tatsächlich lässt sich genau diese Bewegung immer wieder in Krisen des Kapitalismus beobachten. Diese mögliche Verbindung von Commons und Imperium habe ich schon früh eher intuitiv als die dunkle Seite der Commons benannt. Eine Form die das annehmen kann ist der Faschismus und seine Volksgemeinschaft, religiöser Fanatismus und seine Gemeinschaft der Gläubigen ist eine andere.
  9. Da Gesellschaften notwendig sehr vielfältige Gebilde sind, folgt aus der beschränkten Zahl von Keimformen, dass Elementar- sowie Keimformen Vielfalt ermöglichen müssen. Also innerhalb eines gemeinsamen Rahmens muss eine große Vielfalt an Erscheinungsformen möglich sein. Warenproduktion z.B. kann eine unendliche Vielfalt von Waren hervorbringen und nur so ist es möglich, dass die Gesellschaft unter dieser Elementarform geeinigt werden konnte. Hierarchie, Loyalität, Befehl und Gehorsam sagen nichts über den Inhalt der Befehle aus. Keimformen sowie Elementarformen sind also auf eine gewisse Weise neutral gegenüber ihrem Inhalt. Sie bleiben auf der interpersonalen Ebene der elementaren Handlungen neutral. Wichtig ist nicht die Person des Königs, sondern das Königtum: Der König ist tot, es lebe der König.
  10. Auf der transpersonalen Ebene bleiben Keim- und Elementarformen jedoch nicht neutral. Ihre Parteilichkeit zeigt sich durch die Aneignungsart der Elementarform: privat oder kollektiv.
  11. Materialisierung der Transpersonalität durch die Warenproduktion bedeutet auch, dass sich die Aneignung nun nicht mehr vor aller Augen offen vollzieht sondern, dass sie sich nun hinter dem Rücken der Akteure vollzieht. Während die Profiteure der Extraktion vorher klar sichtbar waren, weil der Wohlstand in der Kasse des Königs oder der Kirche landete, so ist das jetzt erst sichtbar, wenn man gedanklich die Extraktion des Mehrwerts nachvollzogen hat, wofür eine vergleichsweise hohe Abstraktion nötig ist. Die Materialisierung der Elementarform  erfordert also eine quasi entgegengesetzte Bewegung der Abstraktion der Kritik.
  12. Materialisierung der Transpersonalität meint eigentlich also Transpersonalisierung der Aneignung. Die private Aneignung erfolgte vorher mehr oder weniger direkt. Man wusste, wer einen beraubt. Heute kann ich mir tendenziell aussuchen, wer mich ausbeutet, aber dass ich ausgebeutet werde, das kann ich im Normalfall nicht wählen. Die Extraktion des Mehrwerts findet nicht mehr interpersonal statt, erst durch die transpersonalen Kräfte des Marktes und der Konkurrenz wird gewährleistet, dass auch weiterhin eine private Aneignung statt findet.
  13. Da das Element der Materialisierung der Transpersonalität vom Kapitalismus in der Elementarform des Kommunismus erhalten bleibt, muss also auch die Elementarform des Kommunismus so gestaltet sein, dass sich die dann kollektive Aneignung hinter dem Rücken der Akteure vollzieht. Der Kommunismus kann also nicht die vollständig bewusste Gestaltung der Lebensweise sein. Das könnte man nur erreichen, wenn alle Menschen die hohe Abstraktion aufbringen um die Elementarform und ihre Folgen zu verstehen. Davon ist auch bei sicherlich erhöhtem Bildungsniveau nicht auszugehen. Und selbst wenn es so wäre: Auch heute ändert ja unser Verständnis der Funktionsweise des Kapitalismus nichts daran, dass wir in ihn eingebunden sind und nicht in jedem einzelnen Moment die gesamte Ungeheuerlichkeit seines Funktionierens reflektieren. So wie heute viele Menschen fälschlicherweise denken, sie arbeiteten für sich und in Wirklichkeit für die Verwertung des Kapitals arbeiten, so werden im Kommunismus vermutlich viele alltäglich davon ausgehen, sie tun etwas für sich. Sie werden das auch tun, aber zusätzlich immer auch für alle anderen tätig sein. Die unsichtbare Hand des Marktes muss also durch eine unsichtbare Hand des Kommunismus ersetzt werden.
