Diskussionsstand der Buchprojektgruppe zur commonistischen Transformation

Seit ungefähr einem halben Jahr denken Simon, Stefan, Jan, Indigo, Alice und ich an einem neuen Buchprojekt zu Transformation herum. Jetzt haben wir einen Text geschrieben, der unseren bisherigen Diskussionsstand zusammenfasst, um die inhaltliche Debatte weiter zu öffnen:

Im Buch Kapitalismus aufheben1 haben Simon und Stefan einige grundlegende Gedanken zu Utopie und Transformation dargestellt. Gerade bei der Transformation sind einige Fragen offen geblieben, weshalb wir mit einem neuen Buch daran anknüpfen und insbesondere auch die Verbindungen zu Eigentumsfragen und zu sozialen Kämpfen berücksichtigen wollen. Dieser Text bildet den Diskussionsstand unserer Buchprojektgruppe von September 2020 ab, der sich bei einem einwöchigen Treffen herausbildete, dem mehrere Online-Diskussionen vorangegangen waren.

Ausgangspunkt bleibt für uns weiterhin die Frage, wie wir den Kapitalismus aufheben und in eine commonistische Gesellschaft gelangen können, also eine Gesellschaft ohne Markt und Staat, in der die gesellschaftliche Vermittlung nicht mehr über Tausch und/oder (staatliche, patriarchale, rassistische o.a.) Herrschaft läuft, sondern über Commoning, also basierend auf kollektiver Verfügung (statt Eigentum) und freiwilliger Tätigkeit (statt Lohnarbeit und Zwang). Anstelle der Exklusionslogik des Kapitalismus, in der es subjektiv funktional ist, die eigenen Bedürfnisse auf Kosten anderer zu befriedigen, würde eine gesellschaftliche Inklusionslogik treten, in der ich meine Bedürfnisse am besten befriedigen kann, wenn ich die der anderen mit einbeziehe.

Vorherrschende Transformationsvorstellungen

Über gesellschaftliche Transformation wird vor dem Hintergrund sich zuspitzender gesellschaftlicher Krisen, allen voran der Klimakrise, in den letzten Jahren vermehrt diskutiert. Oftmals verbleiben diese Diskussionen aber innerhalb der Denkformen des Bestehenden und schlagen lediglich Reformen (wie etwa eine CO2-Steuer, stärkere soziale und ökologische Regulierungen, ein bedingungsloses Grundeinkommen etc.) vor, die an dem in der getrennten Privatproduktion und der damit einhergehenden Tausch- und Konkurrenzlogik begründeten Verwertungs- und Wachstumszwang des Kapitals nichts ändern. Solche regulierenden Reformen werten in dem Kontinuum vom Markt und Staat den Staat auf, falls sie vor dem Hintergrund einer Standortkonkurrenz überhaupt glücken können. So stellen Reformen keine neue Re/Produktionsweise her und schaffen maximal bessere Ausgangsbedingungen für eine commonistische Transformation. Das bedeutet nicht, jegliche Reformbestrebungen abzulehnen. Beispielsweise können antikapitalistische Bewegungen im Sinne einer Doppelstrategie für Reformen kämpfen: Wenn die Kämpfe erfolgreich sind, empowern sie die Bewegungen, und wenn sie nicht zu Reformen führen, können sie den Staat delegitimieren und die Bewegungen so radikalisieren. Wir sind uns aber unsicher, ob erkämpfte Reformen nicht auch gerade befriedend wirken können, indem sie das kapitalistische Narrativ stützen, die Marktwirtschaft sei so flexibel, anpassungsfähig und deshalb auch das beste System, um die Klimakrise aufzuhalten. Zusätzlich betonen sie praktisch und ideologisch die Möglichkeiten staatlicher Regulation. Bei ökologischen Reformen besteht zusätzlich das Problem, dass sie bezogen auf den Kapitalismus als Verbote wirken müssen und damit die Gefahr bergen, dem Autoritarismus den Boden zu bereiten. Außerdem kommt es zu realen Interessenskonflikten zwischen Ökobewegung und Arbeiter*innen, die in Reformen schwer aufzuheben sind.2

Letztlich könnten gewisse Reformen aber eine commonistische Transformation unterstützen, etwa wenn sie beinhalten, dass der Staat Commoner*innen bedingungslos Ressourcen zur Verfügung stellt.

Am traditionellen Marxismus orientierte Linke teilen bisweilen die Kritik an der Reform und befürworten deshalb ein Revolutionsmodell, bei dem unter Bruch mit den alten Eigentumsverhältnissen die Staatsmacht erobert und mit dieser bruchhaft eine neue Gesellschaft aufgebaut wird. Sie verbleiben dabei aber in der Form des Staates, des Befehls, der Planwirtschaft von oben, und der Lohnarbeit, konsequent können oder wollen sie auch keine befreite Gesellschaft herbeiführen, sondern nur eine staats- (oder markt-) sozialistische Übergangsgesellschaft. Tatsächlich werden grundlegende Widersprüche des Kapitalismus, wie der Widerspruch zwischen Tausch- und Gebrauchswert im Staatssozialismus nicht aufgehoben, weshalb sich viele Problematiken reproduzieren und auch eine Lösung der Klimakrise unwahrscheinlich bleibt. Das Bündeln vieler Ressourcen auf den Staat legt stattdessen tendenziell Autoritarismus nahe.3

In der breiteren neuen Linken und in sozial-ökologischen Bewegungen teilen viele sowohl eine Skepsis gegenüber staatssozialistischen Modellen als auch gegenüber Marktmechanismen. Gleichzeitig fällt es vielen schwer, sich eine Gesellschaft ohne Staat und Markt vorzustellen. Dies führt dann oft zu Vorstellungen von Utopie und Transformation, die wir als Kuchenteig-Theorie bezeichnen würden. Es wird ein bisschen von allem zusammen gemischt: Ein bisschen öffentliche Versorgung durch den Staat, ein bisschen Markt (der irgendwie am Gemeinwohl orientiert werden soll) und ein bisschen Selbstorganisation/Commons jenseits der Lohnarbeit. Solchen Vorstellungen fehlt unserer Ansicht nach ein adäquater Begriff von Gesellschaft, der fassen könnte, wie sich diese verschiedenen Bereiche gegenseitig beeinflussen und welche Logik gesellschaftlich dominant wird. So wird ein größerer staats- oder marktwirtschaftlicher Bereich auf Basis von Lohnarbeit nicht-tauschförmige Praktiken wahrscheinlich zerstören.4 In der Praxis läuft diese Perspektive häufig auf Reformorientierung hinaus.

