Wie die drohende Heißzeit mit den Kapitalmärkten zusammenhängt


57 Jahre Kursentwicklung im DAX – steigende Aktienkurse bedeuten oft auch steigende Naturzerstörung (Quelle, Grafik von Dylanss93, Lizenz: CC BY-SA)

[Voriger Teil: Es gibt kein 2-Grad-Ziel]

Im vorletzten Teil hatte ich festgestellt, dass eine kleine – aber immerhin vorhandene – Chance, die globale Katastrophe einer Heißzeit noch zu verhindern, in einem raschen Systemwandel besteht. Der Kapitalismus müsste innerhalb der nächsten zehn bis zwanzig Jahre – mehr Zeit haben wir nicht mehr – durch ein anderes, nachhaltigeres Wirtschaftssystem ersetzt werden.

Bevor ich dazu kommen, wie das aussehen könnte, noch ein paar Überlegungen dazu, warum es überhaupt nötig ist. Warum versagt der Kapitalismus so kläglich darin, den Erhalt der stabilen Holozän-Bedingungen der letzten 12.000 Jahre zu sichern? Dieses Versagen gefährdet den Fortbestand der menschlichen Zivilisation und damit, ohne jede Frage, auch den Fortbestand des Kapitalismus selbst. Wie kommt es zu diesem quasi selbstmörderischen Versagen – warum fehlt es im Kapitalismus an Institutionen und Mechanismen, die hier gegensteuern könnten?

Drei Punkte scheinen mir hier entscheidend zu sein: zum einen das, was man ganz allgemein die Borniertheit der Profitmacherei nennen kann, zum anderen die Zeitpräferenzen von Menschen und Institutionen und drittens die Existenz von (meistens negativen) Externalitäten auf dem Markt – wobei die Konsequenzen der Klimakatastrophe selbst die größten aller negativen Externalitäten sind.

Um die Erderhitzung noch auf ein halbwegs erträgliches Maß zu begrenzen und das Schlimmste zu verhindern, ist ein sehr rascher und sehr einschneidender Umbau unserer gesamten Produktions- und Lebensweise nötig, der eigentlich längst hätte passieren müssen. In den letzten 30 Jahren – mindestens so lange ist das Problem bekannt – ist allerdings trotz viel Gerede praktisch nichts passiert. Die Emissionen von CO2 und anderen Treibhausgasen sind in den meisten Jahren sogar kontinuierlich gestiegen, obwohl sie eigentlich längst Jahr für Jahr fallen müssten.

Borniertheiten und Externalitäten

Die Anforderungen des Zivilisationsschutzes beißen sich hier mit der Borniertheit der kapitalistischen Produktionsweise. Kapitalistische Firmen haben ein primäres Ziel, dem sie im Zweifelsfall alles andere unterordnen müssen: den Profit. Eine Firma (bzw. ihr Management) kann es abstrakt für eine sehr gute Idee halten, das Klima (und damit die Zukunft der Zivilisation) zu schützen, aber wenn das dann konkret ihre Profite in einem spürbarem Maße reduzieren würde, wird sie sich trotzdem entschlossen dagegenstemmen, dass das geschieht. Die Ergebnisse sehen wir jeden Tag.

An dieser Stelle kommen auch die negativen Externalitäten ins Spiel. Käufer und Verkäufer:innen auf dem Markt sind zwar immer ein Stück weit in einer antagonistischen Stellung zueinander – die Käufer:in möchte möglichst viel Produkt für möglichst wenig Geld, die Verkäufer:in möchte möglichst gut verdienen und dafür möglichst wenig tun müssen. Wenn ein Geschäft zustande kommt, heißt das, dass sie sich irgendwo in der Mitte geeinigt haben, doch nicht selten geht diese Einigung zu Lasten Dritter, die an dem Deal gar nicht beteiligt sind und also auch nicht mitreden können. Umweltverschmutzung und -zerstörung sind ein klassisches Beispiel für solche negativen Externalitäten, und die Erderhitzung ist sicherlich die größte negative Externalität von allen.