  14. In These 2 der 42 Thesen beschrieb ich die Geschichte als einen Evolutionsprozess, der wie alle Evolutionsprozesse durch Mutation und Selektion gekennzeichnet ist. Im Folgenden befasste ich mich dann aber vor allem mit den Selektionsprozessen. Wie aber verändern sich Gesellschaften überhaupt? Selbstverständlich sind Gesellschaften keine statischen, unveränderlichen Gebilde. Die allermeisten Veränderungen finden aber innerhalb der selben Elementarform statt. Die allermeisten Übernahmen einer neuen Elementarform passierten von außen und meistens sehr gewaltvoll. Zunächst durch die Errichtung von Imperien und später durch die europäische Nationenkonkurrenz und den schon früh kapitalistisch motivierten Kolonialismus. Und dennoch bleibt dann ja ein zu erklärender Rest, wie überhaupt eine neue Elementarform in die Welt kommen kann. Nur um diesen Rest rankt sich die Keimformtheorie.
  15. Das bedeutet aber auch, wir haben es hier mit sehr wenigen historischen Ereignissen zu tun, was die empirische Seite dieser Theorie sehr erschwert. Die imperiale Elementarform entstand vermutlich an mehreren Orten relativ unabhängig voneinander, aber alle diese Ereignisse sind schon sehr lang her und entsprechend dünn ist die Quellenlage. Die kapitalistische Elementarform lässt sich einerseits besser untersuchen, weil sie vor gar nicht so langer Zeit entstand, aber dafür passierte das auch nur genau einmal in England. Zusätzlich wird die Situation auch dadurch erschwert, dass sich so etwas wie eine Veränderung der Elementarform viel schwieriger aus den Quellen ablesen lässt als eine Veränderung innerhalb der Elementarform (wie z.B. die Einsetzung einer neuen Dynastie). Ohne ein Verständnis vom Kapitalismus und seiner historischen Besonderheit, entdeckt man sein Entstehen gar nicht oder überall z.B.
  16. Bei den ersten beiden Elemementarformwechseln gab es eine Vielzahl von konkurrierenden Gesellschaften, deswegen war es damals möglich, dass eine mehr oder weniger zufällige Veränderung innerhalb einer Elementarform zu einer neuen führen konnte. Wahrscheinlich ist das sogar oft passiert, nur sind die meisten dieser Gesellschaften dann unter- oder in anderen aufgegangen, weil die neue Elementarform nicht konkurrenzfähig war. Nur die imperiale und die kapitalistische Elementarform haben sich als überlegen herausgestellt in dem Sinn, dass sie mehr menschliche Tätigkeit bündeln konnten als die vorherigen Elementarformen (in diesem Sinne ist übrigens jeder bisherige Elementarformwechsel eine Form des auskooperierens). Heute gibt es aber nur noch die eine Weltgesellschaft. Dass heute ein solcher Prozess zufällig startet ist also sehr viel unwahrscheinlicher. Vermutlich würde es sogar irgendwann passieren, sollte es dem Kapitalismus gelingen mehrere tausend Jahre stabil zu sein. So lange wollen wir aber nicht warten, deswegen muss die neue Elementarform diesmal als nicht kontingenter Prozess ins Leben gerufen werden. Es kann also nicht mehr nur um einen Evolutionsprozess von zufälliger Mutation und Selektion gehen, weil die Mutation stark verlangsamt wurde und die Selektion weg fällt (bzw. in das innere des Systems verlagert wurde und damit als Quelle für neue Elementarformen weg fällt).
  17. Nicht kontingente gesellschaftliche Prozesse gibt es in zwei Varianten. In der ersten unbewussten, tendenziell deterministischen Variante, gibt es materielle Kräfte innerhalb einer Gesellschaft, die auf deren Veränderung drängen. Der stetige Zwang des Kapitalismus zur Innovation fällt z.B. in diese Kategorie. Der klassische Marxismus hat diese Variante immer sehr stark gemacht. Nach dieser Vorstellung führen die inneren Widersprüche des Kapitalismus zu seiner eigenen Abschaffung. Der Innovationszwang führt zur Einsparung von Arbeitskraft, die aber die eigentliche Quelle der Aneignung im Kapitalismus ist, wodurch er sich seiner eigenen Grundlage entzieht. In ihrer moderneren Form findet man diese Vorstellungen z.B. bei Krisis.