Die Keimformtheorie und ihre Probleme

Wir halten Reformen innerhalb des Bestehenden für ungeeignet, um eine befreite Gesellschaft herbeizuführen, andererseits wird diese aber auch nicht von heute auf morgen vom Himmel fallen. Mit der Keimformtheorie versuchen wir, die gesellschaftliche Transformation gleichzeitig als Prozess, Bruch und Konstruktion zu fassen. Nach der Keimformtheorie entsteht im Funktionswechsel durch gesellschaftliche Entwicklungswidersprüche aus den Vorbedingungen zunächst eine neue Form, die Keimform (in unserem Fall Commons/Commoning), welche im Dominanzwechsel schließlich gegenüber der alten Form (Warenform/Tauschlogik) dominant wird und schließlich die gesamte Gesellschaft nach der neuen Logik umstrukturiert. Die Frage ist jedoch, wie sich diese Keimformen ausdehnen und gesellschaftlich dominant werden können.

In der Anfangszeit der Keimformtheorie wurde dies vor allem über die „doppelte Funktionalität“ gedacht, nach der die Keimform auch für das alte System funktional ist. Gut funktioniert diese Theorie für die Transformation vom Feudalismus zum Kapitalismus, in der die kapitalistischen Keimformen (Tausch, Konkurrenz, Märkte) die feudale Macht zuerst stärken und deshalb von feudalen Herrscher*innen auch gefördert werden.5 Der Kapitalismus wächst so gehegt und gepflegt vom Feudalismus heran und stellt dann im 18./19. Jh. die Systemfrage. Auch einige Commons, z.B. im Software- und Wissensbereich (Open Access und Freie Software), und auch Arbeitsorganisationsformen, die viel Selbstorganisation beinhalten (und beispielsweise von Tilman Wendelin Alder als „restriktives Commoning“ bezeichnet werden6), besitzen für den Kapitalismus eine doppelte Funktionalität. Doch gerade bei materiell produzierenden Commons, die auch nach außen Commoning-Beziehungen aufbauen wollen (wie bspw. solidarische Landwirtschaften), ist diese doppelte Funktionalität nicht gegeben. Grundsätzlich ist es ihnen nahegelegt, solange der Zugang zum gesellschaftlichen Reichtum im wesentlichen am Geld hängt, entweder ihre Produkte nicht nach Bedarfsprinzip zu verteilen, sondern sie zu verkaufen oder zumindest ihr Projekt durch kollektive Einnahmen zu finanzieren. In den Bereichen, in denen Commoning auch noch auf die Benutzung von Geld angewiesen ist, werden die Produkte tendenziell eher teurer, da (ökologische und soziale) Kosten einbezogen werden anstatt sie zu externalisieren7. Bisher geschieht Commoning und der Einbezug Anderer deshalb oft eher aus ethischen Gründen und/oder bleibt auf den interpersonalen Rahmen (also die Beziehungen zwischen konkreten, bekannten Personen) beschränkt.

Ein Ziel unseres Buches ist es deshalb, genauer zu bestimmen, unter welchen Bedingungen Commoning subjektiv funktional und transpersonal (also bezogen auf allgemeine andere, die ich nicht kennen muss) ist oder werden kann. Da wir keine allgemeine Tendenz zu einer doppelten Funktionalität auf Systemebene, mit der sich die Commons nahezu konfliktfrei ausbreiten und unterschwellig die bestehende Eigentumsordnung commonisieren könnten, sehen, wurden dabei soziale Kämpfe für uns relevanter.

Einen möglichen Zwischenschritt zwischen Funktions- und Dominanzwechsel, den wir diskutieren, verdanken wir der Beschäftigung mit dem Übergang zwischen Feudalismus und Kapitalismus und nennen ihn Sphären- oder Bereichswechsel8. Bevor der Markt gesellschaftlich dominant wurde, konnte sich die Marktlogik über die Freisetzung der Konkurrenz in bestimmten Bereichen (z.B. innerhalb des Hanseverbundes, bei unregulierten Gütermärkten) schon wesentlich mehr entfalten als in den vorher existierenden regulierten oder unregelmäßigen Formen des Tausches. Wir sind noch nicht sicher, wie so eine „Commons-Sphäre“ innerhalb des Kapitalismus aussehen könnte, aber als Denkfigur erlaubt sie uns, Transpersonalisierung und subjektive Funktionalität von Commoning vor der gesellschaftlichen Verallgemeinerung zu denken. Mit den Commons-Verbünden wird ähnliches in der Commons-Bewegung bereits seit längerem diskutiert; ein relevanter Unterschied dazu wäre für uns aber das Erreichen einer „kritischen Masse“, innerhalb derer den einzelnen Commons Inklusion und Verteilung nach Bedarfsprinzip durch den Druck der freien Kooperation wirklich nahegelegt wird und nicht primär ethisch motiviert ist (dass also die Bedürfnisse anderer mit einbezogen werden müssen, da diese sonst die Kooperation aufkündigen und mit anderen kooperieren könnten). Eventuell stellen soziale Bewegungen bereits Ansätze einer solchen „Commons-Sphäre“ dar, da hier auch transpersonales Commoning funktional wird, wenn darüber ein geteiltes Ziel erreicht werden kann. Aber dazu unten mehr. Erst einmal wollen wir kurz skizzieren, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit im Dominanzwechsel eine commonistische Gesellschaft entstehen kann. Daraus wird dann schließlich auch deutlich, was vorher aufgebaut werden muss.