Die Folgen der steigenden Menge von Treibhausgasen in der Atmosphäre treffen alle, ganz gleich, ob Menschen selbst ein Auto fahren, mit Öl oder Gas heizen, fliegen oder in anderen Weise aus fossilen Energieträgern Nutzen ziehen. Nicht die Kund:innen zahlen den Preis, sondern die Gesamtheit. Müssten die Kund:innen zahlen, würden sich die Geschäfte für viele besonders stark zur Erderhitzung beitragende Konzerne wahrscheinlich schlicht nicht mehr lohnen – ihr Produkt wäre zu teuer und unattraktiv. Da das nicht so ist, machen sie munter weiter, auf Kosten der Allgemeinheit.

Wobei diese „Allgemeinheit“ hier real gar nicht so allgemein ist, sondern die Schere zwischen Nutznießer:innen und Geschädigten oft noch stärker auseinanderklafft. Besonders schwer vom Klimawandel betroffen sind Menschen in tropischen und subtropischen Ländern, die selber meistens arm und als Arme auch nur für wenige Emissionen verantwortlich sind. Wer wohlhabend ist, verursacht mehr Emissionen und kann sich zugleich besser vor den Folgen der Erderhitzung schützen – etwa durch den Einbau einer Klimaanlage oder durch den Umzug in weniger stark betroffene Regionen.

Politiker:innen – ob wie in parlamentarischen Staaten gewählt oder wie in autoritären Regimen auf anderen Wegen an die Macht gekommen – sind indirekt ebenfalls dem bornierten Ziel der Profitmacherei verpflichtet, da der Staat auf Steuergelder angewiesen ist, um handlungsfähig zu sein. Firmen selbst zahlen zwar in der Regel eher wenig Steuern – und je größer sie sind, desto geringer wird ihre Steuerlast –, aber sie beschäftigen Menschen, die Lohnsteuer zahlen müssen, und verkaufen Produkte, auf die Mehrwertsteuer erhoben wird. Da ihre wirtschaftliche Tätigkeit so (in kapitalistisch organisierten Gesellschaften) die Grundlagen der Staatsfinanzierung liefert, kann und wird eine Politiker:in kaum Maßnahmen ergreifen, die die Profiterwirtschaftung ernsthaft belasten würden – weitgehend unabhängig davon, was ihre politischen Hintergründe sind und was sie zuvor den Wähler:innen versprochen hatte. Das Ergebnis sieht man dann etwa in Baden-Württemberg, wo die Grünen-geführte Regierung nicht weniger autofreundlich – und damit klimafeindlich – ist als die vorigen konservativen Regierungen.

Grüner Kapitalismus?

Nun gibt es genügend Verfechter:innen der Idee, dass Profite und Nachhaltigkeit gar nicht im Widerspruch zueinander stehen müssten, sondern in einer „Green Economy“ oder einem „grünen Kapitalismus“ vereinbar sind. In der Praxis ist davon allerdings nicht viel zu merken, sonst stünde es um die Klimaschutzbemühungen der vergangenen Jahrzehnte nicht so katastrophal schlecht. Eine theoretische Analyse, warum es mit dem „grünen Kapitalismus“ nicht hinhaut, ist etwa in Brand (2015) zu finden. Dies soll hier nicht vertieft werden, doch ein Artikel einer Verfechterin des „grünen Kapitalismus“ – Dorothea Siems, die „Chefökonomin“ der Welt – macht unfreiwillig schon klar, wo eines der Probleme liegt. Zwölf Mal ist in ihrem kurzen Text – der lediglich neun Absätze hat – von „Wachstum“ die Rede. Ganz klar, ob grün oder nicht: gewachsen werden muss weiter.

Der Wachstumszwang ist innerhalb des Kapitalismus in der Tat nicht hintergehbar, denn ohne Wirtschaftswachstum stellt sich die Frage: Wohin mit dem Profit? Das Primärziel der kapitalistischen Wirtschaft ist nun mal die Erwirtschaftung von Profit – am Ende haben die Investor:innen im Durchschnitt mehr Geld als sie vorher hatten. Wäre des anders – gäbe es keinen Profit mehr – dann gäbe es auch keinen Kapitalismus mehr. Denn wieso sollten Investor:innen dann noch investieren, wenn sie keine Profite mehr machen können?

Nun kann jede:r, die nicht durch ein BWL-Studium verbogen wurde, erkennen, dass ewiges Wachstum keine gute oder auch nur praktikable Idee ist. Kinder wachsen, aber nach 15 bis 20 Jahren hören sie damit auf. Passiert das nicht, sind die Folgen tragisch. Der größte Mensch der Welt, dessen Körper aufgrund eines Tumors nicht aufhören konnte zu wachsen, starb mit nur 22 Jahren. Auch den anderen bekannten größten Personen war meist kein langes Leben beschert, weil ihr Körper auf die eine oder andere Weise mit den Belastungen nicht klar kam. Wachstum ist notwendig und funktioniert, aber immer nur für eine begrenzte Zeit.

