Keimformtheorie 2.0?
Vor nem Monat hatten Hannes und ich ne Diskussion und da kam eine neue Idee auf: Bevor der Tausch gesellschaftlich dominant wurde, machte er noch eine weitere Veränderung durch: Er schuf sich sein eigenes System im Kleinen. Er löste hierbei noch nicht den Feudalismus als Gesellschaftssytem ab, sondern innerhalb des Feudalismus entstanden soziale Sphären welche von Tauschbedingungen beherrscht waren. In diese Sphären entfaltete sich der Tausch das erste mal systematisch, er brachte seine Logik von Konkurrenz, Verwertungszwang, Lohnarbeit hervor, aber eben nicht als dominante gesellschaftliche Logik, aber sehr wohl als transpersonal-systematische Logik. Stimmt dies müsste man eine zweite Stufe zwischen Funktions- und Dominanzwechsel einfügen. Wie immer dienen diese Überlegungen nicht nur der historischen Wissenschaft, sondern der Frage was dies für commonistische Transformation bedeutet. Zur Illustration ein kurzer verkürzter Blick in die Empirie.
Kapitalistischer Bereichswechsel
Tausch und das dazugehörige Tauschnetzwerk (Märkte) dehnten sich ab dem hohen Mittelalter v.a. in den Städten aus, aber waren so verstreut (wenn auch häufig sehr dünn), dass sich auch auf dem Land Geldschätze finden lassen (vgl LeGoff). Diese Märkte waren aber stark politisch reguliert. Zünfte teilten den Markt unter sich auf, Städte und Fürsten vergaben Monopolrechte und schufen durch Zölle eine stark hierarchisiertes Tauschnetzwerk. Keineswegs trafen sich hier Freie und Gleiche, der Markt war politisch und sozial durchzogen, eingebettet. Ökonomische Akteur*innen wie Handelshäuser standen wohl deutlicher in politischer als ökonomischer Konkurrenz: Erfolg baute stark auf enge Verbindungen zu den Herrscherhäuser und politische Privilegien, auch wenn effiziente Geschäftsführung, gute Produkte und niedrige Preise sicherlich nicht unerheblich waren.1
Nun, im Laufe der frühen Neuzeit, aber v.a. mit 18. Jahrhundert, wurden politische Privilegien zunehmend abgebaut, der Markt schälte sich aus seiner politischen Hülle und wurde immer mehr zum ‚freien‘ Markt. Erst jetzt entwickelt er seine eigentliche Dynamik. Heide Gerstenberger spricht hier von der „Freisetzung der Konkurrenz“: „Kapitalismus ist ein Wirtschaftssystem, dessen besondere Dynamik auf Konkurrenz basiert. […] Auch Märkte gab es lange vor und außerhalb kapitalistischer Strukturen, in vieler Hinsicht aber war Konkurrenz auf Märkten dadurch beschränkt, das lokale oder überlokale Obrigkeiten Märkte regulierten und zwar sowohl durch die Verleihung von Handelsprivilegien als auch durch Sanktionierung von Produktionsbeschränkungen […] In der Durchsetzung des Kapitalismus wurden derartige Regulierungen bekämpft und schließlich beseitigt“ (Gerstenberg 2018: 49). Nun gelangte die politische Konkurrenz ins Hintertreffen und die ökonomische Konkurrenz errichtete sein Reich: Hier regiert Preis, Produktivität, Profit. Bei welchen Gütern an welchen Orten dies zuerst der Fall war (ich hab von relativ integrierten Weizenmärkte im England des 16. Jh. gelesen, aber hatte nicht auch die Hanse binnenwirtschaftlich Zollgleichheit?), bleibt eine Frage der historischen Forschung. Entscheidend ist: Dem Tausch wurde seine Systemform ‚freier Markt‘ sphärenweise geschaffen.
Stimmt diese historische Beobachtung grob, so gibt es zwischen Funktionswechsel (Entstehung der Keimform als neue Kooperationsweise/Vermittlungsform) und Dominanzwechsel (Durchsetzung der Keimform als gesellschaftliche prägende Kooperationsweise) einen weiteren Schritt. Vorschläge werden gerne angenommen, ich dachte an so etwas sie „Sphärenwechsel“ (weil er nur in bestimmten Sphären ist, aber Sphäre klingt halt zu groß eben nach politischer, kulturell, ökonomischer Sphäre) oder „Bereichswechsel“ (Bereich ist etwas nichtssagend, aber trifft den Inhalt genauer), vielleicht auch etwas mit System und Logik, da hier ja die Keimform als transpersonales System im Kleinen auftritt. Naja, wie auch immer. Sehen wir einmal inwiefern uns dieser Gedanke bei unserer Transformation weiterhilft.
