Geld im Mittelalter
Ergänzend zu meinem Artikel zum Geldgebrauch vor dem Kapitalismus hier noch einige Notizen zur Situation im europäischen Mittelalter, basierend auf dem Buch Geld im Mittelalter (2011, Originalausgabe von 2010) des französischen Historikers Jacques Le Goff. Le Goff bezieht sich dabei vor allem auf die Situation vom 13. bis zum 16. Jahrhundert.
Die Finanzen mittelalterlicher Städte basierten oft auf einem Freibrief (charte de franchise), in dem der offiziell über die Stadt herrschende König oder Fürst deren Bewohnerinnen von den meisten Steuern und Zollabgaben befreite (Le Goff 2011, 52). In der städtischen Ökonomie spielten Geldbeziehungen aber eine wichtige Rolle, wobei das Geld durch Gewerbe, innerstädtischen Handel und Fernhandel verdient wurde. Reiche Stadtbürger beschäftigten Dienerinnen und Untergebene, die in Geld bezahlt wurden. Den oft leibeigenen Bauern in der Umgebung kauften die Stadtbewohnerinnen Lebensmittel ab, während die Bauern und feudalen Grundherren in der Stadt hergestellte (Luxus-)Güter erworben, die oft Repräsentationszwecken dienten (53).
Stadt und Land standen somit in einer Wechselbeziehung und nicht nur die Städter, sondern auch die Bauernfamilien kamen regelmäßig mit Geld in Berührung. Für letztere war es zwar weniger wichtig, weil sie ihre wichtigsten Lebensmittel selbst produzierten, während die Städterinnen diese kaufen mussten, aber das Land war keineswegs vom Geldgebrauch abgekoppelt (Le Goff 2011, 54).
Mittelalterliches Geld war fast immer Münzgeld, wobei drei Metalle verwendet wurden – Gold, Silber und (für die kleinsten, am häufigsten verwendeten Münzen) Kupfer (Le Goff 2011, 79). Im Osten Europas wurden teilweise auch Münzen aus Marderfell, sog. „Ledergeld“, verwendet (101). Aber auch Kredite durch private Geldverleiher spielten eine Rolle, nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Land, wo ab dem 13. Jahrhundert die Abgaben an Grundherren oft in Geld statt Naturalien gefordert wurden. Dies zwang Bauern, die nicht genügend ihrer Produkte verkauft hatten, sich zu verschulden (119).
Ab dem 14. Jahrhundert kamen zudem Wechsel – Zahlungsversprechen, die zu einem späteren Zeitpunkt durch eine dritte Person eingelöst wurden – als neues Kreditmittel auf; diese wurden insbesondere von Kaufleuten anstelle von Münzgeld verwendet (Le Goff 2011, 157). Der Einlöser des Kredits ließ sich die ausgezahlte Summe von der Ausstellerin erstatten, so entstanden die ersten Banken (159).
Zunehmend erhoben sowohl Städte als auch Fürsten Steuern auf sämtliche Warenverkäufe, wobei für manche Waren (z.B. Wein) höhere Steuern anfielen als für den Rest; zum Teil gab es auch jährliche Besitzsteuern, die z.B. ein Prozent des Vermögens betrugen. Diese Steuern wurden an Stadtbürger verpachtet, die sie eintrieben und einen bestimmten Anteil zur Vergütung behalten dürften. Die Steuerpächter waren aber keine reinen „Geldleute“, sondern meist hohe Bedienstete des Fürsten oder Mitglieder der städtischen Elite, die durch ein „Zubrot“ in Form von Steuereinnahmen für ihre Verdienste belohnt wurden (Le Goff 2011, 172f.).
Während der Kapitalismus auf der Idee basiert, dass das freie Spiel von Angebot und Nachfrage den Preis bestimmt, war im Mittelalter die Idee des „gerechten Preises“ verbreitet. Dies war zum einen der traditionell übliche Preis, der zudem für „Stabilität und Gemeinwohlverträglichkeit“ sorgen sollte, also dafür, dass weder Kundinnen noch Produzenten auf der Strecke blieben. Der gerechte Preis war auch eng mit der für das mittelalterliche Christentum zentralen Idee der Caritas, der Nächstenliebe und Mildtätigkeit verbunden (Le Goff 2011, 236). Kapitalistisches Denken, das systematisch Profite maximiert und aus jeder Interaktion ohne Rücksicht auf das Gegenüber das für die eigene Seite mögliche Maximum herauszuholen sucht, steht zu dieser gerechten Preisvorstellung im diametralen Widerspruch. Dementsprechend lassen sich im Mittelalter auch, trotz der großen Rolle, die Geld insbesondere (aber nicht nur) in den Städten spielte, keine ernsthaften Vorläufer der späteren kapitalistischen Produktionsweise entdecken. Jeder Versuch, etwa die mittelalterlichen Städte zu Keim- oder Frühformen des Kapitalismus zu erklären, zeigt auch Le Goff zufolge nur, dass man beide missversteht. Erst ab dem 16. Jahrhundert tauchten erste Elemente des kapitalistischen Produktionsweise und der für sie typischen Denkformen auf (237) – siehe dazu auch meinen Artikel Wie der Kapitalismus entstand.
Literatur
Le Goff, Jacques. 2011. Geld im Mittelalter. Stuttgart: Klett-Cotta.
Eine etablierte Geldwirtschaft ist eine notwendige aber keine hinreichende Bedingung für Kapitalismus, insofern gibt es da schon einen Zusammenhang.
Mich würde ja interessieren, was http://keimform.de/2007/wie-geld-denken-macht/ dazu zu sagen hätte. Dort war ja die These, dass erst Anfang des 17. Jhdts die Geldwirtschaft etabliert genug war um wirksam zu werden.
@Benni: Einverstanden, nur darf man da eben keinen Automatismus annehmen — etablierte Geldwirtschaften gab es in vielen Orten (die genannten mittelalterlichen Städte, das alte China etc.). Dass eine „genügend etablierte Geldwirtschaft“ automatisch in Kapitalismus umschlägt, dürfte eine Fehldeutung sein, andernfalls wäre letzterer schon viel früher entstanden.
Hallo Christian,
klar ergibt sich aus einer Geldwirtschaft nicht automatisch ein Kapitalismus.
Für diesen braucht es bekanntlich erstmal Kapital, was etwas anderes als Geld (als Tausch- bzw. Zirkulationsmittel) ist.
Während das Kapital nur aus der Ausbeutung menschlicher Arbeit entsteht und nicht aus dem Warentausch, in dem letztlich durchschnittlich gleiche Werte getauscht werden.
(D.h., von Betrügereien einmal abgesehen, niemand davon reicher bzw. ärmer wird.)
Allerdings ebnet eine Geldwirtschaft den Weg zum Kapitalismus, da nunmehr das Bedürfnis nach Geld (d.h. abstraktem Reichtum) wächst, das den Zugriff auf den gesellschaftlichen Reichtum ermöglicht.
Grüße
Andreas Lindner
Das Bedürfnis nach Geld ist nicht nur als „Bedürfnis… nach abstraktem Reichtum“ zu verstehen, sondern auch als Befreiung von direkter Kontrolle über Fronarbeit und Naturalabgabe. Zumindest wirkte es historisch so. Überall wird berichtet, dass die Umstellung von Frondiensten auf Geldabgaben (im Gebiet Deutschlands verstärkt ab Mitte des 12. Jhd.) als Freiheitserweiterung der wenn auch weiterhin ausgebeuteten Bauern empfunden wurde und wirkte. Dies wurde u.a. auch eine Voraussetzung für die sich im 12.-15. Jhd. entwickelnden Dorfgemeinden, die ihre wirtschaftlichen Belange weitgehend ohne direkte Einflussnahme durch die Herrschenden regeln konnten.
Hallo Annette,
nach meinem historischen Verständnis war das etwas anders.
Wie sollten die damaligen Bauern (die meist nur für den eigenen Bedarf produzierten und kaum Überschüsse zum Verkaufen hatten), an Geld kommen?
Meines Wissens führte das oftmals zur Verschuldung bzw. Vertreibung der Bauern, die später vor allem in den Städten als sog. Proletariat ihre Arbeitskraft anboten – nachzulesen auch im „Das Kapital“ von Karl Marx, z.B. im Kapitel zur ursprünglichen Akkumulation.
(Oder in jedem besseren Geschichtsbuch.)
Grüße
Andreas Lindner
PS: Zu beobachten war das übrigens bis in die neuere Zeit z.B. in Afrika, Indien usw., wo die Einführung einer Geldwirtschaft keineswegs zu einer „Befreiung“ der meisten Kleinbauern führte.
Vielmehr verloren viele ihr Land (und waren davon befreit), während sich andererseits zunehmend mehr Großgrundbesitz bildete und die Slums in den Städten wuchsen.
Grüße
Andreas Lindner
Viele Geschehen zeitigen unter unterschiedlichen Umständen ziemlich verschiedene Wirkungen. Es macht deshalb wenig Sinn, Erfahrungen aus Ereignissen in „neuerer Zeit“ unmittelbar in die historische Bewertung zu übertragen (andersherum natürlich auch nicht). Und auch historisch gesehen gab es durchaus unterschiedliche Auswirkungen von ähnlichen Veränderungen. Wenigstens will ich festhalten, dass es AUCH in VIELEN Bereichen im historischen Prozess diese befreienden Wirkungen hatte.
Im Übrigen würde ich auch heute nicht allen geldvermittelten Praktiken absprechen, für die damit umgehenden Menschen positive Wirkungen zu haben (nachzulesen z.B. in „Frauen in Juchitan“ – die hab ich immer im Kopf, wenn wir so apodiktisch gegen Geld per sé theoretisieren und letztlich damit ihre Praxis negieren).
„die damaligen Bauern (die meist nur für den eigenen Bedarf produzierten“
Das ist eine Vorstellung, die mit der historischen Wirklichkeit wenig zu tun hat. Gehen wir mal zurück mindestens ins 11. Jahrhundert. Spätestens damals waren Ertragssteigerungen durch den Übergang zur Dreifelderwirtschaft zu verzeichnen und dadurch wurde über den „eigenen Bedarf“ genug Mehrprodukt erwirtschaftet, so dass es immer mehr zum Kampf um die Anteile an ihm kam. Es ging da u.a. um Hand- und Spanndienste auf Burgen, Herbergspflichten und Naturalabgaben…
Weit verbreitet war auch der sog. „Landesausbau“ durch Rodungen, was neue Ressurcen erschloss und nichts mit nur Subsistenz zu tun hatte. In dieser Zeit entwickelten sich auch die ersten Städte und diese konnten nur durch das Mehrprodukt aus den Dörfern ernährt werden. Schon in dieser Zeit kam es zu Spannungen zwischen Stadt und Land, weil die Bauern sich von den Städtern/Händlern übervorteilt sahen… und die Berichte über solche Ereignisse basieren darauf, dass ein (geldvermittelter) Handel zwischen Stadt und Land schon alltäglich geworden war. (Die Spannungen zeigten sich u.a. daran, dass die Bauern mobilisiert werden konnten, um Aufstände der Städte gegen erzbischöfliche Herrschaft niederzuwerfen).
