Massimo de Angelis‘ „Omnia Sunt Communia“ – Eine Grundlegung der Commons

Auf der Suche nach Commons-Theoretiker*innen, die Commons im Zusammenhang mit sozialen Kämpfen diskutieren, stieß ich durch eine Empfehlung von Friederike auf Massimo De Angelis und sein Buch „Omnia Sunt Communia: On the Commons and the Transformation to Postcapitalism“ (die Erstausgabe erschien noch mit dem Untertitel „Principles for the Transition to Postcapitalism“). Annette hat es relativ zeitgleich mit mir auch gelesen und bereits eine ausführliche Besprechung in mehreren Teilen auf ihrem Blog veröffentlicht. Es ist schade, dass es bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde, denn das Buch bietet eine umfangreiche theoretische Bestimmung des Commons-Begriffs, die aus einer systemtheoretischen Perspektive stets auch das (kapitalistische) Umfeld heutiger Commons in den Blick nimmt sowie Commons im Kontext von Klassenkämpfen und sozialen Bewegungen diskutiert und damit einige interessante Anregungen für Transformationsstrategien liefert. Was leider zu kurz kommt, ist eine grundsätzlichere Kritik an Markt und Tauschlogik, deren Fehlen gemeinsam mit dem leider noch immer sehr üblichen Vermeiden utopischen Denkens dazu führt, dass De Angelis einigen Potentialen des Commonings, trotz sonstiger theoretischer Schärfe, nicht ganz gerecht wird. Dennoch lässt sich „Omnia Sunt Communia“ dank der oben genannten Punkte als eine Art „Grundlegung“ der Commons aus einer antikapitalistischen Perspektive bezeichnen.

Dass De Angelis diesen Anspruch auch durchaus verfolgt, wird durch die ersten beiden Sätze des ersten Kapitels deutlich, einer Reformulierung der ersten beiden Sätze von Marx‘ Kapital Band 1, die sich nun statt auf Ware und Kapitalismus auf Commons und Postkapitalismus beziehen:

„Der Reichtum der postkapitalistischen Gesellschaft, wie er sich am Horizont der vielen heterogenen Praktiken von Gemeinschaften, Vereinen, Peer-to-Peer-Netzwerken und sozialen Bewegungen abzeichnet, erscheint zunächst als eine Sammlung von Gemeingütern, ein Commonwealth. Wir müssen daher nach dieser Elementarform des postkapitalistischen Reichtums fragen.“

„The wealth of postcapitalist society as it peeps on the horizon of the many heterogeneous practices of communities, associations, peer-to-peer networks and social movements appears in the first instance as a collection of common goods, a commonwealth. We need therefore to enquire about this elementary form of post-capitalist wealth.”

S.29

Was diese Common Goods, die Gemeingüter, ausmacht, ist ein Doppelcharakter: Einerseits sind sie Gebrauchswert für eine Pluralität (“plurality”, was sich auch mit Mehrheit oder Vielfalt übersetzen ließe, ich denke er meint aber schlichtweg “mehrere Menschen”), andererseits muss diese Pluralität auch “Ownership” beanspruchen, womit De Angelis keine juristischen Eigentumstitel meint, sondern das Regeln der Produktion und Reproduktion, der Nachhaltigkeit und Entwicklung des Gutes, wodurch die Commoners eine Beziehung zum Gut und seiner Umwelt aufbauen und die Beziehungen untereinander regeln. Durch diesen Prozess entsteht neben dem Gebrauchswert der Güter auch ein „relational value“, ein „Beziehungswert“ (S.30). Der Doppelcharakter der Ware ist also Gebrauchswert und Tauschwert, der des Gemeinguts Gebrauchswert und Beziehungswert. Während letzteres Ergebnis einer kollektiven Beanspruchung von „ownership“ ist, ist der Tauschwert der Ware Ergebnis einer gespaltenen und untereinander konkurrierenden Pluralität, für die die Produktionsbedingungen gegeben sind und die ihnen als fremde Macht gegenüber stehen (S.31). Ein weiterer wichtiger Unterschied, auf den De Angelis hier nicht eingeht, wäre der gewesen, dass Gebrauchswert und Tauschwert sich in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander befinden, Gebrauchswert und Beziehungswert jedoch nicht. Da alle von Marx diskutierten Doppelcharaktere einen Widerspruch ausdrücken, ist es vielleicht auch etwas fragwürdig, den Begriff des Doppelcharakters so auf die Commons zu übertragen – auch wenn es erstmal schon sehr schick klingt.

Dass er mit diesem Doppelcharakter ein objektives Element (das Gemeingut) und ein subjektives Element (eine „Ownership“ beanspruchende Pluralität von Subjekten) etabliert hat, bietet De Angelis einen Einstiegspunkt für ein Verständnis von Commons als soziale Systeme (S.32). Diese sozialen Systeme sind dynamisch und sogar konflikthaft, sowohl in ihrem internen Prozess, in dem die Commoners ihre Beziehungen regeln als auch im externen Prozess der Beziehung zu anderen Systemen, insbesondere dem Kapital (S.32f).

Marxistisch informierte Systemtheorie

Mit diesem marxistisch informierten systemtheoretischen Zugang grenzt sich De Angelis vom güterzentrierten Zugang der Neoklassik, den auch Elinor Ostrom teilte, ab, nach dem das Commons-Sein als Eigenschaft von Gütern verstanden wird. Er dekonstruiert dieses güterzentrierte Verständnis, u.a. da schließlich auch „private Güter“ in einem Gemeinschaftstopf gepoolt und einer Community zugänglich gemacht werden können und physischer Mangel in eine Fülle von sozialen Beziehungen transformiert werden kann (S.42ff). Die Perspektive seines Commons-Zugangs lautet deshalb: „Alles kann im Prinzip in ein Gemeingut verwandelt werden“ („all, in principle, can be turned into a common good”, S.55).