Commonistischer Bereichswechsel
Ich glaube er könnte uns bei einer zentralen Frage helfen: dem Ende der Ethik in der Kooperation der Commonsprojekte. Im Moment funktionieren Commonsprojekte für eine (meist interpersonale) Gruppe. Die Kooperation zwischen den Commonsprojekten bleibt partiell und (nach meiner stark mangelnden Empirie) idealistisch, sie basiert v.a. auf politisch-moralischer Überzeugung: Es wäre wichtig einander zu unterstützen und die anderen einzubeziehen. Mit dem commonistischen Bereichswechsel trifft aber Commoning nicht nur im Commonsprojekt auf, sondern als Verbindung zwischen den Commonsprojekten. In neuen Gedanken wird dies immer wieder „freie Kooperation“ genannt und der „Druck der freien Kooperation“. Es geht darum, dass Commonsprojekt im Commonismus nahegelegt ist ökologisch zu re/produzieren, andere Bedürfnisse einzubeziehen, etc. weil sonst ihre Kooperationspartner*innen die Kooperation aufkündigen oder einschränken. Verteilt ein Teddybärenbetrieb seine Teddybären sehr ungerecht, dann werden die Stofflieferantenbetriebe oder die Logisitikbetriebe nachhaken oder die Kooperation ganz einstellen. Gerade diese Dynamik fehlt aber bei vereinzelten Commons und macht verallgemeinerte Inklusion zu einer primär moralischen, idealistischen Veranstaltung und nicht zu einer materialistisch-strukturellen. Mit dem Bereichswechsel (vl eher Logikentwicklung? Systemschaffung? Ja zu groß) wird nun eben jene Struktur geschaffen, welche die Logik für die einzelnen Elemente verpflichtend macht – bei Tausch Verwertung, bei Commoning Inklusion.
Commonsverbünde unterscheiden sich in ihrer bisherigen Konzeption vom Bereichswechsel, dass sie zu klein sind, ob sie einen Zwischenschritt darstellen bleibt offen. Empirisch bin ich mir nicht sicher wo man den Bereichswechsel schon sieht. Möglicherweise bei politisch selbstorganisierten Föderationen wie Ende Gelände oder offenere wie Szene.´-Organisation in einer Stadt: Die einzelnen Gruppen müssen dabei einige oder die meisten anderen Gruppen und deren Agenda (Bedürfnisse klingt hier etwas hoch) mitdenken, sonst stellen diese die Kooperation ein. Aber die Kooperation selbst ist nur schwach ausgebildet, die Gruppen sind relativ unabhängig voneinander, man befindet sich auch stärker im Bereich der Produktion symbolisch und sozialer Mittel. Der Bereichswechsel im Bereich bestimmter materieller Mittel wäre viel prägender, da hier die Abhängigkeiten deutlicher sind. Naja, unsicher bleibt leider wie wir zum Bereichswechsel kommen. Ob das Commoning in kapitalistischen Unternehmen ähnlich beschränkt sein könnte wie die Regulation des Tausches im Feudalismus ist zumindest fraglich, es stellt gerade keine transpersonalen Beziehungen her. Vielleicht ist es Aufbauarbeit in sozialen Bewegungen.
Keimformtheorie 2.0
Mit dem Bereichswechsel müsste die Keimformtheorie und im Besonderen der Fünfschritt reformuliert werden. Es gäbe drei qualitative Wechsel: Funktions-, Bereichs- und Dominanzwechsel. Ich würde auch noch eine weitere Veränderung vorschlagen: Jeder dieser Wechsel hat auch eigene Vorbedingungen und einen eigenen Entwicklungswiderspruch – diese können sich auch überschneiden oder gar identisch sein, aber es scheint mir doch sinnvoller, diese zuerst zu unterscheiden. Die Vorbedingung für die Ausbildung von Commoning muss keineswegs globale Vernetzung sein, aber vielleicht für ihre gesellschaftliche Verallgemeinerung schon. Neuformuliert:
- Funktionswechsel
- Vorbedingung
- Entwicklungswiderspruch
- Bereichswechsel
- Vorbedingung
- Entwicklungswiderspruch
- Dominanzwechsel
- Vorbedingung
- Entwicklungswiderspruch
- Umstrukturierung
Umstrukturierung wäre in dieser Aufzählung nicht auf der gleichen logischen Ebene wie die anderen Schritte und eher eine Folge des Dominanzwechsels. Gut, was meint ihr?