Bedingungen des Dominanzwechsels

Gerade da eine quasi-automatische gesellschaftliche Verallgemeinerung des Commoning über die doppelte Funktionalität nicht absehbar ist (die historische Tendenz ist nur bedingt auf unserer Seite), wird der Kapitalismus wohl nur durch den Commonismus ersetzt werden können, wenn er in eine Krise gerät, also von einer bedeutenden Zahl von Menschen nicht mehr als funktional für die eigene Existenzsicherung angesehen wird. Dies kann entweder bei einer Versorgungskrise der Fall sein oder bei einer Krise der Legitimation, wenn also das alte System nicht mehr anerkannt wird. Dies muss sich wahrscheinlich auf Markt und Staat beziehen, denn wenn zwar der Markt versagt, aber der Staat noch handlungsfähig ist und als legitim gilt, ist die Entwicklung zu einer Art Staatssozialismus wahrscheinlicher als zu einer befreiten Gesellschaft. Auf die verschiedenen Arten von Krisen gehen wir weiter unten noch einmal ein.

Damit aber in so einer Krise der Commonismus eine realistische Option wird, muss er eine greifbare Alternative darstellen. Zum einen indem Menschen Erfahrungen mit Commoning haben (entweder in einer „Commons-Sphäre“ oder in vielen kleineren Formen von Commons unter der Hülle des Alten) und/oder zum anderen auf der diskursiven Ebene in Form eines utopischen Diskurses (‚Kampf um die Köpfe‘). Es muss für die Menschen im Dominanzwechsel subjektiv funktional sein, ihre Bedürfnisse über Commoning zu befriedigen, und dafür brauchen sie die Verfügung über die materiellen Ressourcen – oder zumindest die Bereitschaft, Risiken einzugehen, um diese Verfügung zu erkämpfen.

Um diese Verfügung zu erkämpfen und weil auch aus Erfahrungen nicht einfach der Commonismus erwächst, sondern er gemacht werden muss, braucht es zudem eine organisierte Handlungsfähigkeit einer möglichst großen Anzahl von Menschen. Damit wollen wir keinem Organisationsfetisch huldigen, sondern lediglich darauf verweisen, dass es hilfreich ist, wenn Menschen in Verbindung miteinander stehen (egal ob über Organisationen oder lose informelle Netzwerke), um gemeinsam Absprachen zu treffen, wie sie handeln wollen, und um Mittel (sowohl materielle als auch symbolische und soziale wie Organisationsformen oder Lernerfahrungen) herzustellen und zu verteilen, die für (Aneignungs-)Kämpfe und den Aufbau von Commons benötigt werden, sowie um die Commons miteinander zu vernetzen, gegen organisierte Autoritäre zu verteidigen und transpersonales Commoning zu ermöglichen. Dies beinhaltet auch die Organisierung am Arbeitsplatz in verschiedenen Produktionsbereichen (z.B. über Räte oder Gewerkschaften), mit der sich die Arbeitenden in Krisenmomenten die Produktionsmittel aneignen und mit Hilfe von sozialen Bewegungen und Commons auch die Verteilung nicht markt- und staatsförmig organisieren können.

Konstruktion: Wo entstehen Keimformen?

Bisher haben wir vor allem drei Bereiche diskutiert, in denen Beziehungen des Commoning aufgebaut werden: Erstens das, was klassischerweise unter Commons verstanden wird, also Solidarische Landwirtschaften, Gemeinschaftsgärten, Kommunen, Kostnixläden etc. und was wir als re/produktive Commons bezeichnen würden, zweitens die Formen von Commoning, die wir innerhalb von sozialen Bewegungen erleben (und hier Bewegungs-Commons nennen), und drittens die Formen des Commoning, die sich im Postfordismus auch innerhalb kapitalistischer Unternehmen herausbilden und die wir als restriktives Commoning bezeichnen (s.o.). Wir sind uns noch nicht sicher, mit welchen Begriffen diese verschiedenen Arten des Commoning am besten gefasst werden können; die hier verwendeten sind dabei vorläufiger Natur.

Die Qualität der „klassischen“ re/produktiven Commons besteht vor allem darin, dass sie auch die materielle Re/Produktion grundlegend anders organisieren. Sie sind meist langlebiger und politisch offener als Bewegungen (so können beispielsweise auch Konservative bei Solawis mitmachen). Dafür sind sie weniger antagonistisch; für viele Commoner*innen ist zwar eine gewisse Gesellschaftskritik wichtiger Bestandteil ihrer Motivation, doch die Praxis läuft oft auf ein eher individuelles und partielles Herausziehen aus Warenbeziehungen hinaus. Nichtsdestotrotz gibt es auch Aktivist*innen, die die Commons-Praktiken ausweiten wollen und einen stärker gesellschaftsverändernden Anspruch haben. Hier sind die Grenzen zu den Bewegungs-Commons fließend. Die meisten klassisch re/produktiven Commons verbleiben auf einer interpersonalen Ebene und ‚vergemeinschaften‘ damit die Güter nur, zumindest die materiell re/produzierten.9 Die eher immateriellen Commons (Wikipedia, Freie Software) verteilen und produzieren bereits transpersonal und vergesellschaften somit ihre Produkte real. Auch Commons, die materielle Güter verteilen (meist „Reste“, wie etwa beim Foodsharing oder bei Kostnixläden) überschreiten den interpersonalen Rahmen. Unterschiedlich beurteilt werden muss auch die Gefahr, dass Commons lediglich zu einer Modernisierung des Kapitalismus beitragen: In Bereichen, wo der Gebrauchswert erst durch Commoning erschlossen wurde – wie beispielsweise bei Mitfahrgelegenheiten, Couchsurfing, aber neuerdings auch Foodsharing – sind Kommodifizierungen zu beobachten, wie Blabla-Car, Air-BnB und Start-Ups wie Sirplus (die abgelaufene Lebensmittel nicht wie Foodsharing kostenlos verteilen sondern stattdessen verkaufen) zeigen. Bei Commons, die explizit einen Bereich aus dem Markt heraus nehmen (wie Solawis oder das Mietshäusersyndikat), ist diese Gefahr weniger gegeben, da sie sich von vornherein gegen den Markt konstituieren.

