Das Geld, eine historische Anomalie?
[Dieser Text entstand im Rahmen des von der Volkswagenstiftung geförderten Forschungsprojekts Die Gesellschaft nach dem Geld.]
Die Vorstellung einer „Gesellschaft nach dem Geld“ impliziert, dass Geld ein historisches Phänomen von begrenzter Dauer ist. Alle von Menschen verwenden Werkzeuge (in einem weiten Sinne) sind irgendwann entstanden. Grundsätzlich macht es Sinn, sich darüber Gedanken zu machen, unter welchem Umständen sie künftig wieder verschwinden können und ob dann etwas anderes an ihre Stelle treten oder aber ihre Funktion komplett überflüssig werden würde. Spekulieren ließe sich etwa über eine „Gesellschaft nach dem Auto“, in der die heute unter anderem von Automobilen erfüllte Funktion (der Transport von Personen und Dingen) vollständig von anderen Arten von Fahrzeugen übernommen wird (z.B. Bahnen, Fahrrädern und Drohnen). Dabei muss man allerdings auch begründen, warum man es für plausibel hält, dass eine solche Entwicklung eintreten wird.
Noch sehr viel spekulativer wäre eine gedachte „Gesellschaft nach dem Fahrzeug“, in der alle Arten von Fahrzeugen (inklusive Luftfahrzeugen) verschwunden sind, weil Personen und Dinge stattdessen auf andere Weise von einem Ort zum anderen kommen – beispielsweise durch das aus Star Trek bekannte Beamen. Spekulativ ist das vor allem deshalb, weil heute völlig unklar ist, ob solche Technologien überhaupt entwickelt werden können – und wenn ja, ob sie hinreichend sicher, praktisch und unaufwändig wären, um Fahrzeuge aller Art obsolet zu machen. Gänzlich unplausibel wäre eine „Gesellschaft nach der Mobilität“, in der kein Mensch mehr das Bedürfnis nach Ortsveränderung verspürt und in der auch keine Dinge mehr transportiert werden müssen.
Denkt man über eine „Gesellschaft nach X“ nach, muss man also zum einen klarmachen, was man mit X genau meint, und zu anderen, warum und unter welchem Umständen man erwartet, dass X eines Tages verschwinden wird. Zur konkreten Frage, was mit Geld gemeint sein könnte, hilft dabei zunächst der Blick in eine Standardquelle wie das Gabler Wirtschaftslexikon (2017): „Geld ist das allgemein anerkannte Tausch- und Zahlungsmittel, auf das sich eine Gesellschaft verständigt hat.“
Diese Definition ist meinem Verständnis nach gut genug, um damit weiter zu arbeiten. Ihr zufolge ist jedes „allgemein anerkannte Tausch- und Zahlungsmittel“ Geld. Eine Gesellschaft nach dem Geld wäre also keine, in der das heutige Geld (wie Dollar, Euro) durch ein anderes allgemein anerkanntes Tausch- und Zahlungsmittel ersetzt wird. Stattdessen würde sie gar keine Tausch- und Zahlungsmittel mehr brauchen (oder jedenfalls keine allgemein anerkannten).
Der zitierte Lexikonartikel erkennt zwar das Geld als ein Phänomen von begrenzter historische Dauer an, scheint den Tausch jedoch mehr oder weniger universell zu setzen:
Der Übergang von der Naturaltausch- zur Geldwirtschaft begann mit der zunächst lokalen Gewohnheit, durch die Einigung auf ein Zwischentauschgut den zuvor simultanen Austausch zweier Leistungen in getrennte Vorgänge des Kaufs und Verkaufs zu zerlegen.