Im zweiten und dritten Kapitel führt De Angelis seine systemtheoretische Fassung der Commons weiter aus. Systeme, egal ob sozio-ökonomisch oder natürlich, weisen nach ihm folgende Eigenschaften auf (hier bezieht er sich auf Meadows, Capra and Skytter, dir mir selbst alle unbekannt sind): Sie haben (1.) Elemente oder Knoten, (2.) Interkonnektivität zwischen diesen Knoten, die (3.) Feedback Loops ermöglichen. Deswegen haben Individuen wie auch ganze Systeme (4.) Verhalten („behaviour“) oder Bewegungsmuster. Systeme haben (5.) Grenzen („boundaries“) und eine sie umgebende Umwelt, im Falle von sozialen Systemen bestehend aus anderen sozialen Systemen und der natürlichen Umwelt. Sie haben (6.) „Scale“ und können ineinander verschachtelt sein und schließlich (7.) adaptives, dynamisches, selbst-erhaltendes und evolutionäres Verhalten (S.85ff; die Übersetzungen sind von mir, ich weiß nicht ob in den deutschen Übersetzungen der systemtheoretischen Schriften, auf die sich De Angelis hier bezieht, andere Übersetzungen üblich sind). Commons sind für ihn dann:

„soziale Systeme, in denen die Ressourcen von einer Community von Subjekten gepoolt werden, die diese Ressourcen auch verwalten, um die Nachhaltigkeit der Ressourcen (wenn es sich um natürliche Ressourcen handelt) und die Reproduktion der Community zu gewährleisten, und die sich am Commoning beteiligen, d. h. am gemeinsamen Tun, das einen direkten Bezug zu den Bedürfnissen, Wünschen und Bestrebungen der Commoners hat“

„social systems in which resources are pooled by a community of subjects who also govern these resources to guarantee the sustainability of the resources (if they are natural resources) and the reproduction of the community, and who engage in commoning, that is, doing in commons that has a direct relation to the needs, desires and aspirations of the commoners”

S.90

Dabei kann es auch hybride soziale Systeme geben, in denen Merkmale von Staat, Kapital und Commons vorkommen, mit jeweils einem dominanten Faktor. Tatsächlich geht De Angelis davon aus, dass die Mehrheit der sozialen Systeme solche Hybride sind (S.100).

Von einem Commons-System kann dann gesprochen werden, wenn mindestens diese folgende drei Elemente vorhanden sind: (1.) Gepoolte materielle/immaterielle Ressourcen bzw. „Commonwealth“, (2.) eine Community von Commoners und (3.) die Aktivität des Commoning, durch das die ersten beiden Elemente (re)produziert werden (S.119). Die Common Goods, die Gemeingüter, mit denen De Angelis angefangen hatte, sind also nur ein Bestandteil, ein Ergebnis von Commons als sozialen Systemen:

„So wie für Marx die Ware die Zellform des kapitalistischen Reichtums ist, so sind die Gemeingüter die Zellform der postkapitalistischen Gesellschaft, aber so wie die Ware das kapitalistische System voraussetzt, so setzen die Gemeingüter Commons-Systeme voraus.“

„just as for Marx the commodity is the cell form of capitalist wealth, so the common goods is the cell form of postcapitalist society, but just as the commodity presupposes the capitalist system, so the common goods presuppose commons systems.”

S. 226

Commoning ist die grundlegende Antriebsenergie jedes Commons. De Angelis bestimmt Commoning als:

„die Form des sozialen Tuns (Arbeit), das im Bereich der Commons stattfindet, und [es] ist daher gekennzeichnet durch partizipatorische und nicht-hierarchische Weisen der Produktion, Verteilung und Governance der Commons, motiviert durch die Werte der Commons-(Re-)Produktion, der (Re-)Produktion des Commonwealth der Commoners und der affektiven, materiellen, immateriellen und kulturellen (Re-)Produktion der Commoners und ihrer Beziehungen.“

“the form of social doing (social labour) occurring within the domain of the commons, and thus [it] is characterised by modes of production, distribution and governance of the commons that are participatory and non-hierarchical, motivated by the values of the commons (re)production, of the (re)production of commoners’ commonwealth and the affective, material, immaterial and cultural (re)production of the commoners and their relations.”

S.121

Es umschließt dabei sowohl die Tätigkeit oder Arbeit als auch die Entscheidungsprozesse.

Vom Element der „Community” hat De Angelis einen sehr weiten Begriff, durch eine deutsche Übersetzung in „Gemeinschaft“ würde diese breite Bedeutung wohl noch mehr verloren gehen. Für ihn bedeutet Community lediglich „die Gruppe der Commoners, die an einer nachhaltigen Interaktion durch Commoning beteiligt sind, um ihre Commons zu (re)produzieren“ („the group of commoners involved in sustained social interaction through commoning to (re)produce their commons”, S.124), sie muss ausdrücklich nicht durch einen gemeinsamen Ort definiert sein, sondern kann z.B. auch ein Peer-to-Peer-Netzwerk sein. Auch eine „Community of Struggle“, die eine Ressource als Commons claimt, schließt er in seine Definition ein.

„Commonwealth“ meint schließlich „die Gesamtheit aller materiellen und immateriellen ‚Dinge‘, die im Commons verfügbar sind“ („the set of all material and immaterial ‘things’ available in the commons”, S.126), entweder als natürliche Ressourcen oder Ökosysteme oder als Pool, in den die Commoners materielle Dinge wie immaterielle Dinge (Fähigkeiten, Wissen, etc.) zusammentragen – unabhängig wie diese zuvor angeeignet wurden, also ob sie z.B. als Waren gekauft wurden oder nicht. Auch wenn alles mögliche Commonwealth werden kann, so hält De Angelis doch die Commonisierung solcher Ressourcen für besonders strategisch wichtig, die direkt für den Erhalt menschlichen und sozialen Lebens gebraucht werden, da dadurch eine Autonomie vom Kapital geschaffen werden kann (S.138f).

Von Elinor Ostrom zu Karl Marx

Im zweiten Teil, der die Kapitel 4 und 5 umschließt, arbeitet sich De Angelis weiter an Elinor Ostroms Commons-Theorie ab und entwickelt dadurch seinen eigenen Commons-Begriff weiter (jedoch nicht ohne sie dabei auch als wichtige Autorin zu würdigen, S.143). Elinor Ostrom hatte Commons strikt von frei zugänglichen Gütern (Open Access) abgegrenzt: Die klaren Grenzen einer Gruppe, die Nicht-Mitglieder von der Nutzung ausschließen kann, macht sie stark um damit gegen die „Tragödie der Commons“ zu argumentieren (S.144). Nach De Angelis verliert diese Unterscheidung aber angesichts der Praktiken heutiger sozialer Bewegungen ihre Gültigkeit: Zum einen produzieren Commoners immaterielle Ressourcen wie Wissen als Open-Access-Güter, zum anderen können auch materielle Commons wie ein Leihladen oder eine Küche für Alle frei zugänglich sein. „Open Access“ kann somit ein Subsystem der Commons sein. Ein weiterer Unterschied zwischen Ostrom auf der einen und De Angelis bzw. weiteren marxistischen und radikalen Commons-Theoretiker*innen auf der anderen Seite besteht in der Erklärung des Scheiterns von Commons. Während für Ostrom Commons scheitern, wenn sie sich nicht die richtigen Design-Prinzipien gegeben haben, erklärt De Angelis es mit den Kräfteverhältnissen, die über Erfolg und Misserfolg des Widerstands gegen die Einhegungen durch das Kapital entscheiden (S.167f), wobei er das Kapital nicht nur als äußere Macht begreift, sondern es auch in den Commons, in unseren Subjektivierungen als Homo Oeconomicus, sieht (S.171).