  18. Eine weitere Möglichkeit für einen nicht kontingenten gesellschaftlichen Prozess ist ein bewusster, tendenziell volontaristischer Prozess. Menschen tun sich zusammen, weil sie die Verhältnisse bewusst überwinden wollen.
  19. Beide Varianten alleine haben vielfältige Probleme, die ich jetzt hier nicht ausführen möchte. Dazu gibt es eine jahrzehntelange Debatte, die auch hier im Blog schon stattfand. Ich denke man kann inzwischen festhalten, dass diese Debatte zwar wichtig ist, aber keine der beiden Seiten sich wirklich durchsetzen kann und sie kaum praktische Relevanz entwickelt hat. Für die Entwicklung einer kommunistischen Elementarform scheint sie eine Sackgasse zu sein.
  20. Nach der Keimformtheorie in ihrer klassischen Gestalt führt ein (eher) deterministischer Prozess den Kapitalismus in eine Krise, während der bewusste Prozess darin besteht durch Theoriearbeit die Keimform zu identifizieren und diese dann zu fördern, so dass sie im Moment oder auch im längeren Prozess der Krise den Laden übernehmen kann. Diesen grundsätzlichen Ansatz verfolge ich hier weiter auch wenn vermutlich andere Konfigurationen von Determinismus und Volontarismus die generelle Argumentation verhältnismäßig unberührt lassen.
  21. Als Keimform identifizierten wir damals die Commons Based Peer Production (CBPP). CBPP ist allerdings fast rein auf der interpersonalen Ebene angesiedelt. Deswegen kommt es meiner Meinung nach nicht mehr als Keimform in Frage. Die bisherige Vorstellung war, dass sich durch die Krise die Keimform so stark wandelt, dass sie von der interpersonalen auf die transpersonale Ebene springt („Dominanzwechsel„).
  22. Damit einher ging oft bewusst oder unbewusst eine falsche Vorstellung von der Entstehung des Kapitalismus, die ich mit Wood und Brenner heute als „Kommerzialisierungstheorie“ kritisieren würde, also eine Vorstellung, dass der Kapitalismus einfach aus einem „mehr“ an Marktwirtschaft und Handel entstanden sei. Und deshalb erschien es plausibel dass auch der Kommunismus einfach aus einem mehr von Commons entstehen könnte. So ließ sich dann eine Parallele behaupten wo keine war. Die Keimformen des Kapitalismus waren dann also der Fernhandel und die Städte. Dem Widerspruch dass es diese Jahrtausende lang gab, aber keinen Kapitalismus, haben wir uns nie so wirklich gestellt.
  23. Die Keimform des Kapitalismus, entsteht also erst im England in der frühen Neuzeit als Agrarkapitalismus.
  24. Analog sind die Formen, die wir bisher als Keimformen identifiziert haben (Freie Software, Commons, CBPP, …) also keine Keimformen! Das bedeutet aber nicht, dass sie für eine Transformation zum Kommunismus unwichtig sind. Auch Handel und städtisches Bürgertum hatten eine wichtige Rolle bei der Transformation des Agrarkapitalismus zum Industriekapitalismus und erst dieser war dann in der Lage die alten Formen auszukooperieren (durch Entfesselung der Konkurrenz in diesem Fall).
  25. Auch die empirische Seite spricht, fast zwanzig Jahre nachdem wir zum ersten Mal diese Ideen besprochen haben, wie ich finde eine sehr deutliche Sprache. Wir hatten die Vorstellung, dass sich die „Produktionsweise Freier Software“, wie wir es damals genannt haben, in immer mehr Bereiche ausweitet weil sie effektiver ist als die Warenproduktion. Tatsächlich ist das in einem gewissen Sinn auch geschehen. Aber es haben sich zum einen auch klare Grenzen dieses Prozesses gezeigt (und auch bei weitem nicht nur in der im engeren Sinne materiellen Produktion). Zum anderen hat sich ein weiteres mal die Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus gezeigt: Das immaterielle Eigentumsregime wurde angepasst und verschärft und ein neuer Plattformkapitalismus ist entstanden, für den Freie Software keine Bedrohung sondern die Luft zum Atmen ist. Die neuen Plattformen (Google, Facebook, Amazon, Microsoft, …) haben gelernt Freie Software so zu integrieren, dass sie ihnen nicht bedrohlich werden können und sind gleichzeitig durch Netzwerkeffekte quasi unangreifbar geworden. Gleichzeitig gibt es selbst im Kernbereich, also Software, sozusagen dort wo das Heimspiel der CBPP stattfinden sollte, noch immer große Bereiche, die sich weit entfernt davon zeigen, von den Commons bedroht zu sein (zB Branchensoftware, Computerspiele, …). In diesen Grenzen der einst erhofften Ausweitung spiegelt sich die eingeschränkte Möglichkeit durch die interpersonale Beschränkung von Commons und Care.