Ein anderes Beispiel, wie wichtig Geld für viele Menschen war: In den Feudalfehden im 11. Jahrhundert „übergaben von Hunger und Armut bedrohte Menschen ihre Allode Klöstern oder Kirchen gegen eine bescheidene Leibrente“ („Die entfaltete Feudalgesellschaft“ 1986: 55).
Die Erweiterung der Ware-Geld-Beziehungen im 12. Jhd. zeigt sich dann wiederum an der Erschließung der Silberbergwerke (Bedarf an Münzmetall) in Gegenden, die gerade gerodet worden waren (Erzgebirge…). Seit dem 12./13. Jhd. setzte sich auch schon die Arbeitsteilung zwischen Landwirtschaft (auf den Dörfern) und Handwerk (in den Städten) so weit durch, dass es bei den Bauern „ein zunehmendes Interesse [weckte], möglichst viele agrarische Produkte abzusetzen, um in den Besitz von Geld zu kommen“ (ebd.: 120). In dieser Zeit begannen die Herschenden auch, Abgaben in Form von Geld einzutreiben, sie konnten nämlich ihre grundherrlichen Befugnisse nicht mehr so gut direkt durchsetzen, weil der Landesausbau vielen Bauern die Möglichkeit gab, in die Rodungsgebiete auszuweichen…
Für die Bauern ergab sich daraus ein „hohes Maß an Selbständigkeit für ihre landwirtschaftliche Produktion“ (ebd.: 126) und eine Abnahme der Leibeigenschaft (die vorhin schon genannte Voraussetzung für die Dorfgemeinden zwischen 12. und 15.Jhd.). Natürlich war das keine vollständige Befreiung, sondern nur eine neue Form der Ausbeutung, denn dadurch wurde „das Kommando über die Leistungen der Bauern weitwichtiger als über ihre Person“ (zit. ebd.: 128). Man kann das Ganze eben nie nur in den Farben Schwarz und Weiß sehen, sondern als widersprechende Tendenzen…
Frei Stadtgemeinden beruhten im Übrigen auch häufig auf einem „Sich-Freikaufen“ von feudaler Herrschaft.
„Meines Wissens führte das oftmals zur Verschuldung bzw. Vertreibung der
Bauern, die später vor allem in den Städten als sog. Proletariat ihre
Arbeitskraft anboten – nachzulesen auch im „Das Kapital“ von Karl Marx,
z.B. im Kapitel zur ursprünglichen Akkumulation.
(Oder in jedem besseren Geschichtsbuch.)“
In jedem besseren Geschichtsbuch ist tatsächlich nachzulesen, dass das Geld alleine noch längst nicht regelmäßig zu Vertreibungen führt, sondern dass es dazu zusätzliche historische Faktoren braucht (die z.B. Wood diskutiert, auch Kuczynski…). Allgemein gesehen wäre es ja blöd von den Feudalherren, die Quellen ihrer Bereicherung zu vertreiben…
Hallo Annette,
zu der von Dir genannten Zeit gab es noch gar keine größeren Städte im heutigen Sinne, da die Produktivität der damaligen Landwirtschaft noch viel zu gering war, um viele Städter zu ernähren.
Diese sind erst mit der zunehmenden Industrialisierung gewachsen.
Wobei die aufkommende Geldwirtschaft klar ihre LiebhaberInnen hatte.
Allerdings vor allem bei denen, die Geld hatten, z.B. die ersten Kaufleute wie die Fuggers usw.
(Und das waren im Mittelalter noch relativ wenige.)
Während das durch Vertreibungen frei gewordenen Land oftmals an Geldbesitzer verpachtet und später auch verkauft wurde, aus denen wiederum die sog. Großgrundbesitzer hervorgegangen sind.
Da es damals noch relativ wenig privates Kapital gegeben hat, waren die größeren Unternehmen (z.B. Bergbau usw.) meist in staatlicher (d.h. damals noch königlicher) Hand bzw. wurden von diesen lizensiert.
(Woraus sich eine Art Symbiose zwischen dem aufkommenden Handels- und Finanzkapital und den Königshäusern entwickelt hat.)
Grüße
Andreas Lindner
Noch eine Ironie am Rande:
Während sich die früheren Herrschaften (im wesentlichen der Adel bzw. Klerus) noch mit einem „Zehnt“ an Naturalien zufrieden gegeben haben (und froh waren, wenn z.B. ihr Bauch voll war und das eine oder andere Fest gefeiert werden konnte), wurden die späteren Ansprüche in Geld zunehmend maßloser.
Jedenfalls können heutige Steuerpflichtige von den damaligen weitaus geringeren Abgaben nur noch träumen.
PS: Unter Berücksichtigung der indirekten Verbrauchssteuern, MwSt usw. ist es heute rd. 1/3 des Einkommens, das der Staat für sich beansprucht.
Auch ein Fortschritt der Geldwirtschaft.
(Während die staatliche Haupteinahmequelle heutzutage weiterhin die Lohnsteuer und MwSt ist – d.h. die Steuern, die vor allem die sog. kleinen Leute treffen, während die Reichen und Vermögenden steuerlich besser gestellt werden, zumal wenn diese unternehmerisch tätig sind und einiges wieder „absetzen“ können.)
Grüße
Andreas Lindner
Hallo Andreas,
„zu der von Dir genannten Zeit gab es noch gar keine größeren Städte im heutigen Sinne“ – habe ich das behauptet? Es wäre ja auch extrem unhistorisch, damals „größere Städte im heutigen Sinne“ zu erwarten.
Aber wer in Europa, speziell Deutschland lebt, sollte schon ein Gefühl dafür haben, wann die alten Städte alle so entstanden sind. Es gab da in der frühen Zeit mindestens zwei Wellen von wichtigen Stadtgründungen, die für die damalige Zeit (auch für die Dörfer) eine nicht zu vernachlässigende Bedeutung hatten. In den neu erschlossenen Gebieten im Osten wurden die Dörfer sogar gleichzeitig mit den städtischen Marktorten gegründet …
…aber es macht sicher keinen Sinn, hier noch mehr in die einzelnen Geschichtsdebatten einzusteigen, du hast schon zu Recht auf entsprechende Literatur verwiesen. Ich hab keine Lust, die Bücher abzuschreiben, selber lesen macht schlau.
Hallo Annette,
um ehrlich zu sein:
Ich halte das mit dem Mittelalter nicht derart wichtig.
(Das ist allenfalls noch für Historiker interessant.)
Ein zurück zu diesen Zeiten ist heutzutage schon allein aufgrund des zwischenzeitlichen Bevölkerungswachstums sowieso nicht mehr möglich.
Der Blick sollte vielmehr nach vorne gerichtet werden.
Grüße
Andreas Lindner
PS: Zumal das Mittelalter zwar vielleicht im Vergleich zu heute den einen oder anderen Vorteil hatte, aber insgesamt bekanntlich auch kein Paradies war.
Und ob eine andere Entwicklung möglich gewesen wäre, sei ´mal dahingestellt.
Christian,
Dein Bericht über das Geld im Mittelalter folgt wahrscheinlich dem Buch von de Goff ziemlich genau. Was mich interessieren würde, wäre eine Einbettung des Themas Geld in die sozialökonomische Entwicklung insgesamt. Sonst reden wir die ganze Zeit nur über Erscheinungen statt über die zugrundigenden Prozesse und Tendenzen. Mir ist aber klar, dass das ein ganzes Forschungsprojekt ist, das man nicht mit dem Lesen eines Buches „abarbeiten“ kann.
Wichtig ist es aber, dass das ganze „Keimform-Konzept“ (wir sind ja immer noch in diesem Blog) besser mit historischem Inhalt gefüllt wird, und auch die Beschäftigung mit „Commons“ wird nicht besser, wenn sie als historische Allmenden nur im allgemeinen Sinne immer wieder beschworen werden, statt genau anzugeben, welche Stadt-/Dorfgemeinden in welcher Region/zu welcher Zeit man meint.
Andreas, da hat sich unser Schreiben grad fast gleichzeitig ergeben:
„Ich halte das mit dem Mittelalter nicht derart wichtig.“ Deshalb hab ich mich ja auch lange nicht tiefer mit geschichtlichen Fragen beschäftigt. Hier jedoch hat Christian gute Gründe, mal in die Geschichte zurück zu schauen und deshalb ergibt sich hier dann auch die Debatte dazu.
Wichtig ist die Kenntnis dieser Prozesse, wenn andere immer wieder bestimmte Vorstellungen nennen (z.B. zur angenommenen historischen Rolle von Geld), die aber weiter diskutier- und ggf. auch kritisierbar sein müssen.
Was für mich wichtig war, war genau die Commons-Geschichte. Es wird immer wieder, wie auch von Dir, auf die Vertreibung der Bauern oder auch die Einhegung/Enteignung der Allmende verwiesen, die es heute gibt und dabei schaut man dann auch oft in die Geschichte. Mich begann es aber genauer zu interessieren: Welche Allmenden waren es denn, die da wann von wem enteignet wurden? Inzwischen weiß ich, dass die ganze Geschichte des Mittealters,wenn auch oft nur unterschwellig, durchzogen war von regional sehr unterschiedlichen Formen von gemeinschaftlichem Wirtschaften auf mehr oder weniger gemeinsamen Besitz und dass es immer auch Kämpfe um diese Strukturen und Ressourcen gab. Das ist schon spannend und ich finde mich auch zum ersten Mal in meinem Leben interessiert lesend in diesen Geschichtswälzern.
Einerseits sind daraus Erfahrungen zu entnehmen (warum und wann waren Kämpfe für wen erfolgreich?), andererseits gibt es,wie Ernst Bloch sagt, in all diesen Prozessen „einen Überschuß, der eine Nachreife möglich macht“.