1. War der regulierte Tausch nicht noch die Keimform eines ganz anderes Systems: Des Staatssozialismus? Wäre der Markt eben nicht ‚frei‘ geworden, sondern weiter politisch reguliert hätte sich diese Regulation zur Staatsplanung entwickeln müssen? Solange die Märkte noch weitgehend städtisch waren, ein Großteil der Grundversorgung über Subsistenz stattfand, etc. konnte die politische Marktregulation inkohärent und partiell bleiben. Wenn aber dieser regulierte Markt und Tausch die gesellschaftliche Koordination zunehmend hergestellt hätte, hätten sich sicherlich diese Staaten durchgesetzt, welche diese Koordination effizient und kohärent, und dies bedeutet bei dieser Art von Planung staatlich und zentralisiert organisiert hätten. Das Vielerlei aus Zünften, städtischen Verordnungen, fürstlichen Privilegien hätte sich zu einem ökonomisch-staatlichen Planungsbüro wandeln können, so wie es in einigen Bereichen sicher schon abzusehen war. ↩
Wenn man wirklich ALLE Momente der Entstehung einer neuen Gesellschaftsordnung in das Konzept einfügt, entsteht was ziemlich Neues. Wichtig finde ich dabei, dass nicht nur wie bei einem Baum Verzweigungen hinein müssen, sondern die Zweige, die sich in der Entwicklung der Gesellschaft auftun, dann zusammenwachsen, wenn Neues entsteht. Das Keimformkonzept kam aus der Kritischen Psychologie, wie der Prozess der Entstehung und Entfaltung des Psychischen NUR als Differenzierungsprozess betrachtet wurde, von dem ja nur der Hauptpfad dann auch von hinten her rekonstruiert wird. Das Besondere an der geschichtlichen Evolution ist aber das Zusammenkommen von Faktoren aus vielerlei Regionen, Praktiken etc, die in so einem Differenzierungskonzept gar nicht vorkommen.
@Simon:
Das ist eben die Frage – du sagst ja selbst, dass die Märkte im Mittelalter und in anderen nichtkapitalistischen Gesellschaften stark „politisch reguliert“ waren – wobei man da auch die Selbstorganisation der Beteiligten etwa in Gilden/Zünften nicht vergessen sollte. Nicht überall, wo es Märkte gab, gab es Lohnarbeit (in großem Stil) und auch wie weit/in welcher Weise Konkurrenz und Verwertungszwang in nichtkapitalistischen Märkten schon vorhanden waren, müsstest du zeigen, statt es einfach zu behaupten.
Du zitierst ja selbst Heide Gerstenberger: „Auch Märkte gab es lange vor und außerhalb kapitalistischer Strukturen“ – vergisst dann aber das „lange“ und das „außerhalb“ und tust so, als wäre „der Markt“ quasi ein Vorläufer des Kapitalismus, dem dieser dann zwingend auf dem Fuß folgte. Dabei bist du doch Historiker (oder auf dem Weg dorthin) und weißt ja wohl selber, dass das nicht stimmt!
Zudem ist das genau die „Kommerzialisierungsthese“ – Markt/Handel führt automatisch zum Kapitalismus –, der Ellen Wood vehement widerspricht. Wenn du ihre Argumente für falsch hältst, müsstest du dich trotzdem mit ihnen auseinandersetzen, statt sie einfach unter den Tisch fallen zu lassen.
Hm, vl haben wir uns da falsch verstanden. Nichtkapitalistische Märkte sind gerade noch nicht von Konkurrenz und Verwertungszwang geprägt, da würde ich mit Heide und glaub auch dir mitgehen. Ich glaube die Märkte im Mittelalter sind quasi die Keimformen von zwei Gesellschaftsformen: Kapitalismus und Staatssozialismus. Und zuerst sind sie tatsächlich dem Staatssozialismus ähnlicher, hätten sie sich ausgeweitet hätten sich Zünfte, Fürstinnen etc. auf eine kohärente Planungen der Märkte einigen müssen und somit sowas wie Staatssozialimus hervorbringen müssen.