Gemäß dieser ahistorischen Vorstellung haben die Menschen immer schon das ausgetauscht, was sie zuvor offensichtlich unabhängig voneinander produziert hatten; das Geld entstand dann als clevere „Gewohnheit“, diese Tauschakte durch Verwendung eines allgemein akzeptierten „Zwischentauschguts“ zu erleichtern. Wie unpraktisch, stellen detailliertere Versionen dieses Mythos fest, wenn ich Schuhe brauche und Kartoffeln habe, aber der Schuhmacherin nur Nudeln schmecken! Sobald bestimmte „aufbewahrfähige Güter“ wie „z.B. Felle, Öle, Schmuck“ (Gabler Wirtschaftslexikon 2017) zum allgemein anerkannten Zwischentauschgut, d.h. Geld, geadelt wurden, kann ich das Problem lösen, indem ich zunächst meine Kartoffeln gegen dieses Geldgut eintausche und das dann wiederum gegen die Schuhe. Die Schuhmacherin akzeptiert das Geldgut, weil sie es ihrerseits gegen die geliebten Nudeln eintauschen kann.
Ähnlich falsch wie diese ahistorische Idee einer prämonetären Naturaltauschwirtschaft (die durch den „Umstieg“ auf Geld erst so richtig praktisch wurde), wäre allerdings die umgekehrte Vorstellung, wonach die Menschen in vorkapitalistischen Gesellschaften generell glücklich und geldfrei gewirtschaftet hätten – und sich Geld und Märkte überhaupt erst mit dem weltweiten Siegeszug des Kapitalismus verbreitet hätten. Diese umgekehrte Vorstellung wird zwar selten explizit geäußert, scheint jedoch so mancher radikalen Kapitalismuskritik zugrunde zu liegen. Um die historische Rolle von Geld und Märkten besser zu verstellen, ist ein genauerer Blick auf nichtkapitalistische Produktionsweisen unabdingbar.
Geld, Tausch und Märkte in subsistenzorientierten und Bauernökonomien
Der Wirtschaftsethnologe George Dalton – ein Polanyi-Schüler, der kaum einer unkritischen Verallgemeinerung kapitalistischer Verhältnisse verdächtigt werden kann, stellt fest: “[E]very society … has an economy of some sort because personal and community life require the structured provision of material goods and services” (Dalton 1971: 25). Dieser Prozess wird niemals dem Zufall überlassen, weil schnell Not und Tod drohen würden, wenn er zu schlecht oder gar nicht funktioniert (31).
In diesem Sinne macht es also auch in Bezug auf vor- oder nichtkapitalistische Gesellschaften Sinn, von „Ökonomie“ oder „Wirtschaft“ zu sprechen. Gemeint ist damit dieser strukturierte Versorgungsprozess , den es in jeder Gesellschaft gibt, der aber nur im Kapitalismus die besondere Form einer Vielzahl privater, auf Profitmaximierung abzielender und gegeneinander konkurrierender Unternehmen annimmt.
Weiter stellt Dalton (1971: 31f.) fest, dass es zwar nicht in allen, aber doch in den allermeisten Ökonomien Außenhandel, Märkte, gewisse Formen von Geld und irgendeine Art von Buchführung (accounting devices) gibt – soviel zur Idee einer bloßen „Anomalie“. Doch zugleich betont er, dass sich diese Institutionen oft bloß oberflächlich ähneln – aus ihrer bloßen Existenz dürfe man keineswegs folgern, dass solche oft ganz unterschiedlichen Ökonomien „im Grunde“ auf die gleiche Art und Weise funktionieren wie die heutige. Dies ist eine Absage sowohl an unzulässig verallgemeinernde Neoklassikerinnen als auch an Markt- und Kapitalismuskritiker, die Märkte, Geld und Buchführung für untrügliche Merkmale der spezifisch kapitalistischen Produktionsweise halten.
Zwar gibt es klare Unterschiede zwischen verschiedenen Produktionsweisen, doch sind diese subtiler, als man denken könnte. Ein Unterschied ist etwa, dass Außenhandel in subsistenzorientierten Ökonomien für den Import von lokal nicht verfügbaren Gütern verwendet wird, während er in der kapitalistischen Weltwirtschaft nach dem Kostenminimierungsprinzip (least-cost principle) erfolgt. Im Kapitalismus werden Dinge importiert, wenn das ihren Preis senkt, unabhängig davon, ob sie auch lokal hergestellt werden könnten oder nicht. In nichtkapitalistischen Ökonomien wird hingegen die lokale Produktion bevorzugt (Dalton 1971: 58).