Wichtig finde ich das Thema „Geschichte“ auch wegen dem Blog-Titel. Der Begriff „Keimform“ entstammt ja einer evolutionstheoretischen Konzeption (http://keimform.de/2011/fuenfschritt-methodische-quelle-des-keimform-ansatzes/) und es wird Zeit zu überprüfen, ob und wie dieses „Muster“ auch für menschlich-geschichtliche Prozesse funktioniert. Aus der Art und Weise, wie in der Geschichte neue Gesellschaftsformen entstanden sind, soll ja antizipiert werden, wie es jetzt auch dazu kommen könnte. Da schließt sich dann der Kreis zu wahrscheinlich auch Deinen Interessen, auch wenn der Weg lang ist 😉
„auch die Bauernfamilien kamen regelmäßig mit Geld in Berührung. Für
letztere war es zwar weniger wichtig, weil sie ihre wichtigsten
Lebensmittel selbst produzierten„
Für Bauern war das Geld schon ziemlich wichtig, weil sie damit ihre Abgaben an die Grundeigentümer zahlen mussten. Womit sollte sonst der Grundeigentümer oder seine Lehnsherren in der Stadt Luxusgüter kaufen sollen? Wie konkret verschieden das auch hir und dort aussah, das ist das Wesen der feudalen Zirkulation. Und erst wenn Bauern ihr Mehrprodukt in Geld abliefern mussten, kamen sie überhaupt erst in die Stadt, weil sie ihr Zeugs vorrangig für diesen Zweck selber verkaufen mussten. Das war ja Voraussetzung für die frühbürgerliche Stadt. Deren Kerngeschäft war Luxus (Kaffee, Gewürze, Tuche, Bauhandwerk, Kunst etc.). Im Grunde lebte die frühe Stadt komplett von der feudalen Ausbeutung. Dörfer produzierten weitgehend autark.
„In der städtischen Ökonomie spielten Geldbeziehungen aber eine wichtige Rolle …“
Ist ja auch kaum verwunderlich, weil kein Städter seine Lebensgrundlagen selbst produzierte, sondern alles dafür Nötige kaufen musste. Nur in diesem, auf sich selbst rückgebundenen Reproduktionskreislauf kann sich ja sowas wie Wert herausbilden.
Ich geh ja davon aus, dass Du das weißt, Christian, aber das wäre doch ne fundamentale Klarstellung, ohne die zu erwähnen, man in der Deskription bleibt.
Hallo Armin Kirchmaus,
nur einer von vielen gedanklichen „Kurzschlüssen“.
Dein Gedanke war:
1. Nachdem die damaligen Grund- bzw. Lehnsherrn die Abgaben anstatt wie früher als Naturalien in Geld wollten, waren die Bauern gezwungen, ihre Überschüsse in den Städten zu verkaufen, um an Geld zu kommen.
(Was diese wiederum an ihre Herrschaften abliefern mußten.)
2. Daraus schließt Du, daß im Grunde „die frühen Städte komplett von der feudalen Ausbeutung“ lebten.
Und was ist mit dem Geld (übrigens damals vor allem Silber- bzw. auch Goldmünzen), das die Städter für die Waren der Bauern bezahlten?
(Oder wurden die Bauern von den Städtern ausgeraubt bzw. bestohlen??)
Im Handel (bzw. in der Zirkulation) entsteht kein Mehrwert, weshalb in einem Tausch (Ware gegen Geld) auch niemand ausgebeutet wird.
(Von gelegentlichen Betrügereien ´mal abgesehen.)
Dieser entsteht nur in der Ausbeutung der menschlichen Arbeit, die zur Herstellung einer Ware bzw. Dienstleistung oder auch zum Vertrieb bzw. Verkauf nötig ist.
(Deshalb verdienen z.B. LIDL, ALDI und Co. – auch wenn viele das meinen und sich darin täuschen – ihr Geld nicht mit dem Verkauf der Waren – an der Kasse werden durchschnittlich gleiche Werte getauscht, sondern aus der Ausbeutung der bei ihnen beschäftigten Arbeitskräfte.)
Während die Abgaben an die damaligen Lehnsherrn mit den heutigen Pachtverhältnissen bzw. Steuern vergleichbar waren.
Da wird den Leuten einfach etwas weggenommen, ohne daß eine Ausbeutung stattfindet.
(Auch so läßt sich Reichtum anderer aneignen.)
Was wiederum zeigt, daß sich eine Diskussion kaum lohnt, solange nicht einmal das „kleine Einmal-Eins“ der marktwirtschaftlichen bzw. kapitalistischen Ökonomie verstanden bzw. begriffen ist.
Grüße
Andreas Lindner
Hallo Armin,
„Im Grunde lebte die frühe Stadt komplett von der feudalen Ausbeutung. Dörfer produzierten weitgehend autark.“
Ich denke, die Interessenwidersprüche waren viel komplexer, als dass sie sich mit dem einfachen Motto „Stadt gegen Land“ erfassen ließen. In der Stadt und auf dem Land gab es deutliche Gegensätze, und auch innerhalb der feudalen Herrschaft gab es verschiedenste Gegensatzebenen…
Viele Dörfer produzierten spätestens seit dem 13. Jahrhundert nicht mehr überall vollständig autark. Der Begriff „Bannmeile“ kommt z.B. daher, dass die Bauern im Umkreis einer Stadt bestimmte Gewerke nicht mehr ausüben durften (Schneider, Schuste, Schmiede) und auch Wirtshäuser, an denen ein Lebensmittelhandel angeschlossen war, wurden geschlossen. Die Stadt Gent unternahm z.B. Strafexpeditionen gegen ländliche Orte imUmkreis von 3-5 Meilen und beschlagnahmte das dort aufgefundene Werkzeug zur Tuchherstellung…
Auch sonst führte die Entwicklung der „normalen“ Arbeitsteilung eher dazu, dass Bauern nicht nur gezwungenermaßen auf geldvermittelten Konsum umstiegen. Letztlich war die Produktivität auch der Landwirtschaft in dieser Zeit gestiegen.
Ich denke, es ist falsch, die Bauern nur als Opfer von Gewalt und Unterdrückung zu sehen. Gerade zu Zeiten des Landesausbaus konnten sie ausweichen und die Bedrückungen der feudalen Herrschaft wurden in diesem Zusammenhang auch abgeschwächt. Der Übergang zu Geldabgaben war damals keine Verstärkung der Herrschaft (auch wenn sie dieser auch genutzt hat), sondern führte zur Steigerung der Autonomie der Bauern. Später nach den Pestwellen und Wetterunbilden des 14. Jhd. kommt noch hinzu, dass die Bevölkerung so ausgedünnt war, dass es zu einer Art Arbeitskraftmangel gekommen ist, was ihre Stellung im Kampf um die Umverteilung des Mehrprodukts natürlich gestärkt hat.
Hallo Annette,
nur noch etwas zu Deinem Glauben (zu dem Du sicherlich Hunderte Bücher und Erzählungen findest, die das bestätigen – schließlich lieben die Bürgerlichen das bzw. vor allem ihr Geld und gehen dafür notfalls sogar über Leichen), daß die Einführung der Geldwirtschaft den Bauern gut bekommen wäre und z.B. zu mehr Autonomie usw. führte:
Der frühere Chef-Ökonom der Weltbank Stiglitz, der aufgrund seiner Tätigkeit zu einem Kritiker wurde, hat während eines längerem Zeitraums vor allem auch in Afrika beobachtet, wie die Einführung der Geldwirtschaft traditionelle Dorfgemeinschaften zunehmend zerstörte.
Obwohl es vor allem in einer privateigentümlichen Gesellschaft das Geld als Tauschmittel (noch davon entfernt, Kapital zu werden) braucht, kann Geld nie und nimmer etwas Gutes sein.
(Außer vielleicht für diejenigen, die genügend davon haben.
Doch das ist weltweit eine relativ kleine Minderheit.)
Grüße
Andreas Lindner
@Andreas Lindner #19
Deine These, dass Geld nie und nimmer etwas Gutes (für uns alle!) sein kann, was folgt daraus für Dich?
Was können oder sollten wir alle tun?
Heiter weiter …
Wolfgang
Wir sollten davon loskommen, eine schon vorher verfestigte und verallgemeinernde Meinung immer nur durch dann passende Einzelbeispiele aus unterschiedlichen Zeiten und Regionen in den Ring zu werfen.
Was ich im Moment tue, ist jeweils Gegenbeispiele zu bestimmten üblichen Vorurteilen anzuführen, die aber selbst natürlich auch immer auf die konkrete Situation zurückbezogen werden müssen. Dagegen hilft kein anderes Gegenbeispiel, sondern nur das Ernstnehmen der Erfahrung, immer konkret den jeweiligen historischen und regionalen Kontext mit zu betrachten. Für mich jedenfalls ist es im Moment eine große Bereicherung, dass ich einige Bücher sehr gründlich lese…
Was daraus folgen könnte? Auch für die derzeitige Handlungsorientierung nicht von vorschnellen Verallgemeinerungen auszugehen, die dem realen Leben eh nie gerecht werden.
Hallo Wolfgang,
die Antwort ist nun wirklich einfach.
Erstmal zu überlegen, welchen Sinn und Zweck z.B. das Geld hat und warum es das überhaupt gibt.
Und sich anschließend ´mal – auch über den eigenen „Tellerrand“ hinaus – die heutige Welt ansehen (in der sich bekanntlich letztlich alles nur noch weitgehend ums Geld dreht) und in welchem verheerenden Zustand diese inzwischen ist.
(Zudem stehen wir vor einem – auch atomaren – 3.Weltkrieg, der natürlich eine Folge der marktwirtschaftlichen bzw. kapitalistischen Ökonomie und den Nationalstaaten ist, die diese betreuen.)
Wer das o.k. findet, kann weiter schlafen.
Ansonsten bleibt nur, auf die Gründe aufmerksam zu machen, warum die Welt so ist wie diese heute ist und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen, was sich aus der Kritik weitgehend von selbst ergibt.
Marx nannte das die „Kritik der politischen Ökonomie“ und hat in seinem Lebenswerk „Das Kapital“ genau deshalb versucht, diese zu erklären.
Grüße
Andreas Lindner
PS: Ohne eine richtige (d.h. der Wirklichkeit entsprechende bzw. wissenschaftliche) Kritik der bisherigen wirtschaftlichen bzw. gesellschaftlichen Verhältnisse wird es jedenfalls keine neue bzw. bessere Welt geben.
Im Gegenteil – bereits seit längerem läuft es genau in die andere Richtung, d.h. eine noch nie dagewesene Barbarei.
Was bereits heutzutage in zunehmend mehr Weltgegenden zu beobachten ist.
Übrigens:
Es gibt heute kaum noch ein „Urlaubsparadies“ (z.B. auf den Malediven usw.), daß nicht miltärisch bewacht wird.