  26. Tatsächlich hat sich die Krise des Kapitalismus in den selben zwanzig Jahren aber weiter verschärft. Neue faschistische oder protofaschistische Bewegungen haben Zulauf, das Klima wurde nicht gerettet trotz vieler schöner Worte usw. ihr kennt die ganze Leier.
  27. Wenn wir uns auch weiter auf die Suche nach der Keimform des Kommunismus begeben wollen (und angesichts der verschärften Krise ist das meiner Ansicht nach tatsächlich alternativlos) müssen wir Ausschau halten nach Akteuren, Phänomenen und Ereignissen, die die Kollektivität der Commons mit der Transpersonalität des Kapitalismus verbinden.
  28. Vielleicht noch wichtiger ist aber, dass wir um jeden Preis verhindern müssen, dass die alte imperiale Elementarform durch ein Bündnis der interpersonalen Commons mit der privaten Aneignung wieder stärker wird, denn dann ist der Weg zum Kommunismus bis auf weiteres versperrt.
  29. Das hat einige ganz konkrete politische Implikationen: Ja, die EU ist in ihrer jetzigen Gestalt ein neoliberaler Sauhaufen, der über Leichen geht, dennoch ist sie zu verteidigen gegen die neuen Nationalisten. Ja, TTIP ist schlimm für Arbeitnehmerrechte und die Umwelt, dennoch ist das schlimme am Welthandel weder dass er Handel ist (Zur Erinnerung: Kommerzialisierungstheorie vermeiden!), noch dass er weltweit stattfindet, denn die Kooperation aller Menschen ist unser Ziel!) und für Welthandel braucht man bis auf weiteres Handelsabkommen. Überall wo der Kapitalismus Grenzen einreißt, weil sie seine transpersonale Logik behindern, sollten wir mit helfen. Überall wo er Grenzen errichtet, um sein Aneignungs- und Eigentumsregime durchzusetzen, bekämpfen wir sie.
  30. In der alten Keimformtheorie sprachen wir von „doppelter Funktionalität“, die die Keimform braucht. Sie muss einerseits das Neue schaffen, aber andererseits vom Alten gebraucht werden. Das kann ich jetzt neu als doppelte Keimform bezeichnen. Weil es sich nicht um eine Form mit zwei Funktionen sondern um zwei unterschiedliche Formen handelt: Die Keimform und die Keimform zweiter Ordnung.
  31. „Jenseits von Staat und Markt“ ist eine zu vereinfachende Formel. Sie passt für Commons und Care, weil diese sich tatsächlich auf der anderen Seite der Elementarformmatrix befinden. Staat und Markt sind die zentralen transpersonalen Institutionen des Kapitalismus. Zumindest für die eine der beiden Keimformen, brauchen wir sie also doch noch. Es geht auch nicht nur darum, dass wir „Dämme bauen, damit wir Schiffe bauen können“, wie das alte Bild für die Rolle von Umverteilungs-, Reform- oder Klassenkämpfen im Umfeld der klassischen Keimformtheorie war. Es geht um eine neue eigenständige Rolle von Staat und Markt.
  32. Das kann aber nicht bedeuten, dass wir einfach dazu zurück kehren den Staat als quasi neutrale Form zu übernehmen und nach unserem Willen zu Formen, wie das der traditionelle Sozialismus will. Der Staat ist nur da für uns wichtig, wo er enteignet. Umverteilung ist dabei nur die kleine Schwester der Enteignung und als solche auch schon mal nicht schlecht.