Die Betonung dieses Konfliktverhältnisses zum kapitalistischen Außen (das jedoch auch in uns drin ist) lässt De Angelis Commons stets im Kontext von Klassenkämpfen denken. Er kommt dabei aus der Tradition des autonomen Marxismus und benutzt daher einen recht weiten Klassenbegriff, den er gegenüber dieser Tradition noch ausweitet, indem er von einer Klasse der Commoners redet, die das Proletariat und die Lohnarbeiter*innen einschließt aber noch über sie hinausgeht. Commoners definiert er einerseits über ihre Beziehung zum Kapital, sei sie über Lohn oder nicht, durch Kleingewerbe oder Armut, und andererseits durch ihre konstituierende Macht, dem Commoning (S.184).

Von der Formel der einfachen Warenzirkulation W-G-W (Ware, Geld, Ware), die Marx in zweiten Abschnitt bzw. vierten Kapitels von Kapital Band 1 der Formel des Kapitals (G-W-G‘) gegenüberstellt, entwickelt De Angelis schließlich eine Commons-Formel. Sowohl die Ausführungen von Marx als auch die, mit denen De Angelis hier darauf aufbaut, können schnell verwirrend und missverständlich sein und so wirken, als könne eine gute Marktwirtschaft (W-G-W) dem Kapitalismus (G-W-G‘, Geld – Ware – mehr Geld) gegenübergestellt werden. Doch darum geht es Marx meines Erachtens nicht, vielmehr arbeitet er heraus wie eine verallgemeinerte Warenproduktion bzw. Marktwirtschaft Klassenverhältnisse zur Voraussetzung hat und konfrontiert die Erscheinungsebene des gerechten Tausches mit der brutalen Realität der Ausbeutung. Ich bin mir unsicher in wie fern De Angelis diese Lesart teilt, jedenfalls bleibt auch er keinesfalls bei W-G-W als das gute Andere zum Kapital stehen, sondern weitet die Formel aus, und macht daraus in Bezug auf die Commons die Formel

Hier gehen zwar auch Waren (C, Commodity) in den Kreislauf ein, jedoch auch nicht-warenförmige Dinge (Non-Commodities, NC), die gemeinsam den Commonwealth (CW) bilden, welcher gemeinsam mit der Association (A) das Commons (Cs) bildet, welches durch Commoning (cm) reproduziert wird. Die Bewegung W-G-W ist hier also kein Selbstzweck, anders als die Bewegung des Kapitals G-W-G‘, sondern sie dient der Reproduktion des Commons, was prinzipiell auch durch eine größere Verschiebung zu nicht-warenförmigen Dingen sowohl im Input als auch im Output geschehen könnte:

“Wenn wir noch weiter herauszoomen, sehen wir, dass W-G-W selbst nur ein Moment der sozialen Reproduktion ist. Wie wichtig dieses Moment in Bezug auf Intensität und Ausmaß ist, ist eine rein historische und kontingente Frage. Der Punkt ist, dass der einfache Warenkreislauf im Gegensatz zum Kapitalkreislauf nur ein Mittel, und damit je nach äußerem Kontext skalierbar auf die Struktur der Bedürfnisse und Wünsche und die Ressourcen, die in nicht-kommodifizierten Formen mobilisiert werden können.“

“if we zoom out even further we see that C-M-C is itself but a moment of social reproduction. How important this moment is in intensity and scale is entirely a historical and contingent question. The point is that unlike the capital circuit, the simple commodity circuit is just a means, hence scalable, depending on the external context, to the structure of needs and desires and the resources that can be mobilised in non-commoditised forms.”

S.192

Commoning, Autonomie und Autopoiesis

Im dritten Teil (Kapitel 6 und 7) widmet sich De Angelis schließlich ausführlicher dem Commoning, durch welches Commons reproduziert werden. Wie bereits gesagt meint er damit sowohl die Entscheidungsprozesse als auch die re/produktive Tätigkeit. Für diese verwendet er den Begriff „Social Labour“, und knüpft damit an den Arbeitsbegriff des frühen Marx an, der Arbeit verstand als Stoffwechsel mit der Natur, oder wie De Angelis es ausdrückt als

„Tätigkeit, die sowohl materielle als auch immaterielle Aspekte umfasst und die, je nachdem, wie sie ausgeübt wird und durch welche Beziehungen sie sich verwirklicht, unsere Spezies in ihrer einzigartigen Stellung als entweder naturzerstörend oder sich selbst als Natur reproduzierend positioniert“

„activity that includes both material and immaterial aspects, and that, depending on how it is carried out and through what relations it is actualised, positions our species in its unnique place of either destructive or reproducing itself as nature.”

S.202

Er versteht diesen Begriff sehr weit und bezieht sich dabei auch auf John Holloways „doing“ (S.202, vgl. Holloway 2002). Die Commoning-Arbeit unterscheidet sich dabei von kapitalistischer (Lohn-)Arbeit darin, dass die Commons eigene Maßstäbe dafür etablieren, wie viel und welche Arbeit wie geleistet wird, während sich für das Kapital all diese Maßstäbe den Marktbedingungen, der Profitabilität und Wettbewerbsfähigkeit unterordnen müssen (S.210).

De Angelis macht mit zwei Polen ein Spektrum von Möglichkeiten auf, mit denen Commoning-Arbeit mobilisiert werden kann: Einerseits kommunale Arbeit und andererseits reziproke Arbeit. Bei kommunaler Arbeit packen alle Commoners für ein gemeinsames Ziel mit an – das muss nicht immer freiwillig geschehen, sondern ist in einigen Commons-Communities, etwa bei der Minga-Arbeit in den Anden, Pflicht, obwohl die Sanktionsmöglichkeiten meist selten genutzt werden müssen (S.213f). Reziproke Arbeit schließlich ist für De Angelis mit Vorstellungen wie Reziprozität, Geschenk oder gegenseitiger Hilfe verbunden (S.210). Es ist die Arbeit, die unterschiedliche Menschen füreinander tun, entweder A für B und B für A oder indirekter A für B, B für C und C für A. Er schließt auch die Möglichkeit A für B, bei der es neben einem guten Gefühl keine Belohnung oder Gegenleistung gibt, mit ein. Sowohl tauschlogikfreie als auch tauschlogische Praktiken können also darunter fallen, wobei er zwischen beiden nicht weiter differenziert. Dementsprechend bezieht er sich auch positiv auf Tauschpraktiken wie bei den Zeitbanken (S.220). Das ist schade, denn das Konzept der Reziprozität könnte es erlauben, über Fairness und gerechte Verteilung von Arbeit nachzudenken, ohne sie dem Tauschprinzip unterzuordnen (vgl. Exner/Kratzwald 2012, die Reziprozität als Gegenbegriff zum Tausch verwenden).