Während vor allem in den USA bei den Reichen und Vermögenden der Bau von privaten Atombunkern usw. gefragt ist.
Und sog. Sicherheitsdienste eine der wenigen Branchen sind, die noch wirkliches „Wachstum“ haben.
(Außer der Rüstungsindustrie, die weltweit boomt.)
@Andreas
Die Ausbeutung besorgt natürlich der Grundbesitzer, hinter dem irgendwo ein Gewaltapparat steht, der die Abgaben in welcher Form auch immer eintreiben kann. Wenn die Stadtleute so gut wi nix produzieren, was die Bauern für ihre Reproduktion brauchen, sind fast alle Nahrungsmittel die sie verbrauchen, indirekt über den Grundbesitz eingetrieben. Damit lebten, natürlich schematisch-vereinfacht gesagt, die Städter von der Ausbeutung der Bauern. Das war übrigens nach 1917 für die Bolschewiki ein ernstes Problem.
Mehr-Wert gibts noch lange nicht. Dazu braucht es ja erst mal Wert, der wiederum nur über die Reproduktionsgleichung zur universellen ökonomischen Größe werden kann.
@Anette
Mit der Autarkie der Dörfer meinte ich nicht ihre Handlungsfreiheit, sondern ihre ökonomische Reproduktion. Kleidung, Hausbau, Töpferei konnte jede Familie und den Rest erledigte der Dorfschmied. Feudale Akkumulation war im Wesentlichen Subsistenz mit Mehrproduktabschöpfung.
Wenn man über Geld spricht, geht es auch nicht um Gegensätze, sondern um die ökonomische Zirkulation, also nachvollziehen, welche Wege die nimmt. Den Um-Weg über die Stadt nahm sie nur dort, wo tendenziell die Burgwirtschaft (Handwerk direkt beim Ausbeuter) in die Stadt übergeht, die ursprünglich eher Fernhandel betrieb. Und solche Um-Wege macht ja Geld erst möglich.
Bauern, denen es dann gelingt, von dem Gelderlös was übrig zu behalten, können erstmals auch anfangen Kleidung, Werkzeuge etc. in der Stadt zu kaufen und nicht nur Lebensmittel, sondern auch Rohmaterial (Hanf, Wolle, Holz) an die Stadt zu liefern, Leute zu bezahlen usw.. In England zählten leibeigene Bauern zu den ersten Kapitalisten.
Noch ergänzend:
Ist doch klar.
Letztlich ist das nicht anders wie z.B. bei einem Arzt.
Entscheidend ist die Diagnose.
Und wenn diese nicht stimmt, taugt auch die Therapie nichts.
Grüße
Andreas Lindner
Hallo Kapuzino,
Ausbeutung (im wirtschaftlichen bzw. ökonomischen Sinn) ist etwas anderes als die Wegnahme von etwas, z.B. Miet- und Pachteinnahmen, Steuern usw.
Oder würdest Du z.B. einen Bankraub als Ausbeutung bezeichnen?
Während die Bürgerlichen (vielleicht mit Ausnahme von Notstandszeiten) – auch bereits damals in den mittelalterlichen Städten – in der Regel nicht raubten bzw. gestohlen, sondern für die von den Bauern gelieferten Lebensmittel bezahlt haben.
(Deshalb ist es übrigens auch ein Unsinn, die schlechte Lage z.B. in der sog. 3.Welt auf einen angeblich „ungerechten Welthandel“ zurückzuführen.
Das ergibt sich zwangsläufig aus den ökonomischen Gesetzen des Warentausches – ohne daß jemand beraubt bzw. bestohlen wurde.)
Bei den damaligen „Bolschewiki“ hingegen war es vor allem während der Bürgerkriegszeit so, wie Du beschrieben hast.
Allerdings war das kein Warentausch, sondern eine Wegnahme bzw. Beschlagnahmung der von den Bauern produzierten Lebensmitteln.
(Weshalb etliche auch rebellisch wurden.)
Grüße
Andreas Lindner
Am Rande bemerkt:
Die einfache Wegnahme bzw. der Raub (wie es z.B. in der vor-bürgerlichen Kolonialzeit in den Kolonien noch üblich war) hat natürlich enge Grenzen.
Spätestens, wenn alles weggenommen bzw. geraubt wurde, ist nichts mehr zu holen.
Dagegen ist die bürgerliche Ausbeutung weitaus effizienter und auch effektiver, da diese die „Geldquelle“ haltbar macht.
(Deshalb hat der bürgerliche Staat später z.B. auch sog. Arbeitsschutzgesetze erlassen, damit die Kapitalisten die ArbeiterInnen nicht vollends ruinieren usw.)
PS: Während der im späteren Mittelalter aufkommende Streit bzw. Gegensatz zwischen „Stadt und Land“ ganz andere Gründe hatte.
Der Auslöser war, daß das damals aufkommende Bürgertum vor allem in den Städten (d.h., vor allem die Reichen und Vermögenden, andere galten zur damaligen Zeit noch nicht als vollwertige Bürger) nicht mehr länger bereit war, die von den Adligen erhobenen Abgaben bzw. Steuern zu bezahlen, siehe z.B. den „Prager Fenstersturz“, wo die Stadträte die königlichen Steuereintreiber einfach aus den Fenstern warfen.
Zudem wollten diese sich nicht mehr länger politisch bevormunden lassen.
Letztlich war das ein Streit innerhalb der sog. Eliten (einerseits die bisherigen Feudalherren und andererseits das aufkommende Bürgertum), weshalb das für heutige Überlegungen z.B. einer wirtschaftlichen bzw. gesellschaftschaftlichen Veränderung „von unten“ nicht brauchbar ist.
Grüße
Andreas Lindner
@Andreas
Also wenn Ausbeutung nicht Wegnahme wäre, gäbe es sie nicht.
Dahinter steht immer ein Zwang, eine physische Gewalt. Ohne die ist Ausbeutung nicht möglich.
Wenn man nicht mit Waffengewalt auf die Bauern losgehen kann, würden die keinen vernünftigen Grund sehen, dem Fürsten sein Abendbrot zu sponsorn.
Wenn Arbeiter nicht verhaftet würden, wenn sie sich bei Aldi ihr Abendbrot holen, ohne zu bezahlen, könnte man sie nicht in ein Lohnarbeitsverhältnis zwingen, dessen Kalkulation die Ausbeutung zwingend und a priori beinhaltet.
Diese Sorte Zwang heißt Eigentum, sprich, der Ausschluss von allem, was nicht meins ist, ich aber zum Leben brauche. Dadurch muss ein Kapitalloser die Kalkulation des Produktionsmittel- und Produkteigentümers weitgehend so hinnehmen, wie sie ihm vorgesetzt wird, im Personalgespräch wie im Mietvertrag.
Die Verallgemeinerung von Eigentum ist also der entscheidende Übergang. Auf dem Spielfeld erst können Wert und Geld leben.
Geld ist fundamental für jemand, der alles kaufen muss, was er zum Leben braucht. Der Städter ja, der Bauer nein.
Hallo Kapuzino,
das stimmt schon, was Du schreibst.
Klar braucht es zur Ausbeutung eine Gewalt.
Dennoch ist Wegnahmne (z.B. Beschlagnahmung, Raub oder Diebstahl) im wirtschaftlichen bzw. ökonomischen Sinn etwas anderes.
(Würde den Leuten alles nur weggenommen werden, käme es relativ schnell zu Aufständen, während eine derartige Gesellschaft kaum lange existieren würde.)
Zudem sollte nicht vergessen werden, daß auch im Mittelalter die feudalen Herrschaften (z.B. Fürsten usw.) die Abgaben ihrer Untertanen nicht einfach nur verpraßten, sondern auch eine gesellschaftliche Funktion hatten wie z.B. die Gerichtsbarkeit, Verwaltung der ihnen unterstellten Ländereien, Entwicklung einer Infrastruktur und andere öffentliche Aufgaben, Landesverteidigung usw.
Ähnlich wie der bürgerliche Staat (der bekanntlich mit dem Schutz vor allem des kapitalistischen Privateigentums die Ausbeutung erst ermöglicht), wo es sich die meisten PolitikerInnen zwar auch gut gehen lassen, aber dennoch nicht die gesamten Steuereinnahmen für ihre privaten Zwecke verprassen.
Grüße
Andreas Lindner
PS: Am Besten haben es übrigens die Grundeigentümer, die ihr Land verpachten bzw. verkaufen.
Diese erzielen aufgrund eines Eigentumtitels eine Rendite bzw. Einnahmen, ohne auch nur im geringsten einen „Finger krumm“ machen zu müssen bzw. wirtschaftlich tätig zu sein.
PS2: Die (kapitalistische) Ausbeutung könnte auch als die raffiniertere Form der früheren Wegnahme bezeichnet werden, da diese nicht derart offensichtlich ist und vor allem die „Geldquelle“ nicht unmittelbar ruiniert, sondern haltbarer bzw. dauerhafter macht.
Während sich die früheren (meist europäischen) Kolonialherren in den Kolonien oftmals einfach genommen haben, was sie brauchen konnten, bezahlen die Bürgerlichen.
(Bekanntlich werden z.B. Rohstoffe heutzutage nicht mehr geraubt bzw. gestohlen, sondern zu den jeweiligen Weltmarktpreisen gekauft.)
Gebracht hat das den meisten Einheimischen (z.B. in Afrika usw.) allerdings kaum etwas.
Denen geht es oftmals noch schlechter als zur früheren Kolonialzeit.
Grüße
Andreas Lindner
Auch eine Folge einer inzwischen weitgehend globalisierten Marktwirtschaft bzw. des kapitalistischen Weltmarkts:
Während z.B. die früheren Sklaven in Afrika noch mühsam eingefangen und zur Kundschaft (z.B. ins damalige Amerika) transportiert und verkauft werden mußten (weshalb diese einen Geldwert hatten und schon allein deshalb deren Besitzer ein Interesse daran hatte, diese möglichst zu erhalten), rudern deren Nachfahren heutzutage auf eigene Kosten und unter Lebensgefahr freiwillig übers Mittelmeer in der Hoffnung, in den kapitalistischen Zentren meist als Billigstarbeitskräfte noch einen Job bzw. ein Einkommen ergattern zu können.
Ob das ein Fortschritt ist, möge Jede(r) selbst entscheiden.
„Obwohl es vor allem in einer privateigentümlichen Gesellschaft das Geld
als Tauschmittel … braucht,“
Geld ist kein Tauschmittel, es ist Tauschgegenstand.