Das Märkte zu Kapitalismus führen ist gerade das besondere in Europa indem hier die Privilegien beseitigt werden. Gleichzeitig entsteht aber nur in Europa eine weitgehende Marktvermittlung der gesellschaftlichen Beziehungen, also liegt es nahe zumindest einen Zusammenhang da zu vermuten.
„Gleichzeitig entsteht aber nur in Europa eine weitgehende Marktvermittlung der gesellschaftlichen Beziehungen,“
das scheint mir ein eurozentristischer und kolonialistischer Mythos. Natürlich gab es eine „weitgehende Marktvermittlung der gesellschaftlichen Beziehungen“ in allen Städten zu allen Zeiten. Wie sollen denn die Leute sonst an ihr Essen gekommen sein? Der Unterschied ist halt die Art in der diese Märkte reguliert sind/waren und ihre Reichweite, aber das ist überhaupt kein prinzipieller Unterschied, weil _alle_ Märkte immer reguliert sind, sonst gäbe es sie nicht. Früher gabs halt Zunftregeln und Zinsverbot heute Energieeinspeiseverordnungen und GDPR. Unregulierte Märkte erzeugen keinen Kapitalismus, weil sie einfach nicht überlebensfähig sind und es sie nirgends gegeben hat. Und Christian hat Recht damit, dass das Kommerzialisierungstheorie ist und die halte ich tatsächlich rein logisch für widerlegt. Irgendwie vermischen sich da alte Histomat-Mythen mit alten liberalen Mythen.
ich sehe schon wir führen eine historischen Diskussion keine um den Text, aber so sei es :). Ich bin mir nach meinen historischen Studien noch nicht ganz sicher, aber ich würde der Aussage vorher zustimmen, es gibt vielerlei andere Art der Vermittlung als Markt, staatliche, per oikos, etc. Die Vorstellung das nur Markt so etwas kann ist liberaler Quatsch. Ich halte nicht alles bei Bockelmann klug aber seine ersten Kapitel sind da ganz gut. Trotzdem würde ich für bspw. das römische Reich eine stärkere Marktvermittlung schätzen, wobei man 1. abziehen muss die Leute die sich selbst versorgt haben über ihre Ländereien (also ein Großteil der Senatoren, der equitores und ihr ganzer Hausstand) 2. römische Bürgerinnen die vom römischen Staat einiges erhielten.
Und ja, alle Märkte sind reguliert. Aber so what. Nach dem Argument ist der Staatssozialimus auch nur ein regulierter Markt. Aber es ist halt etwas anderes ob die ökonomischen Akteurinnen v.a. politisch konkurrieren (also um Privilegien, Einfluss, Beziehungen zu Herrscherhaus, Fürstinnen oder halt sozialistischen Staat) oder ökonomisch konkurrieren (billige Preise, gute Produkte, etc.). Natürlich vermengen sich beide, aber eine Konkurrenzform ist die bestimmende, im Kapitalismus ist es die ökonomische und zwingt die ökonomischen Akteurinnen ihre Mittel wieder in die Produktion und ihre Verbesserung zu stecken. im Staatssozialismus ist es die politische Konkurrenz, mit allen negativen und positiven Konsequenzen.
@simon: ich glaube hier meinen wir eigentlich was ganz ähnliches. Ich finde halt die Formulierung „weitgehende Marktvermittlung“ unglücklich, wenn Du eigentlich „Dominanz von Konkurrenz am Markt“ meinst.
Unter „Marktvermittlung“ würde ich erst mal verstehen, dass man getrennt produziert und dafür am Markt Geld bekommt. Das ist eine Konstante städtischer Kultur seit 5000 Jahren erst mal ganz unabhängig davon wie diese Preise zustande kommen und was „Geld“ genau ist. Das ändert sich sehr stark.
Naja, das ist vielleicht wirklich gerade Graeber, der da spricht. Der ziseliert das sehr fein auseinander in „Schulden“. Gerade in Antike und Mittelalter, da könnten sich einige marxistische Historiker:innen mal ne Scheibe von abschneiden.
(und sorry dass ich wenig zum Text schreibe, ich hab ihn glaub nicht wirklich verstanden und diese ganze Fünfschritt-Debatte war mir schon immer eher fremd)