Was die Erde betrifft, gibt es die planetaren Belastungsgrenzen, deren längerfristige Überschreitung zur Beschädigung oder Zerstörung von Ökosystemen führt. Und es gibt natürliche Ressourcen, die als Rohstoffe in Produktionsprozesse eingehen und nur in endlicher Menge vorhanden sind. Abstrakt gesehen wäre ein permanentes Wirtschaftswirtschaft nur unter zwei Voraussetzungen denkbar: (1) Die Menschheit expandiert ins All und lässt die Begrenztheit der Erde hinter sich. (2) Es gelingt, das Wirtschaftswachstum vollständig von seiner materiellen Basis „abzukoppeln“ – die Wirtschaft wächst weiter in einer Weise, die das Bedürfnis des Kapitalismus nach neuen Verwertungsmöglichkeiten befriedigt, aber die materiellen Inputs und Outputs, die dafür eingesetzt werden, bleiben gleich oder schrumpfen sogar.

Option (1) hat viele Science-Fiction-Werke beflügelt und wird das auch weiterhin tun. In der Realität ist sie aber weitgehend irrelevant und kann den Wachstumsproblemen des Kapitalismus keinen nennenswerten Ausweg bieten. Mond, Mars und andere Himmelskörper kämen vielleicht als Quellen für von Maschinen abgebaute Rohstoffe in Frage, aber schon beim Mars ist es sehr fraglich, ob sich der Transportaufwand jemals rechnen könnte. Das Hauptproblem bei den planetaren Belastungsgrenzen besteht aber gar nicht auf der Input-, sondern auf der Outputseite – eine Überlastung und Überforderung diverser ökologischer Kreisläufe. Hier können andere Himmelskörper keinen Ausweg bieten, solange sich das menschliche Leben selbst primär auf der Erde abspielt. Und das wird so bleiben, denn für menschliches Leben jenseits kleiner prestigeträchtiger (und extrem teurer) Forschungsstationen sind andere Objekte im Sonnensystem viel zu lebensfeindlich. Manche Planeten in anderen Planetensystemen dürften deutlich bessere Ausgangsbedingungen für ein „Terraforming“ nach menschlichen Bedürfnissen haben, sind aber unerreichbar weit weg.

Option (2) – eine vollständige Abkopplung des Wirtschaftswachstums von seiner stofflichen Seite – ist der zumindest auf den ersten Blick weniger unrealistische Weg zur Auflösung des Paradoxes „ewiges Wachstum auf einem endlichen Planeten“. Auch Dorothea Siems verweist hier etwa auf „Dienstleistungen“ als einen ressourcenschonenden Wirtschaftsbereich mit großem Wachstumspotenzial; gerne genannt wird auch der IT-Sektor (Informationstechnik). Allerdings sind hier Zweifel angebracht: Sicherlich brauchen diese Bereiche tendenziell weniger Ressourcen als andere, aber das heißt nicht, dass sie gar keine brauchen. Dienstleistungen brauchen zumindest einen Ort, wo sie erbracht werden, und sehr oft wird zu ihrer Durchführung auch das eine oder andere Instrument oder Hilfswerkzeug vonnöten sein.

Informationsprodukte haben immer einen materiellen Fußabdruck – sie werden auf einem Datenträger gespeichert, durch ein Netz vom Produzenten zur Kund:in transportiert, auf Endgeräten abgespielt. Dass immer mehr Umsatz mit Informationsprodukten gemacht wird, ohne dass dieser Fußabdruck zumindest langsam steigt, ist kaum vorstellbar. Eher ist das Gegenteil der Fall: die Kund:innen sind vielleicht bereit, 10 oder 15 Euro pro Monat für ein Netflix-Abo zu zahlen, erwarten dafür aber auch immer wieder neue Inhalte, die aufwendig produziert und gespeichert werden müssen. Sofern der Anbieter keine neuen Kund:innen gewinnt, hat so noch kein Wachstum stattgefunden – auf das der Kapitalismus so dringend angewiesen ist –, doch der materielle Fußabdruck der Informationsprodukte steigt trotzdem immer weiter an.