„… kann
Geld nie und nimmer etwas Gutes sein.“
Als reiner Konsumtionschip, der lediglich einen frei wählbaren Anteil am gesellschaftlichen Reichtum reguliert, wäre es zumindest was völlig anderes als Kapital.
„Die (kapitalistische) Ausbeutung könnte auch als die raffiniertere Form der
früheren Wegnahme bezeichnet werden“
Nee, so meint ich das nicht mit Wegnahme. Raffiniert schon gar nicht. Aber ein Übergang von Reichtum, ein Fluß in eine Richtung ist ja für den einen Gewinn, für den anderen Verlust, also „weg“. Und da das nicht freiwillig geschieht, sondern im Rahmen eines gesetzen Gewaltverhältnisses (Eigentum) hab ich „Wegnahme“ etwas provokant unterstrichen gegen Phantasien, Ausbeutung ergäbe sich irgendwie aus dem Tausch.
Hallo Kapuzino,
auch etwas provokant:
Obwohl der Tausch selbst noch keine Ausbeutung ist, ergibt sich diese dennoch daraus.
Schließlich beuten die Kapitalisten bzw. Unternehmen weniger deshalb die Arbeitskräfte aus, um anschließend z.B. ihren Swimmingpool mit Champagner zu füllen (bekanntlich fließt der geringste Teil des Gewinns bzw. Profits in den privaten Konsum, sondern wird wieder investiert, um konkurrenzfähig zu bleiben), sondern vielmehr, um die hergestellten Waren bzw. Dienstleistungen möglichst preiswerter als andere auf dem Markt anbieten und möglichst viel verkaufen zu können.
Und was ist das anderes als ein Kampf um den geringsten Tauschwert?
Grüße
Andreas Lindner
PS: Einmal abgesehen davon, daß sich der Tauschwert aufgrund von sog. Rationalisierungen (d.h. Einsparung von Lohnkosten mittels Ersatz von modernster Technik und Maschinerie) sowieso insgesamt verringert.
PS2: Derart „unschuldig“, wie der Tauschwert auf den ersten Blick erscheint (der Tausch von durchschnittlich gleichen Werten), ist dieser in Wirklichkeit nicht.
(Deshalb hat es übrigens auch die „marktwirtschaftliche Idylle“, von der manche heute noch träumen, schon in früheren Zeiten nicht gegeben.)
„Schließlich beuten die Kapitalisten bzw. Unternehmen weniger deshalb die Arbeitskräfte aus, um anschließend z.B. ihren Swimmingpool mit
Champagner zu füllen“
Naja, also wenn nix bei rumkommen würde, gäbe es für niemanden einen Grund, Kapital in Gang zu setzen, also Geld in Produktion zu investieren. Der Zweck ist letztlich privates Einkommen, eine Reichtumsquelle. Um die Differenz von G und G‘ geht es. Ohne die läuft nix.
Dass die Maschine, die Geld macht, selbst auch noch ihren Tribut verlangt, kommt noch hinzu. Die muss halt laufen und in der Konkurrenz mit anderen Geldmaschinen bestehen.
Und natürlich sagt der Staat auch, dass ein Teil des Erlöses sowieso seins ist.
Wenn man nun sagt, dass dies nicht auf dem Tausch beruht, sondern auf dem Eigentum (=Ausschluss), hat man ja Tausch nicht zur Idylle erklärt.
Auch wenn W-G-W systematisch in G-W-G‘ umschlägt, sind es dennoch verschiedene Sachen. Das sollte man festhalten.
Hallo Kapuzino,
klar geht es in der bürgerlichen Gesellschaft um die private Bereicherung.
Damit setzen diese allerdings sog. Sachzwänge in Gang (die im wesentlichen von Marx im „Das Kapital“ erklärt wurden), von denen diese selbst meist keine Ahnung haben – siehe z.B. das Wertgesetz.
Und klar ist auch, daß der Tausch eine Folge des Privateigentums an den Produktionsmitteln ist.
Ansonsten bräuchte es keinen Tausch und würde auch keinen Sinn machen.
Dennoch sollten nicht die Fehler der früheren „traditionellen Linken“ (z.B. auch den damaligen „Realsozialisten“ usw.) wiederholt werden, deren Kritik vor allem die Ausbeutung war, während diese am Kapitalismus selbst wenig zu kritisieren hatten.
(Und diesen, wenn dieser nur in den Händen der „Arbeiterklasse“ bzw. des Staates sei, sogar für eine gelungene Veranstaltung gehalten haben.
Als hätte Marx sein Lebenswerk „Die Kapitalisten“ und nicht „Das Kapital“ genannt.)
Obwohl die Ausbeutung unbestreitbar ist, ist das dennoch nicht der Grund für die zunehmende kapitalistische Misere.
Wäre das richtig, würde eine radikale Umverteilung („Klassenkampf“) genügen, während alles andere weitgehend beim Alten bleiben könnte.
(Und entsprechend war es im damaligen „Realsozialismus“ dann auch.
Es gab zwar keine Kapitalisten bzw. Reichen und Vermögenden mehr, aber weiterhin staatliches Kapital und Kredit, Lohnarbeit und Geld, Ware und Tausch usw. – wenn auch zwangsläufig in etwas modifizierter Form.)
Vielmehr liegt das am bornierten kapitalistischen Wirtschaftssystem als solches, in dessen engen Grenzen es gar nicht möglich ist, genügend materiellen Reichtum bzw. „Wohlstand für alle“ zu schaffen.
Und welches bereits längst abgeschafft und durch eine vernünftige Planwirtschaft ersetzt gehört.
Für erstere (Umverteilung) genügen zur Erklärung der wirtschaftlichen bzw. gesellschaftlichen Verhältnisse einige Micky-Mouse-Hefte, in denen bekanntlich Dagobert Duck am liebsten in seinen Goldstücken gebadet hat.
Oder ersatzweise die Geschichten von „Robin Hood“.
Ansonsten ist „Das Kapital“ von Karl Marx zu empfehlen.
Grüße
Andreas Lindner
PS: Ein sehr guter Vortrag mit dem Titel „Was von Marx zu lernen wäre…“ von Peter Decker ist übrigens z.B. auf „youtube“ zu hören.
M.E. einer der wenigen, die Marx wirklich verstanden haben.
PS2: Da ich die nächste Zeit sehr beschäftigt bin, bitte ich um Verständnis, daß ich mich vorerst verabschiede.
Annette #14:
Das fehlt Goffs Buch leider weitgehend — er beschränkt sich auf das Geld als solches, dessen Einbettung in wirtschaftliche Prozesse kommt gelegentlich am Rande vor, wird aber leider nicht vertieft. Ich habe versucht, dazu das Wesentliche herauszuholen, aber besonders ergiebig ist das Buch da nicht (weshalb der Artikel ja auch recht kurz ausgefallen ist).
Anderswo hatte ich ja schon darüber geschrieben, was Dalton über „Bauernökonomien“ unter anderem im Mittelalter zu sagen hat — das bezieht sich aber wiederum nur aufs Land, Städte kommen bei ihm nicht vor. Also eine gute Darstellung der „Wirtschaft“ oder des „Wirtschaftens im Mittelalter“ (vielleicht noch weiter auf einzelne Zeiten oder Regionen beschränkt) fände ich auch spannend, aber bislang ist mir keine untergekommen.
Armin Kirchmaus #16:
Das steht doch schon in dem anderen Textabschnitt, den du ebenfalls zitiert hast (allerdings nur halb) : „Für [Bauernfamilien] war [Geld] zwar weniger wichtig, weil sie ihre wichtigsten Lebensmittel selbst produzierten, während die Städterinnen diese kaufen mussten …“.
Die Idee, dass sich der Wert (im kapitalistischen Sinne) aus dieser städtischen mittelalterlichen Geldökonomie entwickelte, kann ich allerdings nicht bestätigen. Ellen Wood argumentiert (IMHO überzeugend), dass das stattdessen auf dem Land passierte, siehe Wie der Kapitalismus entstand.
Andreas #19:
Kleiner Präzisierungsvorschlag: Schreib nicht „Geldwirtschaft“, wenn du „Kapitalismus“ meinst. Geld wurde auch in Afrika schon lange vorher verwendet und spielte auch in vielen „traditionellen Dorfgemeinschaften“ eine gewisse Rolle (wenn auch eine deutliche kleinere als im Kapitalismus). Siehe dazu Das Geld, eine historische Anomalie?
Hallo Christian,
Kapitalismus war das noch nicht.
Dafür braucht es Kapital, das eine andere Qualität als Geld ist.
Was Stiglitz beobachtete war, daß z.B. bei seinen ersten Besuchen die Türen der Hütten bzw. Häuser zum öffentlichen Platz (in der Dorfmitte) ausgerichtet und meist offen waren.
Während einige Jahrzehnte später die Türen verschlossen waren.
Zudem sind ihm einige Streitereien aufgefallen, bei denen es – wer hätte das gedacht – ums Geld gegangen ist.
(Jedenfalls scheint das Geld gewirkt zu haben.)
Grüße
Andreas Lindner
PS: Dafür braucht es übrigens nicht ´mal eine Reise nach Afrika.
Das war hierzulande nicht anders.
Während es früher noch üblich war (selbst ich kann mich noch daran erinnern), daß die Bauern ihre Türen bzw. Häuser nicht absperrten, wenn diese z.B. auf der Feldarbeit waren, macht das heutzutage kaum noch jemand.
Während die früheren Dorfgemeinschaften schon längst nicht mehr existieren.
@Andreas:
OK, in dem Fall geht es tatsächlich nicht um die Einführung des Kapitalismus, sondern eher um dessen Intensivierung. Solltest du jedoch ernsthaft glauben, dass Geld in Deutschland auf dem Land vor ein paar Jahrzehnten noch unbekannt war, dann sprich mal mit denen, die sich an die Zeit der nicht abgesperrten Türen noch erinnern (wenn du das selbst noch miterlebt hast, reichen wahrscheinlich schon deine Eltern oder Großeltern), die werden dich schnell eines Besseren belehren. Oder lies ein paar gute Geschichtsbücher, auch das lohnt sich immer.
Im Übrigen gibt es „die Geldwirtschaft“ ja gar nicht, sondern nur diverse Produktionsweisen, in denen Geld eine mehr oder weniger große Rolle spielt. Wenn es sich also (z.B. in dem von dir genannten Afrika-Beispiel) deiner Meinung nach nicht um die Einführung oder Intensivierung der kapitalistischen Produktionsweise handelte, dann müsstest du schon ausführen, um welche andere Produktionsweise es ging.