Soziale Bewegungen kämpfen meist gegen konkrete Missstände und stehen damit zumindest punktuell antagonistisch zu den bestehenden Verhältnissen, mit dem Ziel gesellschaftlicher Verallgemeinerung ihrer Forderungen. Dabei beziehen sich die Forderungen meist nicht auf eine andere Gesellschaftsform, sondern auf Reformen innerhalb des Bestehenden. Ihre Praxis ist jedoch meist commonistischer als ihre Forderungen, häufig entwickeln sie Beziehungsweisen des Commoning, die über die bestehende Gesellschaft hinausweisen. In sozialen Bewegungen wird Inklusion nahegelegt, da die Beteiligten auf Basis von Freiwilligkeit statt Parteibeschluss oder Bezahlung miteinander kooperieren, aber gleichzeitig abhängig voneinander sind, wenn sie ihre gemeinsamen Ziele erreichen wollen. Durch diese Inklusionsnahelegung wird ein bloßer interpersonaler Rahmen der Inklusion (bspw. der eigene Politgruppe) überschritten, auch bei (temporär) materiellen Bewegungs-Commons wie etwa Klimacamps. Es gibt zwar auch gegenteilige Tendenzen, etwa wenn es bei bestimmten Aktionsformen wichtig ist, nach außen stark zu sein und deshalb nur bestimmte (beispielsweise körperlich fitte) Leute zu inkludieren, wenn Rassismus und Sexismus fortdauern oder wenn die Bewegung einen hohen Leistungsdruck auf die Aktivist*innen ausübt. Dennoch können wir an vielen Stellen in sozialen Bewegungen Commoning sehen. Damit aus reformistischen Bewegungen antikapitalistische werden können, ist es hilfreich, wenn Bewegungen ihre Praktiken als Keimformen einer befreiten Gesellschaft begreifen, und somit von Bewegungen „an sich“ zu Bewegungen „für sich“ werden – entsprechend der Marxschen Bestimmung, wonach der „Kommunismus die wirkliche Bewegung (ist), welche den jetzigen Zustand aufhebt“.

Mit ihrem Wunsch nach gesellschaftlicher Verallgemeinerung sind Bewegungen tendenziell expansiver als die klassisch re/produktiven Commons. Allerdings sind sie auch unbeständiger, und Commoning-Erfahrungen sind oft nur punktuell. Doch wenn sich mehr Menschen innerhalb der Bewegungen dieses Potentials bewusst werden, könnten die Erfahrungen theoretisch eingebettet und ein dauerhafterer Alltagsbezug geschaffen werden. Wenn sich die Bewegungen dann nicht nur als politische Bewegungen, sondern auch als Re/Produktionsgemeinschaft begreifen und organisieren, könnte auch der Tendenz entgegengewirkt werden, dass Menschen ab einem gewissen Alter die Bewegungen verlassen, da eine dauerhafte materielle Absicherung fast nur über (zeitraubende) Lohnarbeit zu haben ist und Kinder und Aktivismus bisher oft schwer vereinbar sind. Allerdings kann der Aufbau von Re/Produktionsstrukturen, die dies auffangen könnten, parallel zur bisherigen Bewegungspraxis überfordernd sein. Wir gehen davon aus, dass er zwar langfristig Bewegungen stärken würde, aber kurzfristig ressourcenaufreibend sein kann und sich deshalb in einem Widerspruchsverhältnis bewegen wird.

Die postfordistische Arbeitsorganisation schließlich weist Momente des Commoning auf (Selbstbestimmung, hierarchiearme Kollektivität, Motivationsorientierung), die jedoch auf die Produktion bzw. die unternehmensinterne Organisation beschränkt bleiben und nicht die (nach wie vor marktförmige) Vermittlung erfassen. Zudem bleibt die postfordistische Arbeitsorganisation häufig auf den globalen Norden beschränkt und erfasst auch hier bei weitem nicht alle Produktionsbereiche. Dort, wo sie jedoch angewandt wird, lernen die Arbeiter*innen Selbstorganisation. Sie können mit über die Produktion bestimmen, setzen sich mit dem Sinn ihrer Arbeit auseinander und werden so mit dem Widerspruch zwischen Gebrauchs- und Tauschwert konfrontiert. Selbstorganisation unter der Prämisse des Verwertungszwangs führt jedoch zu einer Verinnerlichung der Leistungsorientierung und gesteigerter Burn-Out-Gefahr.

Eine antikapitalistische Praxis müsste diese Probleme entindividualisieren und deutlich machen, dass sie ihre Ursache in der Verwertungsorientierung und Marktvermittlung haben. Der Leistungszwang unterminiert das Commoning, da er Unterdrückung von Bedürfnissen voraussetzt; andererseits müssen die Bedürfnisse der Arbeiter*innen auch immer wieder einbezogen werden, damit sie ihre Leistung steigern können. Somit sind postfordistische Arbeitsorganisationsformen von einem widersprüchlichen Verhältnis, von einer Gleichzeitigkeit von Inklusion und Exklusion gekennzeichnet. Dennoch machen Arbeiter*innen hier wichtige Selbstorganisationserfahrungen, auf denen eine commonistische Perspektive aufbauen kann. In Bezug auf die Organisierung ist jedoch zu bedenken, dass einige Gruppen von Menschen, die häufig postfordistisch arbeiten, etwa Ingenieur*innen, Informatiker*innen, Designer*innen und Kreative, bisher kaum gewerkschaftlich organisiert sind.