Ein anderer wesentlicher Unterschied ist, dass in subsistenzorientierten Ökonomien (Dalton nennt sie „primitiv“ statt „subsistenzorientiert“ – ein Begriff, der nicht wertend gemeint ist, aber natürlich dennoch problematisch klingt) traditionell nur Produkte (produced material items) auf Märkten angeboten werden. Märkte für Arbeitskraft und Land fehlen hingegen oder spielen nur eine unbedeutende Rolle. Die meisten Menschen sind nicht auf erfolgreiche Markttransaktionen angewiesen, um ihren täglichen Lebensunterhalt zu sichern – dafür sorgt stattdessen Subsistenzproduktion im Rahmen kleiner Gruppen (ebd.).
Im Kapitalismus stehen Individuen, Haushalte und Firmen vor zahllosen Wahlmöglichkeiten – welche der unzähligen Waren sie kaufen, auf welchen Beruf sie sich spezialisieren, welche Warenarten sie herstellen und welche Technologien sie dafür einsetzen. Viele dieser Wahlmöglichkeiten nehmen die Form monetärer Berechnungen an oder diese spielen dabei zumindest eine gewisse Rolle. Das gilt vor allem bei der Produktion für den Verkauf, wo das Treffen der richtigen Entscheidungen den Unterschied zwischen Erfolg und Scheitern ausmacht (Dalton 1971: 78).
In Subsistenzökonomien sind die Wahlmöglichkeiten hingegen viel geringer – weil man in erster Linie für den Eigenbedarf produziert und weil die bestehenden ökologischen und technologischen Rahmenbedingungen mit nur wenig entwickelter Technik oft kaum Alternativen lassen. Aber auch denkbare Alternativen werden meist nicht beschritten, weil es genaue Konventionen des Üblichen gibt, von denen die Einzelnen nicht abweichen, weil das in ihrem Umfeld für Irritationen sorgen würde und weil es unter Umständen die Erfüllung von sozialen Erwartungen (etwa zur Mitversorgung von Verwandten) unmöglich machen würde. Im Kapitalismus ist das Treffen von unzähligen Wahlentscheidungen hingegen üblich und wird von den beteiligten Akteuren erwartet (ebd.).
Zudem sind traditionelle Ökonomien meistens sehr kleinteilig – nur einige hundert oder tausend Menschen hängen in ihren ökonomischen Interaktionen eng zusammen. Daneben gibt es zwar oft Außenhandel oder rituelle Austauschbeziehungen zu externen Gruppen, doch spielt dieser nur eine Nebenrolle – das Überleben der Menschen hängt nicht unmittelbar davon ab. „Klein“ sind diese Ökonomien auch in einem weiteren Sinne, nämlich in Bezug auf die sehr begrenzte Anzahl der produzierten Güter. Oft spielen eine oder zwei essenzielle Güterarten (z.B. Süßkartoffeln oder Rinder) eine zentrale Rolle im Leben der Menschen; diese werden in Subsistenzproduktion innerhalb eines Dorfs oder einer Großfamilie (lineage) hergestellt. Dazu kommen einige Dutzend anderer Arten von Gütern oder Dienstleistungen, die nur gelegentlich gebraucht und gegebenenfalls von Spezialistinnen erworben werden – aber nicht hunderttausende, wie im Kapitalismus (Dalton 1971: 90).
In subsistenzorientierten Ökonomien werden die benötigten Werkzeuge entweder von den Benutzern selbst hergestellt oder aber gegen Bezahlung von spezialisierten Handwerkern erworben. Häuser und komplexe Transportmittel wie Kanus werden oft von für den Anlass zusammengerufenen Arbeitsgruppen gebaut, die mit Essen entschädigt werden und manchmal auch kleine Luxusgüter wie Tabak erhalten (Dalton 1971: 91f.).