Das Vorhandensein von Märkten und Geld macht also noch keinen Kapitalismus bzw. keine Marktwirtschaft aus. Dazu muss der Markt erst das dominante „Element“ im wirtschaftlichen Leben, vor allem der Reproduktion, geworden sein und die Preisbildung der Waren muss über ihn erfolgen. Christian, du erwähnst hierbei ja die im Mittelalter verbreitete Vorstellung des „gerechten Preises“, der scheinbar nicht über das „freie Spiel“ von Angebot und Nachfrage entstand? Wie wurde dieser festgelegt? Per Gewohnheitsrecht oder gab es entsprechende Vorschriften?
Man sollte sich vielleicht immer wieder mal dran erinnern, dass die Marx/Engels Aussagen zur Geschichte zu einer Zeit entstanden, als die historische Forschung nicht sehr weit gediehen war. Der generell „materielle“ Ansatz und die Periodisierung entlang von Produktionsweisen ist ja korrekt, aber damit rennt man seit langem auch bei „bürgerlichen“ Historikern offene Türen ein. Interessant finde ich die Möglichkeit, dass „Feudalismus“ ein Stadium sein könnte, von dem uns mindestens eine wichtige Formation trennt, und das ist genau die Entwicklung von Märkten und Geldwirtschaft sowie deren Globalisierung im Zeitalter der Entdeckungen und des weltweiten Fernhandels (Kolonien-Bildung als dem untergeordnetes Entwicklungs-Moment). Im Kapitalismus tritt da hinzu das Element der Verwertung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Form permenanter „industrieller Revolutionen“. Das ebenfalls mittlerweile globalisiert. Der eigentliche Feudalismus hingegen könnte ca 1100 an sein Ende gelangt sein (die erfolglosen Kreuzzüge seine „Krise“ – das Scheitern am Versuch seiner Ausdehnung: er ist eben kein globalisierbares Konzept gewesen…).
Spezifischer möchte ich zum Artikel als Hintergrundlektüre empfehlen die vor einem Jahr neu erschienenen „Grundzüge der Agrargeschichte“ von Kiessling ua Böhlau Verlag, hier einschlägig vor allem der 1.Band. (Als „mitteleuropäische“ Ergänzung zu den eher westeuropäisch und mediterran ausgerichteten Forschungen der longue duree Autoren wie LeGoff ode Braudel.)
Die Autoren geben sich selbst überrascht davon, was die Forschung der letzten Jahrzehnte da herausgebracht hat: Weiträumige und flächendeckende (gewissermassen jedes freie Fleckchen Erde nutzende) Handelsbeziehungen mit Agrargütern, Produktion für entfernte Märkte, Spezialkulturen (Fleisch, Wein, Hopfen, Faser- und Färbepflanzen uvam. (Stadtbürger waren nebenbei in hohem Mass selbstversorgend aus umliegenden Feldern und Gärten vor den Stadtmauern.) Ich denke, die dort beschriebenen Verhältnisse können einiges im Bezug auf das Feudalismus-Konzept zurechtrücken.
Speziell zur ostelbischen Leibeigenschaft wird ausgeführt (grob), dass es gerade die Marktorientierung und Marktchancen via Ostsee Richtung Niederlande waren, die die Grossgrundbesitzer dort dazu brachten, mit politischer Gewalt die freien Bauern in abhängige Landarbeiter zu verwandeln. Und das wiederum ist ja nicht so verschieden von den englischen Verhältnissen, wo es eben deutlich lukrativer war, Schafwolle für den Export in die Niederlande (später die heimischen Textilmanufakturen) zu produzieren als mickrige Arbeitsleistungen oder Pachtzahlungen von lokalen Bewohnern entgegenzunehmen. Die wurden dort auch nicht als Land-Arbeitskräfte gebraucht, anders als in Ostelbien.
Danke für den Literaturtip. Ansonsten ist es bei vielem so, dass FachhistorikerInnen seit langem viel mehr wissen, als wir mal so mitbekommen haben. Engels liegt mit seinen vielen historischen Studien dabei noch erstaunlich gut. Ansonsten hat die DDR-Literatur (bei aller vielleicht übertriebenen „Linientreue“) den Vorteil, die sozialökonomischen Grundlagen immer zu betonen. Und da stehen solche Erkenntnisse wie mit dem Fernhandel etc. auch schon drin. Beim Thema der „freien“ Bauern, ob nun (groß)familiär oder territorialgemeinschaftlich organisiert und jeweilige Enschränkungen/Enteignungen – da gibts in vielen Regionen auf unterschiedliche Weise recht häufig Veränderungen. Es gab nie eine homogene Zeit der Commons, die dann beim Beginn des Kapitalismus enteignet wurden, sondern seit dem Übergang aus der römischen Zeit bzw. bei der Klassenbildung der anderen Stämme im mitteleuropäischen Bereich gab es immer wieder neue Wellen der Übergabe von Eigentums- und Nutzungsrechten an diese oder jene Gruppen.
Franziska, warum willst Du den Feudalismus 1100 schon enden lassen? Da begann er ja – in Mitteleuropa – letztlich erst eine Art eigene Grundlage auszubilden. Dass da schon immer Geld und Handel dazugehört, muss doch nicht irritieren. (Schon die Bandkeramiker im 4. Jt.v.u.Z. hatten Spondylusmuscheln aus dem östlichen Mittelmeer). Ich glaube nicht, dass es eine Unterscheidungs-Schärfe zwischen dem von Dir gemeinten Feudalismus bis 11.Jhd. und dann einer Geld- und Handelsgesellschaft (noch vor dem Kapitalisms) gibt.
Das Missverständnis läge, falls du mich so verstanden hast, Annette, in der Vorstellung, eine „Formation“ grenze bündig an die andre, und daure dann bis zu ihrem „Ende“. – Es gibt in der griechischen Antike eine Tradition, die für andre Perioden, nämlich Biographien, statt Geburt und Tod ein Jahr nennt, wo die betreffende Person „blühte“, dh in der Lebensmitte ca 40 war. So ungefähr würde ich mir Angaben zu „Formationen“ wünschen; zumal die ja nicht in dem Sinn enden, dass dann etwas GANZ andres beginnt, sondern am Reife- (und Krisen-)Zustand der Vorepoche setzen die Zusatz-Aufgabenlösungen der Folgeepoche an und ein.
Eine Produktionsweise wird vernünftigerweise auch nie nur durch das in ihr bestimmende, weil notwendige Produktionsverhältnis bestimmt, sondern… nun ja, ich schlage hier seit längerem vor, das mit der materiellen Basis spezifischer zu fassen, nämlich als epochale materielle Aufgabenstellung. Was man sonst mit Feudalismus in Verbindung brachte, scheint mir die Aufgabe zu sein: Lokale Quellen von Mehrprodukten zu erschliessen und mit IHNEN in der Fläche des vormaligen antiken Grossreichs (das zum Kulturraum, va religiös definiert) mutiert, zum ursprünglich nur aus privilegierten Zonen („Kornkammern“) erstellten und in die Fläche (des Grossreichs) verteilten Mehrprodukt und damit ermöglichten Kulturniveau aufzuschliessen. Dazu gehört nicht zum geringsten, und zwar durchaus als Produktionsleistung, die Organisation und Herstellung von lokaler Verteidigungsfähigkeit – wenn man bedenkt, dass antike Grossreiche am Problem der Grenzsicherung scheitern (das typisch Feudale, das man mit den Diokletianischen Reformversuchen (zur Sicherung der Reichsverteidigung) assoziiert, die ägyptischen Bauern an die Scholle zu binden und ihre Rolle erblich zu machen, was diese wenig später, nach der bald drauf erfolgten konstantinischen Wende, in Massen aus ihren Dörfern in die steuerbefreiten Wüsten-Klöster treibt usw).
Und… ein bisschen auch zur Lockerung der eurozentrischen Vorstellungen: Soweit ich mitbekommen habe, wurde beinah alles, was wir mit europäischem (Hoch)Mittelalter verbinden, im sassanidischen PERSIEN erfunden, im Kern: die Panzerreiter, deren Ausstattung jeweils für einen mitsamt abzustellenden Kämpfern zu Fuss – von ca 5 Dörfern übernommen wurde. Wann war das? Sehr früh für unsre europäischen Begriffe – ich rate mal 3.4.Jh. (wäre nochmal zu recherchieren). Und was war die Wende in der „deutschen“ Feudalära schlechthin? Die Schlacht am Lechfeld, 955, als die einigen tausend deutschen (ostfränkischen) Panzerreiter die Ungarn stellten und aufrieben. (Sehr interessant hierzu der Artikel „Verreiterung“ in Wikipedia.)
Mir gehts nicht um ein mediavistisches Kolleg, sondern um die Erwägung der Möglichkeit, dass die Etikettierung der vor-bürgerlichen Periode als „Feudalismus“, einmal abgesehen von den methodologischen Problemen mit „Einheits-Kategorien“, an sich bereits problematisch sein könnte, und zum zweiten, dass Formationen sich breit überlappen: 1100 könnte grob ein Grenzpunkt sein, wo die Expansionsphase des west- und mitteleuropäischen „Feudalismus“ (der sich als Formation bis dahin in der Fläche konsolidiert hat) beginnt, trivialerweise in Gestalt von Kreuzzügen+ „Ostkolonisierung“, aber damit auch seiner Krise; während simultan die vielfältigen Pionierleistungen stattfinden, die dann eben die flächendeckenden marktbezogenen Kulturlandschaften um 1350 hervorbringen, wie sie der 1.Band der erwähnten „Grundzüge“ zum Ausgangspunkt seiner Darstellung nimmt. (Eine Gesellschaft, die ihr Mehrprodukt (aber eben nicht mehr) wesentlich für Manufaktur-Gewerbe (basierend auf lokal erschlossenen agrarischen und mineralischen Rohstoffen) und (SEHR weiträumigen) Fernhandel einsetzt. Und darüber sogar noch den Staat finanziert, der diesen Handel mit ermöglicht und beaufsichtigt.)
Einer der vielfältigen Kulturstränge ab ca 1100 ist die Einführung von kodifizierten Rechtssystemen, Urkunden, und die Wieder-Erschliessung des römischen Rechts. Der Aufbau einer Infrastruktur für wirklich ausgedehnte Fernhandelsbeziehungen, zugleich Handel mit Manufaktur-Produkten. Der Beginn der Zentralisierung des Gewaltmonopols (militärisch: Söldner (neue Kriegstechniken: Diszipliniert manövrierende Fuss-Soldaten besiegen Panzerreiter; Belagerungstechniken, Schiesspulver, Armbrust usw), finanziell (Steuererhebung), rechtlich: Appellationsrecht an königliche Gerichte; endgültige Unterordnung der Kirche unter den Staat).