Der Postfordismus prägt jedoch den Alltag in vielen Bereichen: Da Selbstorganisation und die damit verbundenen „Soft-Skills“ auf dem Arbeitsmarkt zunehmend gefragt sind, werden sie nicht nur im Betrieb gelernt, sondern auch in der Schule und Uni vermittelt. Wir vermuten, dass dies mit u.a. feministischen Interventionen mit dazu beigetragen hat und beiträgt, dass auch für soziale Bewegungen hierarchische Partei- oder Gewerkschaftsstrukturen nicht mehr attraktiv sind, sondern sie sich deswegen heute vermehrt über Commoning organisieren.

Für die Perspektive einer gesellschaftlichen Verallgemeinerung des Commoning halten wir ein stärkeres Zusammenführen der hier skizzierten unterschiedlichen Formen von Commons in Theorie und Praxis für sinnvoll. Soziale Bewegungen können dabei von den klassisch re/produktiven Commons lernen, wie sie auch ihre materielle Re/Produktion anders organisieren können. Für die klassisch re/produktiven Commons könnte eine stärkere Kooperation mit Bewegungen hilfreich sein, wenn sie bedroht sind oder sich in Kämpfen mehr Ressourcen aneignen können (z.B. Land für Solawis, Häuser für Hausprojekte, Betriebe für Commons-Produktion). Zwischen beiden gibt es schon Verbindungen, und viele re/produktive Commoner*innen sind auch bereits politisiert, doch handelt es sich dabei unserer Erfahrung nach bisher vor allem um einzelne persönliche Verbindungen. Wir wollen mit unserem Buch einen Beitrag dazu leisten, dass sich diese Bereiche inhaltlich, sozial und praktisch als Momente einer Bewegung verstehen und aufeinander beziehen. Damit die heute marktförmig organisierten Produktionsbereiche zu echten Commons werden können, die über das postfordistisch-restriktive Commoning hinausgehen, braucht es Aneignungskämpfe, die auch zu einer anderen Vermittlung führen. Diese wird es im großen Stil wahrscheinlich erst im Dominanzwechsel geben können (dazu im nächsten Abschnitt mehr), doch in der Vorbereitung kann die neue Subjektivierung des Postfordismus vermutlich behilflich sein. Zudem könnten solche Kämpfe durch Vernetzung mit anderen sozialen Bewegungen vorbereitet werden, die sie auch heute schon bei Arbeitskämpfen, v.a. bei jenen um qualitative Verbesserungen (die Commoning noch wesentlich näher kommen als reine Lohnkämpfe), unterstützen könnten. Über solche Verbindungen könnte auch die partielle Perspektive von Arbeitskämpfen (vom Standpunkt der Lohnarbeit bspw. für Arbeitsplätze und Wachstum) durch die Verbindung mit anderen Bewegungen und ihren Forderungen (ökologische, feministische, careorientierte, etc.) mehr und mehr aufgehoben werden. Die Arbeiter*innen würden dann nicht nur als Arbeiter*innen angesprochen, sondern z.B. auch als Eltern, deren Kinder in der Klimabewegung aktiv sind. Das gilt nicht nur für postfordistische Betriebe, sondern für alle. Mit dem zunehmenden krisenhaften Zerfall des Kapitalismus werden jedoch – vor allem in den fordistischen Bereichen – immer mehr Menschen aus dem Verwertungsprozess als Unverwertbare ausgestoßen. Commons könnten dabei für mehr und mehr Menschen eine Option darstellen, ihre materielle Existenz zu sichern.

Um das Verhältnis von Commons zu Kapitalismus- und Herrschaftskritik zu verdeutlichen, wollen wir betonen, dass der Kampf für Commoning notwendig auch antirassistisch, feministisch, queer und antiableistisch, also ingesamt herrschaftskritisch ist. Die verschiedenen Bestrebungen können ebenfalls als Kämpfe für mehr Commoning verstanden werden, da sie eine größere kollektive Verfügung über symbolische und soziale aber auch materielle Mittel fordern und mehr Freiwilligkeit herstellen: Wenn sich etwa von Rassismus Betroffene Gehör verschaffen und gehört werden, bedeutet dies eine größere kollektive Verfügung über soziale Prozesse, und wenn Frauen erkämpfen, dass die Reproduktionsarbeit nicht auf sie abgewälzt wird, dann wird hier Reproduktionsarbeit verhandelt, möglicherweise bedürfnisorientierter aufgeteilt und so mehr Freiwilligkeit hergestellt. Dabei sehen wir, dass sich diese verschiedenen Exklusionslinien mit der Exklusionslogik des Kapitalismus verbinden und letztere erstere wiederum stärkt. Der Kapitalismus kann nicht in einem emanzipatorischen Sinne aufgehoben werden, wenn nicht auch gleichzeitig all diese Diskriminierungsformen bekämpft werden. Die Praxis von Commoning als Freiwilligkeit und kollektive Verfügung ist in sich antikapitalistisch, antisexistisch, antirassistisch – insgesamt gegen Herrschaft. Gesellschaftliche Transformation bedeutet für uns einen gleichzeitigen oder wechselseitigen Prozess aus Selbstveränderung und Veränderung der Bedingungen.

Noch mehr diskutieren müssen wir die Frage, inwiefern sich im Care-Bereich Keimformen entwickeln oder wie sich darin mehr Commoning entfalten könnte. Unklar ist uns auch noch, wie Commons-Bewegungen im globalen Süden, wo sie oft noch stärker auf kleinbäuerliche Subsistenz zielen, aussehen und welche Rolle sie für eine globale commonistische Transformation spielen.