Eine andere Produktionsweise bezeichnet Dalton (1971: 95) als „traditionelle Bauernökonomien“; dazu gehören etwa die europäische Landwirtschaft im Mittelalter und das russische Mir (Dorfgemeinschaft). Hier existieren Subsistenzproduktion für den Eigenbedarf und Produktion für den Markt nebeneinander. Viele Menschen erzielen durch Verkauf auf dem Markt einen wesentlichen Teil ihres Lebensunterhalts. Auch Land, Arbeitskraft, Werkzeuge und andere Produktionsmittel können gegen Bezahlung gekauft bzw. gemietet werden, doch sind diese Spezialmärkte meistens begrenzt. Die meisten Familien bearbeiten ihr eigenes Land und machen viele ihrer Werkzeuge selbst; Lohnarbeit existiert, aber die meisten Menschen sind keine Lohnarbeiterinnen. Auch hier ist die Technik relativ einfach (nur deshalb kann so viel selbst gemacht werden) und einige wenige Arten von Gütern machen den Großteil der hergestellten Produkte aus. Da kaum jemand zur Sicherung des Lebensunterhalts ausschließlich auf den Markt angewiesen ist, fehlt die erbitterte Konkurrenz um Marktanteile und damit die Notwendigkeit, möglichst effizient zu produzieren und möglichst viel zu verkaufen.
Sowohl in traditionellen Bauern- wie in subsistenzorientierten Ökonomien werden also Produkte gehandelt, aber Produktionsfaktoren wie Land und Arbeitskraft nicht oder nur sporadisch. Märkte sind vorhanden, werden aber nicht so universell genutzt wie im Kapitalismus. Land wird stattdessen oft nach Statusprinzipien verteilt, so traditionell in vielen afrikanischen Bantu-Gesellschaften, wo jeder Haushalt Anspruch auf eine bestimmte Fläche Land hat. Dieses Land kann verliehen, aber nicht verkauft werden; gibt der Haushalt es auf, fällt es an die Gemeinschaft zurück. Das Recht auf die Arbeit anderer erhält man in der Regel nicht durch die Beschäftigung von Lohnarbeitern, sondern durch Verwandtschaftsbeziehungen (Familienmitglieder arbeiten mit) und Gegenseitigkeit (bei großen Vorhaben arbeiten alle Familien zusammen; Dalton 1971: 127f.).
Traditionell wurden in Afrika nur einige Arten von Gütern auf Marktplätzen ge- und verkauft und die meisten Verkäufer sicherten sich den Großteil ihres Lebensunterhalts auf andere Weise. Marktpreise schwankten zwar je nach Angebot und Nachfrage, aber da kaum jemand in erster Linie für den Markt produzierte und da Land und Arbeitskraft nicht frei gehandelt wurden, hatte dies wenig Einfluss auf die insgesamt produzierten Güter. Märkte spielten nur eine Nebenrolle, der Großteil der Produktion wurde mittels Gegenseitigkeit und Umverteilung organisiert (Dalton 1971: 134).
Diese Abgrenzung unterschiedlicher Produktionsprinzipien geht auf den Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi (1978) zurück, der zwischen Marktaustausch (market exchange), Umverteilung (redistribution) und Gegenseitigkeit (reciprocity) unterscheidet. Umverteilung bedeutet, dass eine zentrale politische Autorität bestimmte Abgaben einfordert und die so gewonnen Mittel gemäß politischer Entscheidungen ausschüttet. Meistens spielen alle diese Prinzipien (oder mindestens zwei von dreien) in der gesellschaftlichen Organisation eine Rolle, verschiedene Gesellschaften unterscheiden sich jedoch darin, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen und welche von ihnen dominiert. Heute ist der Marktaustausch dominant, doch steuerfinanzierte staatliche Dienstleistungen (Schulen, Feuerwehr, Militär, Sozialhilfe) basieren auf dem Prinzip Umverteilung. Private Haushalte funktionieren nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit; diese spielt auch sonst unter Freundinnen und Bekannten eine gewisse Rolle (gegenseitige Hilfe etwa bei Umzügen, gegenseitige Geschenke zu Geburtstagen und anderen besonderen Anlässen).