Realistischerweise können Dienstleitungen und Informationsprodukte eine teilweise Abkopplung des Wirtschaftswachstums vom wachsenden Ressourcenverbrauch erreichen: Wenn die Umsätze wachsen, wächst auch der Ressourcenbedarf, aber immerhin deutlich langsamer als diese. Damit bieten sie allerdings keine Lösung für das Problem, dass endloses Wachstum auf einem endlichen Planeten logisch unmöglich ist – sie haben lediglich den Effekt, dass sich dieses Problem nicht so schnell so stark bemerkbar macht.

Die Kapitalmärkte und die „Nach uns die Heißzeit“-Mentalität

Nun sind diese Überlegungen, dass der dem Kapitalismus inhärente Wachstumsdrang irgendwann zwangsläufig mit der Endlichkeit der Erde kollidiert, eher theoretischer Natur. „Irgendwann“ könnte ja auch „in ferner Zukunft“ heißen – ein Problem für kommende Generationen, aber nicht unbedingt für uns. Von John Maynard Keynes gibt es die berühmte Aussage: „In the long run we are all dead.“ – „Langfristig gesehen sind wir alle tot.“ Aber (das war sein Punkt) neben diesen eher banalen Aussagen über die ferne Zukunft sind spezifischere Aussagen über die Gegenwart und nahe Zukunft ja mindestens ebenso relevant.

Insofern stellt sich die Frage, warum sich Firmen und Regierungen hier und heute so verhalten, wie sie sich eben verhalten. Warum lassen sie sehenden Auges zu, dass die Menschheit in die größte Katastrophe ihrer Geschichte läuft? Warum tragen sie aktiv durch ihr Handeln oder durch das von ihnen geförderte Handeln dazu bei, dass die Lebensgrundlagen vielen Menschen – schon jetzt und noch mehr in Zukunft – schwer beschädigt oder zerstört werden? Warum setzen sie nicht hier und heute sehr viel stärker auf den „grünen Kapitalismus“? Selbst wenn dieser auf lange Sicht kein Ausweg aus dem Wachstumsproblemen des Kapitalismus sein kann, hätte er doch zumindest das Potenzial, die sich entfaltende Großkatastrophe zu stoppen. Wenn alle Firmen auf Produkte umstellen würden, bei deren Produktion, Verwendung und Entsorgung keine Treibhausgase freigesetzt werden, würden die Temperaturen nicht mehr steigen und die drohende Heißzeit wäre (wahrscheinlich, sofern noch nicht zu viel „gekippt“ ist) abgewendet.

Gleichzeitig wären die Firmen auf diese Weise deutlich zukunftsfähiger aufgestellt: Wer heute noch Benzinautos herstellt oder Pipelines betreibt, weiß – sofern sie oder er nicht völlig ignorant ist – dass dies in 50 Jahren kein Geschäftsmodell mehr sein wird. Bei Fahrrädern, elektrischen Autos, Solar- und Windkraftanlagen ist es hingegen durchaus plausibel anzunehmen, dass diese auch in 50 oder 100 Jahren noch in der einen oder anderen Form genutzt werden dürften. Warum also stellen nicht alle Firmen so rasch wie sie können auf zukunftsfähige Produkte um – oder warum zwingen die Staaten sie nicht dazu, sofern sie selbst unwillig sind?

Bei Firmen lässt sich die Frage recht leicht beantworten: Sie sind ihren Eigentümer:innen – bei modernen großen Firmen fast immer Aktionär:innen – verpflichtet und müssen sich bemühen, deren Erwartungen zu gut es geht zu befriedigen. Nun können Eigentümer:innen durchaus unterschiedliche Erwartungen haben – hier und da gibt es tatsächlich die berühmte Familienunternehmer:in, die ihren Enkel:innen einen florierenden Betrieb vererben möchten, den diese dann irgendwann an ihre eigenen Kinder weitergeben können. So eine Unternehmer:in wird, sofern sie die Zeichen der Zeit erkennt, tatsächlich möglichst bald auf zukunftsfähige Produkte umstellen – etwa erneuerbare statt fossiler Energieträger. Wahrscheinlich nicht die meisten, aber definitiv die meisten großen Unternehmen fallen allerdings in eine andere Kategorien: Sie sind Aktiengesellschaften, und als solche konkurrieren sie nicht nur um Kund:innen für ihre Produkte (welche auch immer das sind), sondern zuerst und vorher noch um Eigentümer:innen: um Menschen, die willig sind, ihre Aktien zu kaufen und zu halten.