Also die unerwartete „Vielfalt“, vor allem von Markt- und Geldbasierten Produktionsverhältnissen, die Christian thematisieren möchte, könnte schlicht das durchgehende Merkmal dieser Formation sein. Und… nach ihrer Konsolidierung im „frühneuzeitlichen Staat“ (erstes Modell: Spanien nach der Reconquista) die Expansionsphase, erst erfolgreich, dann krisenhaft; und auch hier wieder zeitgleich mit der Krisenphase die vielfältige Vorbereitung des späteren „bürgerlichen“ Zustands. (Woran scheitert diese X-Formation, wenn sie kein Feudalismus mehr war, eigentlich?)
Und vor allem noch wäre nachzusehen, wie das ganze sich im muslimischen, indischen chinesischen Raum darstellt: Wie dort möglicherweise „Feudalismus“ oder eben das Pendant dieser „X-Formation“ ausgesehen haben…
Die fundamentale Frage, die dahinter auftaucht, und sich einer „materialistischen“ GeschichtsTHEORIE stellt (wie auch jeder anderen), ist aber doch: Was für Kategorien sind die wesentlichen? Was ist zufällig, und was notwendige Voraussetzung für welchen „perioden- oder formations-bildenden“ Entwicklungsschritt? Empirisches Material gibt es gewiss viel. Die Frage ist: Wie weit es zu „verstehen“ ist… (Ua könnte man sich fragen, mit welchen zentralen Kategorien eigentlich eine Kapitalismus-Erklärung wie die hier viel rezipierte von Ellen Meiksins Wood operiert: etwas wie „sich selbst stabilisierende Zufälle“? Oder gibts da auch noch was „Notwendiges“?)
Wir sehen, das Themengebiet Geschichte ist ein weites und tiefes Feld… Und das Wissen darüber ist unbedingt notwendig, wenn man wissen will, wie menschliche Entwicklung abläuft, um vielleicht auch neue Pfade zu antizipieren.
Gerade Verallgemeinerungen sind da echt schwer. Ich selbst durchlaufe jetzt gerade eine Phase, wo ich viel zu Geschichte und Geschichtstheorie lese, dabei werden im Moment mehr Unklarheiten erzeugt als Klarheiten. Aber Klarheiten, die an der historischen Wirklichkeit vorbei gehen, führen ja auch nicht weiter…
@Perikles #39:
Unterschiedlich — das meiste war wohl Gewohnheitsrecht, gelegentlich gab es Vorschriften (v.a. Obergrenzen) durch den Gesetzgeber, oft gab es Preisvorgaben durch Gilden. Wobei in Zeiten von Knappheit, etwa bei Hungersnöten, alle Vorschriften natürlich verpufften und die Preise stark anzogen — nur dass das dann eben als unfairer „Wucher“ empfunden wurde und manchmal den Anlass für Revolten/Plünderungen gab. Insofern war das Spiel von Angebot und Nachfrage nicht komplett abwesend, es spielte nur im Alltag kaum eine Rolle.
Nun wird dieser Wegfall der Gilden- und Zunftordnung seitens der „gängigen“, also bürgerlich-liberalen, Geschichtsschreibung als große Befreiung dargestellt. Vor allem da ja oftmals keine Bewegungsfreiheit gegeben war und durch die Schaffung eines nationalen Binnenmarktes die „regionale Beschränktheit“ aufgehoben worden sei. Auch seitens Marx und Engels klingt das ja immer wieder durch.
Andererseits hat Annette nochmals herausgestellt, dass es durchaus bereits vor der so genannten „Neuzeit“ weltweit verflochtene Handelsbeziehungen gab.
Entsprechend betrachten Autoren wie Kropotkin oder Fotopoulos die Entstehung des Kapitalismus weitgehend als rein desaströs, d.h. dass es ihrer Meinung nach durchaus eine industrielle Entwicklung hätte geben können ohne das Zünfte- und Gildenwesen und dessen Organisierung einer „Einbettung“ der Märkte aufheben zu müssen, so dass viele soziale Verwerfungen womöglich hätten vermieden worden können. Bei Polanyi klingt es ähnlich an. Was ist von einer derartigen – ja durchaus ziemlich spekulativen – Betrachtungsweise zu halten?
Was ich noch spannend finde sind Erfahrungen aus der näheren Vergangenheit und sogar der Gegenwart, wo Geld und Markt nicht automatisch zu Desastern führen. Im Bericht über „Juchitan – Stadt der Frauen“ (Bennholdt-Thomsen) kann „verbindlich geteilte Weltanschauung … Markt und Geld subsistenzorientiert prägen“. Soziales Prestige wird hier noch (wie für viele alte Kulturen überliefert) durch Freigibigkeit erworben. „Der Tauschakt selbst ist Bestandteil des sozialen Geflechts… Dabei bestimmen sich die Preise nach dem Stand des „Gegenseitigkeitskontos“…“ Das funktioniert allerdings nur innerhalb ihrer Kulturgemeinschaft. Nach außen hin sollen sie berüchtigt sein fürs „Übervorteilen“…
Aus der lokalen Ökonomie zu Zeiten ihrer Großeltern und Eltern in der Bundesrepublik (also bis ins 20.Jhd. hinein) berichtet Christa Müller in „Von der lokalen Ökonomie zum globalisierten Dorf“: „In den innerdörflichen Tauschkreisläufen spielte Geld eine marginale Rolle. Abrechnungen wurden am Ende des Jahres erstellt. In vielen Fällen gingen die Rechnungenauf, das heißt, beide Seiten hatten in ausgeglichener Weise füneinander gearbeitet.“ …
„Die ökonomischen Beziehungen dienen hier neben der Lebenssicherung dazu, die sozialen Beziehungen zu bestätigen und zu stabilisieren. Man kann sich gegenseitig Großzügigkeit erweisen, man dokumentiert, daß man nicht auf den Pfennig guckt und daß man sich im wesentlichen so behandelt wie die eigenen Familienmitglieder.“
Das erlebe ich hier auf dem Dorf auch noch: Da würde jede Person nur negativ auffallen, wenn sie bestimmte Leistungen oder Gaben genau gegenrechnen würde. Wirtschaftliche schwache Leute werden in dem Bericht aus dem Buch auch leicht mitversorgt: für einen Schumacher ist es klar, dass er zu Jahresende für die Kinder der armen Familie unbezahlte Schuhe macht.
Dass diese Art Beziehungen über die persönliche Bekanntschaft nicht hinausreicht, ist leider auch hier ein großes Manko dabei. Aber wenigstens hier galt: „Weil alle alle kannten, war man unmittelbar mit dem Schicksal der einzelnen Leute verbunden und mußte die eigenen Forderungen nicht nur von der geleisteten Arbeit, sondern auch von der Zahlungsfähigkeit der Geschäftspartner abhängig machen.“
@Perikles #45:
Mir ist das zu spekulativ und ich sehe den Kap. tatsächlich ambivalenter — er hat viel Schlimmes, aber auch viel Gutes hervorgebracht.
Tatsache ist, dass es keinerlei Anzeichen dafür gibt (soweit mir bekannt), dass aus dem Zünfte- und Gildenwesen irgendwelche Industrialisierungstendenzen hervorgingen. Und es stimmt ja, dass diese Organisationen eher konservativ waren und dass auch die Idee des „gerechtes Preises“ etwas inhärent Konservatives hat — Innovationen, die dafür sorgen, dass Produkte billiger werden (und damit auch mehr Menschen zugänglich) sind da erstmal nicht vorgesehen und werden nicht honoriert.
Also die unheimliche Dynamik, die dem Kapitalismus innewohnt, ist tatsächlich ein Alleinstellungsmerkmal — im Guten wie im Schlechten. Das muss man anerkennen (und Marx und Engels waren ja auch die ersten, die das taten). Natürlich könnte man spekulieren, ob es auf anderen Wegen hätte zur Industrialisierung kommen können — aber dafür hätte es dann jedenfalls noch Elemente gebraucht, die allen vorkap. Produktionsweisen fehlten, soweit ich das überblicke. Zudem kommen mir derartige Spekulationen eher zwecklos vor, denn die Vergangenheit werden wir nicht mehr ändern können. Dass der Kapitalismus zur Industrialisierung führte, ist historischer Fakt (auch wenn manche Historiker_innen glauben, dass die Industrialisierung zum Kapitalismus führte).
Danke für die aufschlussreiche und sehr interessante Debatte euch allen!
Auch wenn ich die Faszination für’s Geschichtliche, die hier viele umzutreiben scheint, recht teile, ist mir doch nicht restlos klar, was der systematische Stellenwert davon ist im Zusammenhang des blogs. Zwar teile ich auch die Faszination für den Versuch, historische Übergänge zu denken und natürlich die Frage der Emanzipation. Doch was kann eins für die Frage der Überwindung von kapitalistischen Verhältnissen aus vergangenen geschichtlichen Vorgängen wirklich lernen? Und wenn: wie, auf welche Art, mit welcher Methode?
Vielleicht können wir hier noch viel mehr von Castoriadis lernen, der die so genannte materialistische Geschichtsauffassung radikal kritisiert hat; vielleicht der Zeit und ihren Auseinandersetzungen gemäß etwas überzogen, aber doch mit interessanten Argumenten. Castoriadis geht es vor allem um die Frage, wie das Neue, das Andere eigentlich denkbar wird, welche Voraussetzungen es hat, wenn es etwas wirklich Neues sein soll und nicht nur die ewige Wiederkehr des Gleichen in je anderer Statur und Kleidung, die schon von allem Anfang an in einem vermeintlichen Lauf der Dinge oder der Welt eingeschrieben war.
Sehr unterstützen möchte ich das Denken in Partikularitäten und Heterogenitäten bzw. besser gesagt vielleicht: von diesen her, das mir bei Annette durchzuklingen scheint. Das lässt sich wohl mit geschichtlicher Lektüre gewinnen, aber selbstverständlich auch mit anthropologischen Zugängen zu Verhältnissen der Gegenwart oder jüngeren Vergangenheit.