Feudale Gesellschaften, das antike Ägypten, das Aztekenreich in Mexiko und manche anderen früheren Gesellschaft basierten in erster Linie auf dem Prinzip der Umverteilung. In solchen Gesellschaften erbringt die Bevölkerung Tribute an das Zentrum (etwa den König), etwa Lebensmittel, Arbeitskraft für Großprojekte und Militärdienst; im Gegenzug sorgt das Zentrum zumindest für militärischen Schutz und Notfallversorgung bei Hungersnöten und anderen Krisen (Dalton 1971: 93).
Daneben spielt Gegenseitigkeit da, wo in Familien oder anderen kleinen Gruppen für den gemeinsamen Eigenbedarf produziert wird, eine sehr viel größere Rolle, und in subsistenzorientierten Produktionsweisen ist sie vorherrschend. Gegenseitigkeit darf dabei nicht mit „Freiwilligkeit“ verwechselt werden, sondern basiert auf klaren gesellschaftlichen Regeln (Dalton 1971: 27, 53). Auch heute ist es kaum vorstellbar, dass man nach Erhalt eines Geburtstagsgeschenks mit leeren Händen zur nächsten Geburtstagsfeier des Schenkers kommt, oder dass man Personen, die einer beim Umzug geholfen haben, bei deren nächstem Umzug (ohne guten Grund) die Hilfe verweigert.
Da es in vielen Gesellschaften Märkte für bestimmte Produkte gab, ohne dass aber der Marktaustausch das gesellschaftlich dominierende Prinzip war, unterscheidet Dalton (1971: 144) zwischen Marktplätzen (market places) einerseits und Marktprinzip oder Marktmechanismus (market mechanism) andererseits. Marktplätze sind konkrete Orte, an denen ge- und verkauft wird, während der Marktmechanismus dafür sorgt, dass fast alles – inklusive Arbeitskraft und Rohstoffen – zu Marktpreisen gehandelt wird, und zwar unabhängig von bestimmten Orten. Während ein Wochenmarkt ein konkreter Ort ist, ist der „Arbeitsmarkt“ eine gesellschaftliche Institution.
Es gibt traditionelle afrikanische Gesellschaften ohne Marktplätze, in denen das Marktprinzip höchstens eine Nebenrolle spielt, etwa die Sonjo und Arusha in Tansania. Andere kennen ebenfalls kein Marktprinzip, wohl aber Marktplätze, so die westafrikanischen Fulbe. In solchen Gesellschaften gibt es keine Märkte für Land und Arbeitskraft, und wenn die Märkte (ob als -plätze oder als -prinzip) komplett verschwinden würden, wäre das für die Menschen lästig, würde sie aber nicht in existenzielle Nöte stürzen. In anderen Gesellschaften gibt es Marktplätze und das Marktprinzip ist dominant. Hier sichern die meisten Menschen ihren Lebensunterhalt durch Markttransaktionen, entweder indem sie ihre Arbeitskraft verkaufen oder indem sie als Bauern „Cash Crops“ anbauen und verkaufen. Solche gesellschaftlichen Strukturen scheinen aber eher jung zu sein und entstanden wohl erst mit der Verbreitung des Kapitalismus (Dalton 1971: 145f.).
Im feudalistischen Europa gab es Märkte (insbesondere in den Städten) für einige Produktarten (insbesondere Lebensmittel), jedoch kein Marktprinzip – Land und Arbeitskraft wurden selten verkauft. Das Land wurde stattdessen per Umverteilung in Abhängigkeitsbeziehungen zugänglich gemacht – Feudalherren vergaben Land zur Bearbeitung und verlangten im Gegenzug Abgaben in Form von Naturalien oder Arbeitsdiensten (Dalton 1971: 223). Das Recht eines Lehensnehmers auf die Bearbeitung des Landes bestand in aller Regel lebenslang – sofern die geforderten Abgaben erbracht wurden – und konnte auch vererbt, aber nicht verkauft werden. Der Zugang zu Arbeitskraft erfolgte nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit – die ganze Familie arbeitete mit und zu besonderen Anlässen wie der Ernte halfen sich alle Familien gegenseitig aus. Gelegentlich wurden auch Tagelöhner bezahlt, doch das war eher die Ausnahme. Anders als Städterinnen kamen Landbewohner zumindest in der Zeit vom neunten bis zum dreizehnten Jahrhundert kaum mit Geld in Berührung (226f.).