Auch Aktionär:innen haben unterschiedliche Ziele: Manche kaufen vielleicht Aktien, weil sie die konkreten Vorhaben einer Firma besonders unterstützenswert finden; andere, um als „ethische“ oder „kritische“ Aktionär:innen das Geschäftsgebaren der Firma in eine bestimmte Richtung zu lenken. Aber das sind Ausnahmen – im typischen Falle werden Aktien als Wertanlagen gekauft: sie sollen Gewinn abwerfen und das Vermögen der Käufer:in mehren. Sie sind Kapital in Reinform: eine Wertanlage, die ihre Eigentümer:in reicher machen soll.

Dass sie primär Wertanlagen sind, heißt auch, dass eine Entscheidung zum Aktienkauf unter anderen Abwägungen getroffen wird als etwa die Entscheidung zum Kauf eines Eigenheims. Letzteres wird in erster Linie zur eigenen Nutzung (zum Bewohnen) erworben – oft mit der Erwartung verbunden, dass mensch bis an sein Lebensende darin leben und es schließlich an seine Kinder vererben wird. Aktien hingegen sind abstrakter Reichtum. Auch ihr Besitz ist oft mit der Erwartung verbunden, diesen Reichtum irgendwann an Kinder und Enkel:innen weiterzuvererben, aber hier ist es der Reichtum selbst, der langfristig Bestand haben und weitergegeben werden soll, aber nicht notwendigerweise die Aktien einer ganz bestimmten Firma. Aktien sind leicht veräußerlich: Sie können jederzeit verkauft und so durch Geld oder durch Aktien anderer Firmen ersetzt werden.

Das betrifft das Verhältnis von Aktionär:innen und Firmen in entscheidender Weise: Wer Aktien kauft, geht damit kein potenziell lebenslängliches Verhältnis mit der Firma ein – sondern ein Verhältnis, dass jederzeit durch die Aktionär:in einseitig wieder aufgelöst werden kann, wenn ihr eine andere Firma nun vielversprechender erscheint. Noch bevor sie überhaupt als Verkäufer oder Anbieter von Produkten konkurrieren können, müssen Aktiengesellschaften (AGs) also zunächst um Aktionär:innen konkurrieren, die in ihnen eine besonders vielversprechende Geldanlage sehen – und zwar auf kurze, nicht notwendigerweise auf lange Sicht. Läuft es auf lange Sicht nicht gut, kann die Aktionär:in später immer noch verkaufen. Sind aber die kurzfristigen Erwartungen nicht gut, wird sie wahrscheinlich erst gar nicht kaufen. Und ohne Aktienkäufer:innen steht eine AG vor dem Nichts. Ihr Kurs fällt ins Bodenlose, so dass sie rasch von einer größeren, besser bewerteten Firma aufgekauft und „geschluckt“ wird oder, wenn sich keine Käufer:in findet, Konkurs anmelden muss, weil ihr niemand mehr Kredite geben will.

Diese kurzfristige Orientierung der typischen Aktionär:innen ist ein Problem insbesondere für die Konzerne, die schon ein funktionierendes Geschäftsmodell haben, aber wissen, dass dieses eigentlich radikal umgestaltet werden muss, um etwa Schäden von der Erde oder den Menschen abzuwenden. Selbst wenn das Management „als Menschen“ gerne die dafür notwendigen Umbauten vornehmen würde, geht dies nur, wenn es die Aktionär:innen nicht verprellt. Das ist schwierig und unsicher, deshalb starten Unternehmen mit klimazerstörenden Geschäftsmodellen zwar gerne „Versuchsballons“ in Richtung nachhaltiger Praktiken – erneuerbare Energieproduktion, Elektroautos o.ä. –, setzen aber für ihr Hauptgeschäft und damit den eigentlichen Cashflow weiterhin auf die bewährten Praktiken, solange es nur geht. Damit zerstören sie zwar die menschlichen Lebensgrundlagen auf diesem Planeten, gehen aber für den nächsten Quartalsgewinn auf Nummer sicher. Und halten so die Aktionäre und Geldgeber:innen bei der Stange.

Wo bleibt die „schöpferische Zerstörung“?