In Kapitel 7 bespricht De Angelis, was Commoning neben den materiellen und immateriellen Gütern produziert: Autonomie. Er lehnt sich an den Autonomie-Begriff der Biologie an, nach dem Autonomie die Eigenschaft einer organischen Einheit beschreibt, nur von seinen eigenen Gesetzen kontrolliert zu sein. In Bezug auf Commons wird diese Autonomie dynamisch hergestellt durch die Reproduktion des Commons einerseits und andererseits durch das Verhältnis zu anderen Systemen, die ihre Umwelt bilden, namentlich Staat und Kapital. Autonomie ist daher auch ein politischer Kampf (S.226). Mit ihr wird eine Grenze („boundary“) hergestellt und reproduziert zwischen dem sozialen System und seiner Umwelt. Durch diese Grenze wird die Beziehung zwischen dem sozialen System und seiner Umwelt gefiltert, wobei die Commoners die Kontrolle über diesen Filter haben (S.247f). Dies erinnert an den Begriff der halbdurchlässigen Membran aus der Mustersprache des Commoning (Helfrich/Bollier 2019), tatsächlich benutzt auch De Angelis das Bild der Membran (S.257).

Ein zentraler Aspekt der Autonomie von Commons ist für De Angelis die Autopoiesis, ein Begriff aus der Systemtheorie:

„Autopoiesis ist ein besonderer Aspekt der Autonomie, der mit einem höheren Grad an Resilienz einhergeht […], bei dem nicht nur die Interaktionen zwischen den Komponenten eines Systems und seine eigenen Regeln regeneriert werden, sondern auch die Komponenten selbst, hier also die Commoners und das Commonwealth“

“autopoiesis is a particular aspect of autonomy, one that coincides with a higher degree of resilience […], in which not only the interactions among components of a system and its own rules are regenerated but also the components themselves, namely, here, the commoners and the commonwealth.“

S.236

Wenn irgendetwas geteilt oder irgendetwas gemeinsam gemacht wird, ist das also noch kein Commons, sondern zum Commons wird es erst dann, wenn sowohl das soziale System als Commons als auch die Community als Commoners und die Ressourcen als Commonwealth reproduziert werden:

„Commons sind soziale Systeme, in denen nicht nur Ressourcen geteilt werden und Communities Regeln für dieses Teilen festlegen, sondern das Ziel der Autopoiesis die Reproduktion dieser geteilten Ressourcen und Communities ist.“

“Commons are social systems in which not only resources are shared and communities set rules for this sharing, but the goal of autopoiesis is the reproduction of these shared resources and communities.”

S.242

Dies schließt nicht aus, dass Teile der Ressourcen von außerhalb der Commons kommen oder die Subjekte eine überwiegende Nicht-Commoner-Subjektivität haben können, solange sie durch das Commoning Ressourcen und Subjektivitäten als Bestandteile von Commons reproduzieren (S.237).

Was bereits in De Angelis‘ anfänglicher Commons-Begriffsbestimmung enthalten ist durch „Nachhaltigkeit der Ressourcen“ und „Reproduktion der Community“ hat er hier nun also durch das Konzept der Autopoiesis noch einmal ausführlicher auf den Begriff gebracht und somit sein Verständnis von Commons als autopoietische, sich und ihre Bestandteile selbst reproduzierende, soziale Systeme entwickelt.

Kämpfe zur Ausweitung von Commons

Im letzten Teil, der die Kapitel 8-10 umschließt, beschäftigt sich De Angelis schließlich unter der Überschrift „Social Change“ mit der Perspektive der Ausweitung und gesellschaftlichen Verallgemeinerung von Commons. Er kritisiert dabei die Strategie einer rein politischen Revolution durch Machteroberung und setzt dagegen die soziale Revolution als Bedingung zur Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise und ihres Staatsapparates (S.265). Anstatt die Macht zu erobern, schafft die soziale Revolution in einem langen Prozess eine neue Form der Macht und verändert die ökonomische Struktur der Gesellschaft (S.268f). Er bezieht sich dabei auf Marx, der in den Grundrissen darauf hinweist, dass die Überwindung des Kapitalismus nur gelingen kann, wenn die Bedingungen zu seiner Überwindung dieser Gesellschaft herangereift sind. Über Marx hinausgehend benennt De Angelis die Commons als diese materiellen Bedingungen (S.271). Soweit stimmen De Angelis‘ Überlegungen mit dem überein, was wir mit der Keimformtheorie versuchen auf den Begriff zu bringen und was auch in anti-autoritären Bewegungen von relativ vielen vertreten wird. Diese Vorstellung von sozialer Revolution grenzt er dann ab zu drei „fallacies“ („Irrtümer“ oder „Fehlschlüsse“) innerhalb des radikalen Diskurses für eine andere Welt (S.265): Dem Fehlschluss des Politischen, dem Fehlschluss des Modells und dem Fehlschluss des Subjekts. Der Fehlschluss des Politischen bezieht sich auf die Vorstellung, dass durch politische Machteroberung eine andere Gesellschaft zu erreichen sei. Dabei gesteht er zu, dass politische Neuzusammensetzungen, die für ihn von sozialen Bewegungen ausgehen aber auch mit Veränderungen in der Repräsentation einhergehen, wichtig sind, um Kettenreaktionen auszulösen, soziale Energien in bestimmte Ziele zu lenken und somit Möglichkeiten für die radikale Entwicklung neuer sozialer Beziehungen und Systeme zu eröffnen (S.268). Alleine können sie Systeme jedoch nicht verändern, sondern nur stören. Interessant ist hierbei, dass er die positive Rolle des Politischen, als etwas, das durchaus notwendig (wenn auch nicht ausreichend) ist für die soziale Revolution, vor allem mit sozialen Bewegungen füllt, und sich somit von einem auf Parteien bezogenen Politikbegriff abgrenzt. Gleichzeitig gesteht er jedoch mit dem Einschub „und die korrespondierenden Formen politischer Repräsentation“ („and the corresponding forms of political representation”, S.268) möglicherweise auch Veränderungen innerhalb des Staatsapparats als Folge von sozialen Bewegungen eine Bedeutung zu. Die Formulierung ist jedoch sehr schwammig und wird nicht weiter ausgeführt, sodass das Verhältnis zu Staat und Parteienpolitik unbestimmt bleibt.