Aneignung und Kämpfe

Wenn wir eine gesamtgesellschaftliche Verallgemeinerung von Commoning anstreben, müssen wir uns mit Eigentumsfragen auseinandersetzen und überlegen, wie Land, Immobilien und Produktionsmittel aus individuellem, kollektivem und staatlichem Eigentum gelöst und commonisiert, also in Commons verwandelt werden können. Wir sehen fünf verschiedene Wege, wie eine solche Aneignung passieren kann, die sich voneinander unterscheiden aber manchmal auch überschneiden:

(1) Zum einen ist es möglich, Ressourcen, die fürs Commoning gebraucht werden, zu kaufen. Dies ist ein legaler Weg, der Commons eine relativ sichere Existenz erlaubt, wie dies etwa beim Mietshäusersyndikat der Fall ist, über das Häuser gekauft und dem Markt entzogen werden. Ein offensichtlicher Nachteil ist, dass es dafür Geld braucht und es sehr unwahrscheinlich (eigentlich unmöglich) ist, dass Commoner*innen irgendwann in der Lage sein werden, den ganzen Kapitalismus einfach „aufzukaufen“.

(2) Ein weiterer Weg, der sich innerhalb der Spielregeln des Bestehenden bewegt, ist der Weg über staatliche Reformen, etwa über Commons-Public-Partnerships, bei denen z.B. Städte Land und andere Ressourcen für Commons zur Verfügung stellen. Auch Bewegungen, die den staatlichen Spielraum für Enteignungen ausnutzen wollen (wie „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ in Berlin) könnten dafür sorgen, dass die enteigneten Ressourcen in Commons überführt werden. Ein Problem besteht hierbei darin, dass diese Commons dem Staat gegenüber ihre Autonomie behaupten müssen, um nicht zu lediglich staatlich-öffentlichen Verwaltungsstrukturen ein bisschen mehr Mitsprache hinzuzufügen. Ein bedingungsloses Zur-Verfügung-Stellen ist schließlich nicht im Interesse des Staates, ist aber je nach Kräfteverhältnissen auch nicht auszuschließen.

(3) Eine aufständische Aneignung in Form von Besetzungen ist eine direkte Aktion, ohne den Umweg über den Staat. Allerdings ist sie aufgrund ihrer Illegalität von Räumungen und anderen Repressionen bedroht. Ein besetztes Haus, eine durch die Arbeiter*innen besetzte und übernommene Fabrik, ein Stück Land o.ä. längerfristig als Commons zu sichern, geht meist nur, wenn nach der Besetzung irgendwann doch noch ein Kauf und/oder eine Verhandlung mit dem Staat folgt. Eine öffentlichkeitswirksame Besetzung kann hierin aber die Verhandlungsposition stärken. In selteneren Fällen (auch wenn dies in Krisensituationen zunehmen mag), wenn die Bewegung stark ist, kann es auch sein, dass der Staat von Räumungen absieht, um Aufstände oder einen Legitimitätsverlust zu verhindern.

(4) Da die drei erstgenannten Wege mit Problemen verbunden sind, nutzen Commoner*innen oft das, was sich konfliktfreier aneignen lässt: Alles, was im Verwertungsprozess an Resten anfällt. Dies ist etwa beim Foodsharing der Fall oder bei Kostnixläden, die gebrauchte Kleidung o.ä. verteilen. Oft überschneidet sich das mit den drei oberen Strategien: Häuser in von Landflucht betroffenen Regionen können billiger gekauft werden, eine Stadt wird eher bereit sein, Flächen zur Verfügung zu stellen, die derzeit nicht kommerziell genutzt werden (können) und wird auch Besetzungen auf solchen Flächen eher dulden.

(5) Die bisherigen Punkte sind Möglichkeiten, sich hier und heute Ressourcen anzueignen, um Commons auszuweiten. Darüber hinaus besteht noch der Weg einer revolutionär-bruchhaften Aneignung. Mit der aufständischen Aneignung hat sie gemein, dass sie über direkte Aktionen verläuft, doch wenn diese massenhaft innerhalb relativ kurzer Zeit geschehen, dann kann damit auch das System ausgehebelt und der Dominanzwechsel vollzogen werden. Auf welche Art und Weise sich so eine commonistische Bewegung dann noch mit dem Staat oder mit anderen Kräften, die herrschaftsförmige Entwürfe vertreten, auseinandersetzen müssen, diskutieren wir im nächsten Abschnitt. Ein Problem von schneller, bruchhafter Revolution ist jedoch auch, dass Commoning ein Lernprozess ist, der die Menschen in einer zeitlich kurzen Umbruchssituation überfordern kann. Bisher haben wir immer betont, dass eine freie Gesellschaft nicht von heute auf morgen entstehen kann. Deshalb halten wir es nach wie vor für sinnvoll, wenn bereits vor dem Dominanzwechsel über die Möglichkeiten, die die vier erstgenannten Wege bieten, möglichst viele Ressourcen commonisierend angeeignet werden; denn ohne massenhafte Aneignung kein Commonismus. Betonen möchten wir an dieser Stelle wie hilfreich und zukunftsweisend es wäre, mit diesen angeeigneten Gütern tatsächlich eine zwar eingeschränkte, aber relativ selbstständige Commons-Sphäre mit partiell in sich geschlossenen Re-/Produktionszyklen aufzubauen.

In Bezug auf Aneignungen bleibt noch zu sagen, dass eine reine Aneignung unserer Ansicht nach nicht ausreicht, da die gesellschaftliche Organisation nicht nur eine Frage von Eigentumsverhältnissen, sondern gerade auch von Vermittlungsformen ist. Wenn sich Arbeiter*innen einen Betrieb aneignen, aber ihre Produkte als Waren nach wie vor noch auf dem Markt verkaufen müssen, um Rohstoffe und Maschinen einkaufen und Löhne bezahlen zu können, unterliegen sie ebenfalls der Verwertungslogik, sonst könnte der Betrieb in der Konkurrenz nicht bestehen. Die Vermittlung anders zu organisieren, ist in einigen Bereichen bereits heute möglich, wie etwa Solidarische Landwirtschaften zeigen. Bei Betrieben, die stärker in große Lieferketten eingebunden sind, ist dies jedoch deutlich schwieriger. Es ist wohl kein Zufall, dass wir Commons heute vor allem entweder im Bereich der vorwiegend immateriellen Produktion (Software), in kleinbäuerlicher Landwirtschaft oder bei Wohnraum sehen und nicht im materialintensiven High-Tech-Bereich. Hier wird eine Commonisierung wahrscheinlich erst im Dominanzwechsel möglich sein oder aber wenn massenhafte Aneignungen zeitgleich und global, also entlang der gesamten Produktionskette, stattfinden. Zusammenfassend ist die Frage der Aneignung also nicht nur, wie von vielen Theorien angenommen, eine Frage der Arbeiter*innenkontrolle über Produktionsmittel, sondern vielleicht viel entscheidender, die massenhafte Schaffung von nicht-kapitalistischer, also commonistischer Vermittlung und Vernetzung.