Wenn es die etablierten Unternehmen nicht schaffen, ihr Geschäftsmodell rechtzeitig zukunftsfähig zu machen, weil kurzfristige Erträge vorgehen – warum kriegt es dann die von Joseph Schumpeter gepriesene „schöpferische Zerstörung“ des kapitalistischen Innovationszyklus nicht hin? Warum entstehen nicht neue Unternehmen, die ihren Investor:innen noch größere und vor allem noch längere, auch nach dem absehbaren Ende des fossilen Zeitalters fließende Gewinne versprechen und so die schwerfällig gewordenen fossilen Giganten vom Markt fegen?

Indem die Frage so gestellt ist, ist sie auch schon fast beantwortet: Investor:innen wollen in erster Linie Gewinne, und wenn das Verlustrisiko hoch ist oder der Zeithorizont, bis die Gewinne vielleicht kommen, lang, dann müssen die Gewinnerwartungen ganz immens sein, um diese Risiken auszugleichen. Eine Fastregel für „Wagniskapital“ (Venture Capital), um das sich junge Firmen, die noch nicht an der Börse sind, bemühen, ist etwa, dass nur einer oder zwei von je zehn derartig finanzierten Betrieben erfolgreich sein werden. Die anderen setzen ihr Geld komplett in den Sand oder kommen jedenfalls auf keinen Gewinn, der die Sache für die Investor:in lohnend machen würde. Die ein bis zwei erfolgreichen Unternehmen müssen also eine Kapitalrendite (Return on Investment) von 1000 % oder mehr einbringen – das Zehnfache des investierten Ertrags – dann hat sich die Sache für die Investor:in trotzdem gelohnt. Jede Firma, die sich um Wagniskapital bemühen will, muss also zunächst ein plausibles Versprechen auf gigantische Gewinnerwartungen abgeben – kann sie das nicht überzeugend machen, wird sie kein Geld abkriegen.

„Schöpferische Zerstörung“ ist möglich, aber nur, wenn die Renditechancen gewaltig sind – auf diese Weise hat etwa Amazon große Teile des stationären Buchhandels und Netflix sämtliche Videotheken „schöpferisch“ zerstört. Auf diese Weise hat Tesla es zum mit Abstand wertvollsten Autohersteller der Welt gebracht, obwohl es nur etwa 10 Prozent des Umsatzes von Volkswagen oder Toyota macht (Quelle 1, Quelle 2) – aber die Hoffnung auf künftige große Gewinne winkt. Schöpferische Zerstörung gibt es, wenn ein großer Markt durch einen noch größeren Markt aufgerollt werden kann.

Das aber ist natürlich nicht die nachhaltige Lösung: In einer zukunftsfähigen Gesellschaft bräuchte es nicht andere, sondern vor allem auch weniger Autos – dafür mehr Fahrräder, öffentlichen Nahverkehr, Carsharing, Homeoffice und Videokonferenzen statt Pendeln und Dienstwagen. Die Klimabilanz eines Tesla-Fahrzeugs ist alles andere als gut, selbst wenn – was ja keineswegs selbstverständlich ist – der fürs Fahren genutzte Strom komplett aus erneuerbaren Quellen kommt. Weil aber die Lösungen, die es eigentlich bräuchte, keine gigantischen Gewinnversprechen machen können – mit Ausnahme einzelner Videokonferenzen-Anbietern wie Zoom, dem großen Gewinner der Corona-Pandemie – dümpeln diese Alternativen eher vor sich hin. Es gibt zwar Firmen, die hier erfolgreich sind, aber diese sind tendenziell eher klein und haben keine Chance, die etablierten Giganten schöpferisch zu zerstören und zu verdrängen.

Märkte aufrollen durch Degrowth ist im Kapitalismus keine realistische Option – es wäre aber das, was nötig ist. Da im Kapitalismus jedoch die dafür nötigen Anreize fehlen, führt schöpferische Zerstörung zwar immer wieder dazu, dass vieles anderes wird – nicht aber dazu, dass der Kapitalismus selbst nachhaltiger und zukunftsfähiger wird.

[Fortsetzung: Warum versagt der „ideelle Gesamtkapitalist“?]

Literatur

Brand, Ulrich (2015). Schöne Grüne Welt. Über die Mythen der Green Economy. 4. Auf. Rosa-Luxemburg-Stiftung. https://www.rosalux.de/publikation/id/5688.

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