Der zweite Fehlschluss, der Fehlschluss des Modells, bezieht sich auf die „weit verbreitete Vorstellung, dass um das derzeitige System (Modell) zu ersetzen, ein anderes System (Modell) bereit sein muss, an seine Stelle zu treten“ („the widespread idea that in order to replace the current system (model), another system (model) needs to be ready to take its place”, S.269). Da die soziale Revolution ein konstitutiver Prozess von unten und keine politische Implementierung eines anderen Systems von oben ist, braucht es keinen Utopiediskurs. De Angelis hat zwar nichts dagegen, über alternative Systeme nachzudenken und zu diskutieren, jedoch hat dies für ihn keinen besonderen Einfluss auf die geschichtliche Entwicklung von Produktionsweisen. Dagegen wäre zu fragen, ob nicht ein utopischer Diskurs hilfreich, wenn nicht sogar notwendig sein kann, um ein Ziel der Transformation/sozialen Revolution zu bestimmen, nach dem einzelne Schritte beurteilt werden können.

Der dritte Fehlschluss schließlich ist der des Subjekts und ebenfalls eng verbunden mit dem Fehlschluss des Politischen: Die Vorstellung, dass eine revolutionäre Klasse (durch eine politische Revolution) eine postkapitalistische Gesellschaft herbeiführen könne. Nun sind Subjekte und Klassen auch für De Angelis relevant, allerdings kann für ihn eine Klasse nur revolutionär sein, wenn sie aus einer neuen Produktionsweise entspringt, die sie selbst mit aufgebaut hat:

„Nur wenn eine Klasse gesellschaftlicher Subjekte aus einer neuen Produktionsweise hervorgeht, die sie mitgestaltet, getragen und entwickelt hat, entsteht eine neue soziale Kraft, die sich Kapital und Staat entgegenstellt, sie tiefgreifend verändert, ja sogar commonisiert und ihre schlimmsten Aspekte abschafft. Die Klasse für sich, die Marx der durch kapitalistische Ausbeutung definierten Klasse an sich gegenüberstellt, ist die Klasse der kämpfenden Commoners, die neue Subjektivität, die ermächtigt wird durch die neue Ökologie der sozialen Systeme, die sie geschaffen und miteinander verflochten haben: die Commons“

„It is only when a class of social subjects emerges out of a new mode of production that they helped to shape, sustain and develop that there emerges a new social force to contrast with capital and the state, to deeply transform them, even to commonise them and abolish their worst aspects. Thus the class for itself that Marx contrasts with the class in itself defined by capitalist exploitation, is the class of struggling commoners, the new subjectivity empowered by the new ecology of social systems they have set in place and intertwined: the commons.”

S.275f

Um von den individuellen autopoietischen Commons nun zu einem solchen revolutionären Szenario zu kommen, müssen sie sich vervielfachen, zusammenwachsen und eine kritische Masse bilden (S.281ff). Diese kritische Masse ist dann erreicht, wenn die Gegenkräfte nicht mehr stark genug sind um die Entwicklung von Commons aufzuhalten und reproduktive Commons die beste Option bieten das Leben zu bestreiten (S.291). Der Moment der kritischen Masse bei De Angelis entspricht also dem Moment des Dominanzwechsels in der Keimformtheorie. Erreicht werden soll sie u.a. durch Boundary Commoning, einer Art des Commonings, das die Grenzen zwischen Commons überschreitet und über einen reinen Austausch von Informationen oder Gütern hinausgeht (S.291f). Durch Boundary Commoning werden Commons strukturell aneinander gekoppelt, in dem Sinne dass sie die Umwelt des jeweils anderen Commons so sehr prägen, dass sie für ihre jeweilige Autopoiesis voneinander abhängig werden. Dies kann entweder in Richtung einer Symbiose von mehreren Commons in eine Einheit gehen oder in Richtung einer Meta-Commonality, bei der die Commons zwar ihre eigene Identität und ihr internes Commoning behalten, aber gleichzeitig eine neue systematische Kohärenz zwischen ihnen entsteht (S.292f). Dies erinnert wohl nicht zufällig an die Diskussion um Commons-Verbünde, mit dem Unterschied dass De Angelis hier immer noch Kämpfe im Hinterkopf hat, die diese Entwicklung hin zu einer kritischen Masse antreiben und in der Commons sich als politische Kraft konstituieren.

Als Beispiel für solche Kämpfe schildert er den Wasserkrieg 2000 in Cochabamba (Bolivien): Hier mischten bereits bestehende Wassercommons bei den Protesten gegen die auf Druck von Weltbank und IWF geplante Privatisierung der städtischen Wasserversorgung mit. Die Forderungen der Bewegung weiteten sich aus, u.a. schlossen sich Coca-Bäuer*innen, unter ihnen der spätere Präsident Evo Morales, an. Die Privatisierung konnte schließlich verhindert werden, nach De Angelis weil die Commons in der Lage waren, dem Protest eine materielle Kraft zu verleihen:

„Der Punkt dieser Geschichte ist, dass, wenn die Commons in der Lage sind, eine Commons-Bewegung zu etablieren (die höchste Form von Boundary Commoning zwischen verschiedenen Sektoren) und diese wiederum in der Lage ist, eine kritische Masse […] auf der Straße zu erreichen, dann ist es wie eine Linie nach hinten zu schieben, eine Linie im Sand weiter zu ziehen, ein Tabu zu etablieren, einem ‚NEIN‘ (Holloway 2002) materielle Kraft zu verleihen, allerdings durch eine Vielzahl von organisierten Ja‘s“.

“The point of this story is that when the commons are able to establish a commons movement (the highest form of boundary commoning across different sections) and this in turn is able to reach a critical mass […] on the streets, then it is like pushing backwards a line, to draw a line in the sand further on, to establish a taboo, to give material force to a ‘NO’ (Holloway 2002) by means, however, of a plurality of organised yeses.“

S.311

Er warnt jedoch davor, dass solche Bewegungsmomente Allmachts-Illusionen auslösen können und weist darauf hin, dass Staat und kapitalistische Märkte erst abgelöst werden können, wenn die Entwicklung der Alternativen weit genug vorangeschritten ist (S.312). Um bis dorthin Landgewinne gegenüber Markt und Staat absichern zu können, kommen Commons deshalb nicht darum herum, Deals mit diesen Kräften zu schließen. Am Beispiel der Landwirtschafts-Assoziation Campi Ambierti in Bologna zeigt De Angelis auf, dass solchen Deals Kämpfe vorausgehen und die Commons sie somit aus einer Position der Macht schließen können: Für den Stadtrat von Bologna boten die Deals dann eine gewisse Befriedung und für die Assoziation mehr Ressourcen. Aktive von Campi Ambierti berichten, dass dabei stets die Autonomie der Assoziation gewahrt wird (S.329).