  33. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Der Kern jeden Staates ist die Gewalt und deswegen kann er keine Rolle im Kommunismus spielen. Im Staat lauert auch die alte imperiale Form immer auf ihre Chance. Der Staat ist entstanden als Imperium und er wurde in langen Kämpfen in seine heute in einigen Ländern transpersonalisierte Form als Rechtsstaat gezwungen. Deswegen kann es auch nicht unsere Strategie sein, den Staat mit den Commons zu vereinen. Das führt zurück zur imperialen Form.
  34. Auch den Markt können wir nicht einfach regulieren, wie es die Sozialdemokratie versucht hat. Im Gegenteil brauchen wir ja gerade die deregulierende, transpersonale, entgrenzende Funktion des Marktes.
  35. Die Kombination eines enteignenden Staates und eines entgrenzten Marktes ist nicht dazu gedacht zu stabilisieren. Sie ist dazu gedacht im Moment in dem die kapitalistische Keimform in die Krise gerät (also eigentlich immer, weil der Kapitalismus seine eigene Krise erzeugt), die richtige Richtung zu wählen. Kritiken, die darauf abzielen, dass das nicht „funktionieren“ können, verfehlen also den Punkt.
  36. Die Keimform des Kommunismus enthält also drei Komponenten: Die Kollektivität der Commons, die Enteignung durch den Staat und die Entgrenzung des Marktes.
  37. Ein politisches Projekt, dass diese Parameter erfüllt ist inzwischen ein Klassiker: Das Grundeinkommen. Wenn es hoch genug ist um nicht einfach nur eine Verschärfung des Neoliberalismus zu sein, enthält es eine Umverteilungskomponente. Gleichzeitig entgrenzt es den Markt, weil der klassische regulierende Sozialstaat aufgelöst wird. Deswegen feiern ja viele liberale das Grundeinkommen, weil es deren Fetisch vom „Unternehmertum“ bedient. Und schließlich ermächtigt es die Commons und ermöglicht Care, weil es Zeit schafft an ihnen zu arbeiten. Das ist jetzt aber nur als Beispiel zu sehen, in welche Richtung ich denke. Ich sage nicht, dass das Grundeinkommen die Elementarform des Kommunismus ist, ich sage nur, dass es zu meiner kategorialen Bestimmung passt. Es kann also möglicherweise dazu beitragen einen bereits destabilisierten Kapitalismus in die richtige Richtung zu schubsen.
  38. Ich denke mit dieser neuen kategorialen Bestimmung der Keimformen haben wir auch mehr Möglichkeiten in politische und gesellschaftliche Kämpfe in unserem Sinne zu intervenieren. Die alte Keimformtheorie hatte teilweise einen Hang zur Weltferne. Die Krise nimmt ihren Verlauf und wir bauen nebenher unsere neue schöne Halbinselwelt und hoffen einfach, dass wir schnell genug fertig sind. Tatsächlich entscheidet sich aber auch in den Kämpfen ums Klima, um Care, die Vielfalt der Geschlechter und Identitäten oder auch ganz klassisch um Lohn, Miete, Bildung, Freizeit oder Gesundheitsversorgung auch in ihren klassischen Arenen Staat und Markt in welche Richtung der Laden kippt.
  39. Die mehr oder weniger klassische Linke, die sich in all diesen Kämpfen bisher mal mehr mal weniger erfolgreich rumtreibt hat bisher auf die Commons- oder Keimformtheorien auf eine von zwei Arten reagiert: Entweder wurde die interpersonale Beschränktheit der Commons in den Vordergrund gestellt und damit der ganze Ansatz verdammt („Die Genossenschaftbewegung ist doch schon im 19. Jahrhundert gescheitert!“) oder umgekehrt wurden die Commons oder auch Care theoretisch so aufgebläht das man alle jeweiligen Lieblingsprojekte darunter fassen konnte („Rojava ist Commons!“, „Alle Wirtschaft ist Care!“). Mit meiner neuen Bestimmung hoffe ich klar machen zu können worin tatsächlich die Potentiale der uralten Prinzipien von Commons und Care liegen und was wir von heute nicht aufgeben dürfen, wenn wir eines Tages die Welt so einrichten wollen, dass alle Menschen kriegen, was sie brauchen.

Danke wieder an Franziska für ihre produktiven Missverständnisse und natürlich an Stefan und Simon, ohne deren Buchprojekt ich über all das nicht noch mal angefangen hätte so gründlich nachzudenken und natürlich alle anderen mit denen ich in all den Jahren hierüber nachdenken durfte.

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