Krise und Kairos

Wie wir im Abschnitt zu Bedingungen des Dominanzwechsels bereits geschrieben haben, wird der Kapitalismus wohl nur durch den Commonismus ersetzt werden, wenn er von einer großen Zahl der Menschen nicht mehr als legitim angesehen wird und/oder ihre Lebensbedingungen nicht mehr herstellt und es für sie funktionaler ist, ihre Bedürfnisse über Commoning zu befriedigen statt über Markt und Staat. Dies ist der Moment der Krise oder des Kairos. Kairos ist der griechische Gott der Gelegenheit und eine Denkfigur aus der Philosophie10. Die Kairos-Idee verdeutlicht, dass Geschichte weder determiniert ist noch ausschließlich von unserem voluntaristischen Handeln abhängt. Stattdessen gibt es Momente des Kairos, in denen anderes möglich wird, wenn die Gelegenheit ergriffen wird. Krisen sind solche Momente. Dabei können Krisen sehr unterschiedlich aussehen. In Kapitalismus aufheben haben Simon und Stefan bereits zwischen subjektivem und objektivem Faktor der Krise unterschieden und die globale Stoffwechselkrise (v.a. in Form der Klimakrise) sowie die Verwertungskrise als Krisentendenzen ausgemacht, die den Kapitalismus fundamental in Frage stellen können. Diese verschiedenen Formen und Faktoren von Krise und ihre Möglichkeiten zum Dominanzwechsel wollen wir im Buch weiter diskutieren.

Krisen haben immer objektive und subjektive Faktoren, aber wir sind uns unsicher, wie groß der objektive Faktor sein muss. Dieses Spannungsfeld lässt sich konkretisieren in Szenarien einer absoluten Versorgungskrise auf der einen Seite, in der auch die unmittelbaren sinnlich-vitalen Bedürfnisse nicht oder kaum über Markt und Staat befriedigt werden können (einer „Krise des Brotes“), und bzw. einer Legitimationskrise, die eher eine Krise der produktiven Bedürfnisse11 oder einer relativen statt einer absoluten Verelendung ist (einer „Krise der Köpfe“), auf der anderen Seite. Eine absolute Versorgungskrise ist entweder denkbar durch die ökologischen Folgen der Klimakatastrophe, wobei dann auch der Commonismus vor dem Problem stünde, die Bedürfnisse der Menschen mit deutlich geringeren Ressourcen zu befriedigen, oder als Verwertungskrise bis hin zu einem Zusammenbruch des Geldsystems. Bei einem solchen Szenario wäre der sinnlich-stoffliche Reichtum noch da, nur die Vermittlung über Geld würde nicht mehr funktionieren, weshalb es nahegelegt wäre, die Vermittlung nicht mehr marktförmig zu organisieren.

Eine Legitimationskrise könnte entstehen, wenn sich in breiten Teilen der Gesellschaft die Erkenntnis durchsetzt, dass die Klimakrise im Kapitalismus nicht gelöst werden kann. Sie ist dann insofern eine Krise der produktiven Bedürfnisse, als dass für viele Jugendliche ihre langfristige Sicherheit enorm in Frage gestellt wird. Eine Krise der produktiven Bedürfnisse kann sich auch darin äußern, dass Menschen das, was sie eigentlich gerne tun wollen und was sie sinnvoll finden, nicht tun können und stattdessen unter Marktbedingungen klima- oder menschenschädliche Produkte (z.B. Panzer, Autos, Kohlestrom) herstellen müssen. Eine Krise der produktiven Bedürfnisse könnte den Commonismus, der gerade diese aufgrund seiner inhärenten Freiwilligkeit jenseits von erzwungener Arbeit besonders gut befriedigen kann, näher legen als eine reine Krise der sinnlich-vitalen Bedürfnisse, die z.B. auch staatssozialistisch lösbar wäre.

Wir wollen uns noch mehr mit der Frage beschäftigen, warum Menschen rebellieren und unter welchen Bedingungen dadurch eine andere Gesellschaftsform möglich werden kann. Das ist empirisch nicht immer so einfach, ist der Ausgangspunkt von Bewegungen zunächst doch oft eher kleiner oder symbolischer Natur, wie etwa die Fahrpreiserhöhung der ÖPNV-Tickets in Chile oder die Benzinsteuererhöhung im Falle der Gelbwesten-Bewegung in Frankreich; klarerweise steht dahinter deutlich mehr. Die meisten Revolutionen und Rebellionen scheinen durch Krisen in der sinnlich-vitalen Bedürfnisbefriedigung (Hunger u.a.) ausgelöst worden zu sein. Die 68er-Bewegung, zumindest im globalen Norden, war jedoch eine Rebellion, die auf einem relativ hohen Stand der materiellen Sicherheit stattfand. Sie war u.a. eine Bewegung für mehr Selbstentfaltung gegen den verwalteten fordistischen Kapitalismus und entsprang somit einer Krise der produktiven Bedürfnisse. Sie führte jedoch unter anderem deshalb nicht zu einer anderen Gesellschaftsform, weil einige dieser Bedürfnisse in den Kapitalismus integrierbar waren und zu einer Modernisierung hin zum Postfordismus führten. Die heutigen Ansätze einer Krise der produktiven Bedürfnisse, die wir in Bezug auf die Klimakrise sehen, aber auch in einer zunehmenden Perspektivlosigkeit, die durch weitere Schübe der Verwertungskrise entsteht, bieten unserer Ansicht nach deutlich weniger Integrations- und Modernisierungspotential für den Kapitalismus.