Neben einem Aufbau von Commons von Grund auf nennt De Angelis auch noch den Weg der Commonisierung bestehender privater und öffentlicher Systeme, wobei er dies als Prozess versteht, der nicht direkt zu optimalen Resultaten führt sondern schrittweise Merkmale des Commonings ausweitet (S.340).

Kämpfe, die Commons ausweiten und bestehende Systeme commonisieren können, bezeichnet De Angelis als Commons-Bewegungen. Er charakterisiert sie als

„Hybride zwischen sozialen Bewegungen und Commons, die durch wiederholte und anhaltende Interaktion zwischen sozialen Bewegungen und Commons entstehen, wobei die Commons zu sozialen Bewegungen und die sozialen Bewegungen zu Commons werden“

„hybrids between social movements and commons, created by repeated and sustained interaction between social movements and the commons, the commons turning into social movements and social movements into commons”

S.385

Solche Bewegungen sind sowohl in der Lage, Frontline-Kämpfe zu führen, als auch (Re)Produktion zu organisieren. Soziale Revolution ist für De Angelis somit ein Prozess, bei dem aus sozialen Bewegungen neue Commons hervorgehen und aus diesen wiederum Bewegungen usw., bis mehr und mehr Aspekte der sozialen Reproduktion commonisiert werden (S.384) und sich das gesellschaftliche Gefüge („social fabric“) als Multiplizität von sozialen Systemen und ihren Interaktionen (S.366f) grundlegend geändert hat. Als strategische Ansatzpunkte schlägt er dabei vor, Schwachstellen im System zu identifizieren, die bestehenden Kräfte zu stören und zu delegitimieren und die sich dadurch auftuenden Lücken schließlich mit Commons zu füllen (S.383). Auch defensive Bewegungen zur Verteidigung von Commons können dabei zu offensiven Bewegungen werden (S.369). De Angelis weist darauf hin, dass etliche soziale Bewegungen, wie Occupy oder der Arabische Frühlich, eine Commons-Basis haben um ihre Aktionen zu organisieren (S.368) und sich in jüngerer Vergangenheit aus Commons zunehmend Bewegungen bilden:

„In Regionen wie Lateinamerika oder in vielen Gegenden Asiens, Afrikas und Europas entwickeln Wasser-, Land-, Nahrungs- und Bildungscommons Bewegungen [oder: sind diese Commons sich entwickelnde Bewegungen], die aus der Not heraus entstehen (Griechenland) und sich dann zu einem größeren Maßstab entwickeln (Argentinien, Bolivien, Brasilien) oder aus dem Widerstand gegen Einfriedungen hervorgehen (Val di Susa, Italien). Es handelt sich nicht um Bewegungen fragmentierter Subjektivitäten, die eine bestimmte Leidenschaft teilen, sondern um Bewegungen verbundener Subjektivitäten, deren Verbindung durch ihre soziale Bewegung noch verstärkt wird.“

“Water, land, food and educational commons in regions such as Latin America, or many areas of Asia, Africa and Europe, are developing movements that emerge out of necessity (Greece) and then develop to a higher scale (Argentina, Bolivia, Brazil), or emerge from resistance to enclosures (Val di Susa, Italy). They are not movements of fragmented subjectivities sharing a particular passion, but movements of connected subjectivities whose connection is further increased by their social movement.”

S.387

Offene Fragen und Probleme

Ich muss zugeben, dass ich mich mit Systemtheorie bisher nicht beschäftigt habe und ich mich daher mit einigen systemtheoretischen Ausführungen von De Angelis schwer tat. Was mir sehr hilfreich an diesem theoretischen Zugang scheint, ist, dass er zum einen die Verbindungen zwischen sozialen Systemen bzw. sozialen Systemen und ihrer Umwelt (in diesem Falle also Commons und dem Kapitalismus) in den Blick nehmen und dabei zum anderen trotzdem die Autonomie dieser jeweiligen sozialen Systeme beschreiben kann. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Aspekten (Eingebettetheit in ein feindliches Umfeld bei gleichzeitiger Autonomie), das ja durchaus ein widersprüchliches ist, wird mir dabei allerdings zu wenig ausgearbeitet, zu oft bleibt es dann bei einer Behauptung von Autonomie, die nicht weiter ausgeführt wird (wie bei den Aktiven von Campi Ambierti). Immerhin bietet der Hinweis darauf, dass diese Autonomie auch immer ein politischer Kampf ist, Ansätze zum Weiterdenken.

Ein weiterer Schwachpunkt an De Angelis‘ Systemtheorie-Rezeption scheint mir zu sein, dass er damit nicht so gut Gesellschaftsform als Totalität denken kann. Gesellschaft ist bei ihm ein „Social Fabric“, ein Gefüge, das sich aus unterschiedlichen sozialen Systemen und ihren Interaktionen zusammensetzt. So kann schnell der Eindruck entstehen, als ließe sich Gesellschaft beliebig zusammenweben und der Anteil der verschiedenen sozialen Systeme (Staat, Kapital, Commons) beliebig variieren. Dass bestimmte gesellschaftliche Logiken, wie die der Kapitalakkumulation alle anderen gesellschaftlichen Bereiche dominieren und sie sich unterordnen, droht dabei aus dem Blick zu geraten. Er sieht diese Dynamik zwar durchaus, etwa wenn er von der einhegenden Kraft des Kapitals schreibt und die Verbindung von Commons mit Klassenkämpfen betont, allerdings frage ich mich ob dann seine systemtheoretische Beschreibung von Gesellschaft so gut dazu passt.