Das hat dann Auswirkungen nicht nur auf Commons – dieses Konzept ist wohl analytisch problematisch und vor allem für sich genommen wenig aussagekräftig, abgesehen von seiner wichtigen Funktion als politisches „Fahnenwort“, das sehe ich möglicherweise ähnlich wie Annette. Sondern auch auf ein Verständnis von Geld. Wir können hier – wie wohl auch in anderen Fragen – kaum anders, als von unserer eigenen gesellschaftlichen Anatomie (um ein Bild von Marx aufzugreifen) her eines ihrer Elemente zu denken, das in anderen Anatomien andere Bedeutungen (sowohl symbolisch als auch in Hinblick auf seine Relevanz) hatte, aber das wir letztlich wohl nur so denken können, wie es uns in unseren heutigen Anatomien erscheint. Also nicht so wie es den damals Lebenden erschien. Die Erforschung der Geschichte ist an dem Punkt wohl noch besonders problematisch und schwierig (aber auch in ihrer erhöhten Vieldeutigkeit und Unentscheidbarkeit interessant), weil deren Subjekte uns nicht mehr widersprechen können; während das beispielsweise Informanten einer anthropologischen Forscherin sehr wohl können, im Tun wie in ihrer Sprache. Das heißt andere mir gegenwärtige Menschen können mir ihre Fremdheit bzw. ihren Eigensinn manifest artikulieren. Auch wenn ich sie weiterhin nicht verstehe, kann ich mit Müh und vielleicht Not doch verstehen, dass sie ganz einfach anders sind und sie noch insoweit näherungsweise verstehen, als ich sehe, dass sie nicht ich sind. Aus ihrem manifesten Widerstand also etwas über ihre Eigenheit zu erschließen – wenngleich immer in meiner mir eigenen Wahrnehmung, die unhintergehbar bleibt.
Aber niemand hindert mich auf ähnlich deutliche Weise daran, in der Antike Märkte am Werk zu sehen und im Mittelalter Geld bzw. in den Bedeutungen, die uns heutigen geläufig sind und natürlich erscheinen.
Wir denken die Vergangenheit immer von uns her, anderes ist gar nicht möglich. Die Vergangenheit hat sich aber nicht notwendig auf uns zu entwickelt. Wir sind nicht ihr Telos.
Anders gesagt: möglicherweise ist es hilfreich, die sozialen Praktiken genauer zu analysieren, die Dinge zum Gegenstand haben, die wir geneigt sind Geld zu nennen. Ob zu Unrecht oder zu Recht, wäre dann besser zu untersuchen. Genau an dem Punkt wurde übrigens die Juchatan Studie sowie der Ansatz der Bielefelderinnen ja insgesamt immer wieder mal kritisiert, etwa von Nadja Rakowitz. Ich habe diese Studie leider selbst nicht gelesen, vielleicht ist die Kritik unberechtigt. Gelesen habe ich aber Polanyi, und hier findet sich doch einiges an Argumenten dafür, verschiedene gesellschaftliche Kontexte für die Bedeutung dessen, was wir heutigen als Geld bezeichnen würden und als Markt, stärker zu betonen. Das ist, wie ich glaube, übrigens auch ein Argument dafür, der Befassung mit Geschichte nicht einen so zentralen Stellenwert einzuräumen, wenn es um so genannte Emanzipationen geht.
Ich habe ja einmal den Versuch gemacht, Polanyi’s Formen des gesellschaftlichen Stoffwechsels als Analysemuster für soziale Verhältnisse unter Dominanz der kapitalistischen Produktionsweise heranzuziehen. Das Lohnverhältnis erweist sich dabei – wie ich denke – als eine Beziehung der Redistribution im Sinn von Polanyi, beispielsweise. Diese Beziehung interagiert freilich mit dem von Polanyi konzeptionell stark von der Redistribution abgesetzten Marktwirtschaft, ist also auch nicht auf eine Stufe mit Redistributionsbeziehungen in anderen gesellschaftlichen Ordnungen zu setzen. Etc.
@Christian: Soweit ich mich erinnere, argumentiert z.B. McNeill, dass es auch eine Industrialisierung unter Abwesenheit kapitalistischer Wirtschaft gab, in China. Aber vielleicht bist du schneller dort nochmal nachzulesen, ich komm da grad nicht so dazu. Kommt ja wohl auch wieder darauf an, was eins unter Industrialisierung versteht.
Ganz allgemein: Das Denken in historischen Fort- oder Rückschritten etc. scheint mir wenig hilfreich. Es gibt ja keinen überhistorischen Standpunkt, von dem aus solche Bewertungen unabhängig vom Bewerteten durchzuführen wären. Und so ist es ja eigentlich auch nicht verwunderlich, dass wir alle glauben – möchte ich behaupten – in einer „besseren Zeit“ zu leben als es das so genannte Mittelalter war. Und dass wir denjenigen, die angeben, das nicht zu glauben, vermutlich immer nachweisen könnten, dass sie ja doch nur die unter heutigen Verhältnissen entstandenen und zu verstehenenden Subjektivitäten etc. in eine imaginierte Vergangenheit projizieren – und welche Vergangenheit wäre nicht imaginiert (auf bestimmte Art).
Die Problematik der Periodisierung ist auch aus den Debatten z.B. um die französische Regulationstheorie recht deutlich geworden, Stichworte „Fordismus“, „Post-Fordismus“. Werden Kontingenzen ernst genommen und empirische Untersuchungen nur radikal genug geführt, so werden viele Ansätze von Periodisierungen vermutlich eher als Setzungen erkennbar. Setzungen mit Anhaltspunkten, aber wohl kaum je mit sehr starken Argumenten, die ganz frei von Geschmack und Willkür wären. Dennoch lässt sich ohne Typenbildungen vermutlich nicht recht denken. Aber es müssen ja nicht immer Periodisierungen sein.
Bei Bob Jessop findet sich ein interessanter Versuch, die – wie er das nennt – ökologische Dominanz der kapitalistischen Produktionsweise theoretisch zu fassen. Auch wenn ich letzlich seinem Versuch gegenüber skeptisch bleibe, so ist er anregend: er zielt darauf, Polanyi, Systemtheorie und Regulationstheorie zu verbinden. Jedenfalls ließen sich hier vielleicht auch Argumente für den Erfolg und die spezifische Art von Dominanz der kapitalistischen Produktionsweise finden.
Braudel übrigens ist meiner Meinung nach mit Marx gar nicht vereinbar. Das wäre auch ein Punkt, der bei entsprechenden Debatten zu bedenken ist. Er hat ja eine radikal dichotomische Sicht auf Markt und Kapital.
Hallo Andreas,
„Doch was kann eins für die Frage der Überwindung von kapitalistischen
Verhältnissen aus vergangenen geschichtlichen Vorgängen wirklich lernen?“
Vorstellungen über bisherige Lebens- und Wirtschaftsweisen sowie die Übergänge zwischen Gesellschaftsformationen schwirren ja sowieso in unseren Köpfen herum. Und sie sind immer auch Leitvorstellung oder auch Kontrast zu dem, was wir als gegenwärtige und zukünftige Geschichte antizipieren. Zu vereinfachte geschichtliche Vorstellungen (z.B. Commons hätten nie eine wichtige Rolle z.B. im Feudalismus gehabt vs. es hätte vor den kapitalistischen Enteignungen eigentlich vorwiegend Commons gegeben) können die Orientierung durchaus fehllenken.
„… Subjekte können nicht mehr widersprechen…“ – das kann ja nicht heißen, dass uns die Geschichte deshalb verschlossen ist. Es verweist nur auf die Notwendigkeit der Suche nach Spuren ihrer Sprache. Schibel etwa untersuchte die Forderungen der Bauern vor und in den Bauernkriegen (die gibt es schriftlich, siehe z.B. hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Memmingen#/media/File:Weinmarkt_15_Memmingen-3.jpg). Die haben sie gegen den Widerspruch ihrer Zeit aufgeschrieben und dem widersprochen, was ihnen entgegen kam. Das sollte man schon ernst nehmen als ihr eigenes Wort. Andererseits hat man bei geschichtlichen Vorgängen natürlich auch ein Ergebnis, das nicht mehr nur einer subjektiven Interpretation bedarf… (z.B. die militärische Niederwerfung der Bauern). Was das bedeutete, war wohl damals genau so umstritten wie heute. Meiner Erfahrung beim Lesen über diese Geschehnisse (vor allem schon der Bauernaufstände aus dem 8. und 9. Jhd. im jetzt deutschen Gebiet) nach verhalfen große Aufstände trotz der Niederschlagung oft dazu, dass in diesen Gebieten weniger unmittelbar drückende Zwangssysteme (wie Fronarbeit im breiten Rahmen) sich durchsetzten, sondern eher akzeptierte Natural- und Geldabgaben. Wenn Menschen in ihren Kämpfen dies letztere als Kampfziel formulierten (und das tat schon Wat Tyler in England im 14. Jhd.) und wenn das dann wenigstens teilweise erkämpft werden konnte, dann sehe ich darin schon einen „Fortschritt“. (auch wenn wir heute die Etablierung einer Geldwirtschaft nicht so positiv bewerten – aber man muss das jeweils konkret gegenüber den historischen und auch heute noch drohenden Alternativen bewerten und nicht abstrakt-pauschal, wie Du auch mit dem Stichwort „verschiedene gsellschaftliche Kontexte“ bemerkst).
Was Du sonst schreibst über „Kontingenzen erst nehmen“ und so haben ja die Geschichtsforscher das nicht übersehen sondern geradezu herausgearbeitet. Sogar in der DDR-Literatur dazu gibt es das und die entsprechenden methodologischen Debatten dazu. Da gabs ja schließlich mehr als das, was dann in den allgemeinen ML-Schulungen als vereinfachtes Ergebnis runtergebrochen wurde.
Die Alternative ist also nicht, sich NICHT mehr mit Geschichte zu beschäftigen, sondern BESSER.
Der „systematische Stellenwert“, den Du suchst, Andreas, den sehe ich in einer Überprüfung oder Präzisierung des „Keimform-Konzepts“, also etwas ganz Zentralem. Es hat ja keinen Sinn, eine „Keimform“ zu suchen oder entwickeln zu wollen, wenn es das geschichtlich gar nicht gibt. Wie schon öfter geschrieben: Die Hyphothese, dass es sinnvoll sei, damit zu arbeiten, wurde ja ziemlich direkt aus Studien von Holzkamp über die Evolution der Psyche entnommen, ein wenig motiviert auch durch den Umweg der Verallgemeinerung im Konzept einer historisierten Dialektik. Das reicht aber m.M. nach als Begründung nicht aus, sondern muss sich, wenn es als allgemeines Moment geschichtlicher Prozesse gedacht wird, auch in Forschungen dazu beweisen. Ich selbst richte meinen Fokus nicht auf die Suche nach historischen Keimformen, aber in diesem Kontext ist das schon „systematisch“ wichtig und beginnt einen bisher blinden Fleck der Debatte auszufüllen.