Krisen führen jedoch nicht automatisch zu emanzipatorischen Entwicklungen, sondern auch autoritäre Lösungsstrategien können für viele attraktiv werden, wie nicht zuletzt der Aufstieg von extrem rechten Parteien und Regierungschefs in den letzten Jahren zeigt. Deshalb wird sich auch eine commonistische Bewegung im Handgemenge der Krise mit solchen Kräften auseinandersetzen müssen. Hinzu kommen die Kräfte im Staat, die ihre Macht behalten wollen und die Gefahr der Autoritarisierung und Staatswerdung der Bewegung selbst. Wenn sich beispielsweise ein commonistisches Gebiet gegen andere Kräfte verteidigt, kann ein Herrschaftsverhältnis zwischen den bewaffneten Einheiten und den Menschen entstehen, die sich der Re/Produktion widmen, da es für die bewaffneten Einheiten nahelegt sein kann, knappe Ressourcen möglichst auf sich zu lenken und sie auch die Mittel haben, sich gegen andere durchzusetzen. Historisch kam dies immer wieder vor; im Spanischen Bürgerkrieg zwangen selbst Anarchist*innen den Arbeiter*innen eine strenge Arbeitsdisziplin auf. Ein commonistisches Szenario unterscheidet sich davon aber insofern, als dass es eine stärkere nicht-hierarchische, nicht erzwungene Verbindung zwischen den Commonist*innen gibt, einen höheren Grad der Vergesellschaftung und der freiwilligen Kooperation, die hoffentlich bereits vor dem Dominanzwechsel geübt wurde, und die ein Umschlagen der Gewalt nach innen unwahrscheinlicher macht.

Auch die Gefahr einer Konterrevolution sehen wir im Commonismus als geringer (keineswegs aber als ausgeschlossen) an als bei bisherigen Revolutionsversuchen. Schließlich wurden Herrschaft und Lohnarbeit bisher von keiner Revolution wirklich aufgehoben, sodass es immer noch Machtzentren gab, die zurück erobert werden konnten. Wenn die Befreiung aber alle Lebensbereiche umfasst und das Lohnarbeitsprinzip aufgehoben ist, wird es deutlich schwieriger, wieder die Herrschaft an sich zu reißen und Menschen zu etwas zu zwingen – letztlich würde das nur mit roher Gewalt oder mit Überzeugungskraft gehen. Zudem glauben wir, dass der Commonismus prinzipiell allen Menschen ein glücklicheres und erfüllteres Leben bieten kann und deshalb die meisten Menschen wenig Gründe haben, gegen den Commonismus zu revoltieren, wenn er sich einmal entfalten konnte. In dem Prozess dorthin werden viele sexistisch, rassistisch oder im Klassenverhältnis Privilegierte allerdings das Gefühl eines Verlustes haben. Wir wollen mögliche Probleme und Gefahren nicht leugnen, sondern lediglich einige Tendenzen bestimmen und auf die grundlegend neue Qualität verweisen, die eine commonistische Transformation auch gegenüber vergangenen Transformationsversuchen hat. Viele Punkte sind dabei noch offen, und wir freuen uns über Kritiken und auf hoffentlich zahlreiche kontroverse, solidarische und leidenschaftliche Diskussionen auf dem Weg hin zu diesem Buch und darüber hinaus.

1 https://commonism.us/

2 Zur Auseinandersetzung mit Reformen siehe https://www.akweb.de/bewegung/reform-und-revolution-konstruktive-geschwister/

3 Vgl.: https://keimform.de/2020/kritik-des-demokratischen-sozialismus/ und https://keimform.de/2020/warum-der-sozialismus-wahrscheinlich-nicht-oekologisch-wird/

4 https://keimform.de/2019/tuecken-der-belohnung/

5 Zur „Freisetzung der Konkurrenz“ als Keimform des Kapitalismus vgl. Gerstenberger (2018): Markt und Gewalt. Die Funktionsweise des historischen Kapitalismus, S.49ff

6 https://keimform.de/2020/schleicht-sich-commoning-in-die-marktlogik/

7 Es gibt auch Gegentendenzen, etwa dass der Zwischenhandel wegfällt oder durch nicht-lohnarbeitsförmige Beiträge weniger Lohnkosten anfallen. Wir sind unsicher wie stark diese Gegentendenzen zu gewichten sind, sehen aber real, dass sie bisher nicht ausreichen, um eine Ausbreitung der Commons wesentlich zu befördern.

8 Vgl. https://keimform.de/2020/keimformtheorie-2-0/

9 Wobei sich real das Problem stellt, dass eine Commonisierung von materiellen Gütern als Vergesellschaftung erst mit dem Dominanzwechsel möglich ist. Davor realisiert sich die kollektive Verfügung über materielle Güter häufig nur als Vergemeinschaftung und der Einbezug von Bedürfnissen jenseits der Commoner*innen ist tendenziell ethisch motiviert, außer wiederum in einer Commons-Sphäre oder sozialen Bewegungen, wo das Teilen von Zelten, Essen, o.ä. wiederum funktional ist für die eigenen Bedürfnisse – aber es betrifft noch immer nur die Bewegung oder die Sphäre und noch nicht die Gesellschaft.

10 Vgl. Alexander Neupert-Doppler (2019): Die Gelegenheit ergreifen. Eine politische Philosophie des Kairós. Wien: Mandelbaum.

11 Sinnlich-vitale Bedürfnisse betreffen die unmittelbaren Existenzvoraussetzungen (Ernährung, Unterkunft, Pflege, Sicherheit etc). Produktive Bedürfnisse zielen auf die Teilhabe an der vorsorgenden Herstellung der materiellen, symbolischen und sozialen Lebensbedingungen, die die unmittelbaren Existenzvoraussetzungen sicherstellen.

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