Dieser Fokus auf einzelne Systemen anstatt auf Gesellschaftsform trägt möglicherweise mit dazu bei, dass er – obwohl er den Begriff der Revolution benutzt – sich diese dann doch eher als langen Prozess der Commonisierung vorstellt, bei dem es zwar Kipppunkte gibt (die kritische Masse), doch ein revolutionärer Bruch (als massenhafte Aneignung wesentlicher Produktionsmittel innerhalb von relativ kurzer Zeit) zumindest nicht explizit mitgedacht wird. Ein solcher Bruch wird aber nötig sein, denn nicht jeder Produktionsbereich lässt sich so ohne weiteres in Commons überführen, solange die gesellschaftliche Totalität der Marktvermittlung unangetastet bleibt. So ist es kein Wunder, dass wir die meisten heutigen Commons im Bereich der kleinbäuerlichen Landwirtschaft, des Wohnraums, der Verteilung von „Resten“ oder im Digitalen sehen, aber nicht in der Industrie. Denn wenn Betriebe in komplexe Lieferketten eingebunden sind, müssen sie sich viel stärker an der Logik des Marktes orientieren, welche das Commoning letztendlich untergraben kann. Dieses Problem sieht auch De Angelis:

„Arbeiter*innenkooperativen, die sich selbst das Recht geben, sich durch jederzeit abberufbare Vertreter*innen zu verwalten, sind Commons, da das kollektive Entscheidungsrecht in den Händen aller Arbeit*innen liegt. Stehen diese Kooperativen jedoch in einem marktwirtschaftlichen System im Verdrängungswettbewerb mit anderen Unternehmen (ob Kooperativen oder nicht), so hängt ihr Überleben zunehmend von der Anpassung an Produktionsnormen und -praktiken ab, die sich ihrer Kontrolle entziehen, so dass die Quelle ihrer Dynamik eher der selbst ausgebeuteten abstrakten Arbeit als dem Commoning entspricht.“

“workers’ co-ops that give themselves the right to manage through representatives that can be recalled at any times are commons, since the collective choice right is in the hands of all the workers. However, if these co-ops are engaged in cut-throat competition with other companies (whether co-ops or not) in a market system, their survival increasingly depends on adapting to productive norms and practices outside their control, and therefore the source of their dynamism becomes closer to self-exploited abstract labour than to commoning.“

S.256

Die Konsequenz, dass es zur Commonisierung solcher in komplexe Lieferketten eingebettete und damit stark marktabhängige Bereiche einen revolutionären Bruch braucht, der in relativ kurzer Zeit die Marktvermittlung überwinden und zur bedürfnisorientierten Verteilung der Güter führen kann, und diese Bereiche nicht schrittweise commonisiert werden können, zieht De Angelis jedoch nicht (Annette geht in ihrer Auseinandersetzung mit De Angelis auch auf diese Punkte ein, zum einen unter dem Stichwort Industrie-Commons zum anderen unter Zweifel an der präfigurativen Politik).

Diese mangelnde Berücksichtigung der Industrie und der Fokus auf kleinbäuerliche Landwirtschaft geht stellenweise einher mit einer Romantisierung des Landlebens, die wohl eine Berechtigung in De Angelis‘ persönlichem Erleben hat (er hat während des Schreibprozesses mal in ländlichen Commons in Italien und mal in London gelebt), an die Menschen die auch die Repressivität des Landlebens gegenüber Normabweichungen erlebt haben und für die die Anonymität der Großstadt eine Befreiung darstellen kann, jedoch wenig anknüpfen können. So ein gewisser Konservatismus, ein Zurück zur Gemeinschaft (deren Überschaulichkeit gegenüber der Anonymität der Gesellschaft affirmiert wird), zum Lokalen, ist im Commons-Diskurs leider nach wie vor noch sehr präsent, und scheint auch hier durch, auch wenn er nicht prägend ist für die Theorie (in seiner Definition von „Community“ grenzt sich De Angelis etwa explizit von der Notwendigkeit einer lokalen Gebundenheit ab).

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch De Angelis Bezug auf die Familie als Commons. So schreibt er: „Die Phänomenologie der Commons ist im täglichen Leben verankert. Haushalte sind ein Beispiel für Commons“ („The phenomenology of commons is grounded in daily life. Households are one example of commons”, S.101), um immerhin einzuschränken: „zumindest sind sie das, wenn klaustrophobische Grenzen und patriarchalische Hierarchien sie nicht in Mikrostaaten oder korrupte Commons verwandeln“ („at least, they are when claustrophobic boundaries and patriarchal hierarchies do not turn them into micro-states, or corrupt commons“). Hier klingt es so, als seien Haushalte von sich aus zunächst Commons und würden erst im Nachhinein irgendwie patriarchal werden. An anderer Stelle schreibt er sogar, dies sei erst in der Nachkriegszeit passiert (S.195), als sei der Haushalt als heterosexuelle Klein- oder auch Großfamilie nicht schon von Beginn an (seit Menschen sich in Haushalten organisieren) patriarchal und unterdrückerisch gewesen. Zweifelsohne erleben die meisten Menschen im Privaten, in ihren Haushalten, eine Menge Commoning. Sie können aber nicht ohne weiteres als Commons deklariert werden, sondern müssen erst durch feministische Praxis und andere Formen des Zusammenlebens zu Commons gemacht werden.

Zu Gute halten lässt sich De Angelis hier jedoch, dass er explizit schreibt, dass nicht jedes Commons emanzipatorisch ist. Emanzipation ließe sich ohnehin nur aus Perspektive des Individuums beurteilen und nicht an bestimmten Modellen festmachen (S.358). Emanzipatorische Commons sind dann Commons, die „aus der Sicht der Individuen in ihnen keine einfachen Regeln darstellen, die befolgt werden müssen, um Vorteile zu erhalten, sondern Kontexte, in denen die Subjekte die Bedeutung von Empowerment lernen und selbst erfahren: ‚Emanzipation ist kein Ziel, sondern eine Lebensweise‘“ („from the perspective of the individuals within them, constitute not simple rules to be obeyed in order to get benefits, but contexts in which the subjects learn and experience for themselves the meaning of empowerment: ‘emancipation is not an objective but a way of life’”, S.359).

Eine weitere Schwäche, auf die ich oben bereits eingegangen bin, ist das Fehlen einer grundsätzlichen Kritik an Markt und Tauschlogik. So kritisiert De Angelis zwar „kapitalistische Märkte“ und die Konkurrenz, bezieht sich an anderer Stelle aber affirmierend auf von Commons etablierte und genutzte Märkte:

„Autonomie gegenüber dem kapitalistischen Markt bedeutet nicht, dass die Commons keinen Zugang zum Markt haben, sondern dass der Markt, und zwar in einer bestimmten Form oder in einem bestimmten Umfang, mit einer bestimmten Situation, der Ökologie der Commons, dem Ort, der Kultur und den sozialen Regeln kontingent ist. Durch das Commoning können die Commons nicht nur neue Formen der sozialen Kooperation mit anderen Commons entwickeln, um neue Bedürfnisse zu befriedigen oder die nicht-warenförmige Vielfalt ihrer Ressourcen (menschliche und andere) zu erhöhen, sondern auch neue Märkte mit Regeln schaffen, die eine Alternative zu den Märkten des Kapitals darstellen (wie partizipative Garantien oder einige Aspekte des fairen Handels), und Güter auf den Markt bringen, die ein altes Bedürfnis auf neue Weise befriedigen, wobei Umweltfragen, die Bezahlung der Erzeuger*innen, die Qualität oder die Minimierung der zurückgelegten Entfernung der Güter berücksichtigt werden.”

“Autonomy from capitalist market does not mean that the commons do not access the market, rather that the market, and the market in a particular form or on a particular scale, is contingent on a particular situation, ecology of commons, place, culture, social rules. Through commoning, the commons not only can develop new forms of social cooperation with other commons to meet new needs, or increase the non-commodity (NC) diversity of its resources (human and not), it can also establish new markets with rules that are alternative to capital’s markets (such as participatory guarantees or some aspects of fair trade), and bring to the markets goods that fill an old need in new ways, with attention to environmental issues, producer pay, quality or minimisation of distance travelled of goods.”

S.251f

Dies sind zweifelsohne Märkte, die stark durch Commoning reguliert sind, doch der Widerspruch zwischen Gebrauchs- und Tauschwert wird damit nicht überwunden. Und so bezieht er sich auch positiv auf Tauschringe und ähnliche Tauschpraktiken (s.o.), die manchmal unter Commons subsumiert werden. Damit beschreibt er zweifelsohne treffend die Praxis vieler real existierender Commons, doch wenn er diese Tauschpraktiken so unkritisch neben die tauschlogikfreien Praktiken stellt, übersieht er damit, dass das emanzipatorische Potential der Commons doch gerade in ihrer tendenziellen Überwindung der Tauschlogik liegt (vgl. Habermann 2018). Sicherlich spielt hier auch die Vernachlässigung des Utopie-Diskurses mit hinein, ohne den oft schwer zwischen solchen Commons-Praktiken unterschieden werden kann, die dem kapitalistischen Umfeld geschuldet sind und jenen, die darüber hinausweisen.

Auch das Verhältnis zum Staat bleibt etwas unbestimmt. Wie oben schon diskutiert bleibt bei der von ihm angestrebten politischen Machtverschiebung offen, in wie fern diese innerhalb oder außerhalb des Staatsapparats erfolgt. An anderer Stelle schreibt er, es gehe darum, sich von den „derzeitigen Formen des Staats“ („current forms of the state”, S.357) zu emanzipieren. Interessant ist seine Beschreibung öffentlicher Güter als „Commons, die im Verhältnis zum Grad der Bürokratisierung und des Managerialismus dieser Systeme verzerrt sind“ (“commons that are distorted in proportion to the degree of bureaucratisation and managerialism of these systems”, S.136), oder als Proto-Commons (S.147).

Eine Stärke von De Angelis, gerade gegenüber dem deutschsprachigen Commons-Diskurs, ist zweifelsohne, dass er Commons konsequent im Zusammenhang mit Kämpfen denkt. Sein Konzept von Commons-Bewegung und das von ihm formulierte Ziel sozialrevolutionärer Prozesse „Subjekte sozialer Bewegungen in Commoners zu verwandeln und Commoners zu Protestierenden zu machen“ („to turn the subjects of movements into commoners and make commoners protesters“, S.371) ist sehr nah an dem, worüber wir als Buchprojektgruppe innerhalb des letzten Jahres viel diskutiert haben. Auch seine Auseinandersetzung mit dem Klassenbegriff ist in diesem Kontext interessant, v.a. dass er den Begriff der „Klasse für sich“ anders als Marx nicht am Bewusstsein festmacht sondern stattdessen an der materiellen Praxis des Commoning, welches die Alternative darstellt für die die „Klasse für sich“ kämpft, aus der sie entsteht und die sie selbst schafft. Damit verbindet er die Fragen des „Wer?“ und des „Wie?“ der Transformation, die im deutschsprachigen Kontext leider selten zusammengedacht werden: Klassenpolitische Linke fokussieren hier fast nur auf der ersten, wertkritische Linke und Commons-Theoretiker*innen fast nur auf der letzten Frage. Durch die Bestimmung der „Klasse für sich“ durch die materielle Praxis des Commoning rückt jedoch die damit im klassischen Marxismus thematisierte Frage des Bewusstseins in den Hintergrund. Und gerade wenn wir davon ausgehen, dass die Commonisierung des gesellschaftlichen Reichtums einen revolutionären Bruch braucht, ist durchaus die Frage ob dafür nicht eine bewusste Diskussion über unsere Lage und über Alternativen zum Kapitalismus, auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene (also ein Utopie-Diskurs) und Wege dorthin nicht schon hilfreich wäre.

Trotz dieser Kritikpunkte lohnt es sich, „Omnia Sunt Communia“ zu lesen und sich mit De Angelis‘ Commons-Konzept auseinanderzusetzen. Seine Stärke liegt in der Diskussion von Commons im Zusammenhang mit Kämpfen ebenso wie in seiner präzisen, theoretisch wie empirisch fundierten Bestimmung des Commons-Begriffs. Um darüber hinaus über die gesellschaftliche Verallgemeinerung von Commons und die Entfaltung ihres emanzipatorischen Potentielas nachdenken zu können, finde ich aber nach wie vor die tauschlogikfreien Perspektiven (Habermann 2016/2018, Sutterlütti/Meretz 2018) unerlässlich.

De Angelis, Massimo 2017: Omnia Sunt Communia. On the Commons and the Transformation to Postcapitalism. London: Zed Books.

Weitere in dieser Rezension referenzierte Literatur:

Exner, Andrea*s/Kratzwald, Brigitte 2012: Solidarische Ökonomie & Commons. Wien: mandelbaum kritik&utopie.

Habermann, Friederike 2016: Ecommony. UmCARE zum Miteinander. Sulzbach am Taunus: Ulrike Helmer Verlag.

Habermann, Friederike 2018: Ausgetauscht. Warum gutes Leben für alle tauschlogikfrei sein muss. Sulzbach am Taunus: Ulrike Helmer Verlag.

Helfrich, Silke/Bollier, David 2019: Frei, Fair und Lebendig. Die Macht der Commons. Bielefeld: transcript.

Holloway, John 2002: Change the World Without Taking Power: The Meaning of Revolution Today. London: Pluto.

Sutterlütti, Simon/Meretz, Stefan 2018: Kapitalismus aufheben. Eine Einladung, über Utopie und Transformation neu nachzudenken. Hamburg: VSA.

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