Jedoch können Marktplätze auch in Gesellschaften, in denen das Marktprinzip nur eine Nebenrolle spielt, für die Käuferinnen von großer Bedeutung sein, weil sie manche Güter (die von Spezialisten hergestellt oder importiert werden) nur auf dem Markt erwerben können (Dalton 1971: 150). Die Schlussfolgerung, dass ohne Marktprinzip auch Marktplätze und bezahlte Transaktionen bloß entbehrliches Beiwerk waren, wäre also falsch.
Der Außenhandel (external trade) war eine andere Form des Tausches, die es in praktisch jeder Gesellschaft gab, unabhängig davon, ob Märkte und Geld ansonsten eine gesellschaftliche Rolle spielen. So wurde der Außenhandel im vorkapitalistischen Afrika oft von den „Staaten“ bzw. politischen Machthaberinnen durchgeführt; es gab dann keinen Markt im strengen Sinne, da es an unabhängigen Käufern und Verkäufern mangelte. Oft wurden hierbei Güter gegen andere Güter eingetauscht, da es kein allgemeines Geld gab, das beide Seiten anerkannt hätten (Dalton 1971: 154).
In dieser Hinsicht entsprach der Außenhandel tatsächlich der vom wirtschaftswissenschaftlichen Narrativ herbeiphantasierten „Naturaltauschwirtschaft“, doch handelte es sich dabei nur um ein kleines Segment in Produktionsweisen, die ansonsten nach anderen Regeln funktionierten. Gleichzeitig wäre es wiederum falsch, diesen tauschvermittelten Außenhandel als unwichtiges Beiwerk aufzufassen und bei der Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse außen vor zu lassen. Tatsächlich war er oft essenziell, da so Rohstoffe und Produkte importiert wurden, auf die die jeweilige Gesellschaft angewiesen war, die aber auf ihrem Gebiet nicht vorkamen bzw. von ihr nicht hergestellt werden konnten.
Nichtkapitalistische Geldwirtschaften
Während Dalton sich vor allem mit stark subsistenzorientierten Gesellschaften mit einem geringen Ausdifferenzierungsgrad der Arbeitsteilung beschäftigt, gibt es Gesellschaften, die schon vor Jahrtausenden ein hohes Maß an Arbeitsteilung erreichten und in denen vielen Menschen in Städten lebten. (Städte sind Orte, in denen keine subsistenzorientierte Nahrungsmittelproduktion möglich ist, so dass dieser fürs Überleben entscheidende Bereich auf andere Weise organisiert sein muss.) Beispiele dafür sind China und das Römische Reich.
Einen guten Einblick in die chinesische Gesellschaft vor Entstehung des Kapitalismus bietet der klassische chinesische Abenteuerroman Die Räuber vom Liang-Schan-Moor (englische Übersetzung: Shi und Luo 1988). Dieser im 14. Jahrhundert geschriebene Roman spielt im 12. Jahrhundert. Es beschreibt eine Gesellschaft, in der es Märkte, Tavernen und Gasthäuser gibt, Vermieter von Wohnungen, Straßenverkäufer und Prostituierte.
Wer nicht in Erscheinung tritt, sind kapitalistische Unternehmer oder -innen, die gezielt Geld in mehr Geld verwandeln wollen. Die „wichtigen“ Personen, die den Großteil des Handlung des Romans bestreiten, sind hingegen (durchweg männliche) Beamte, die vom Staat bezahlt und zusätzlich durch Bestechung reicher werden, oder aber Räuber, die ihre eigene klar hierarchische Kommandostruktur haben – eine Art inoffizieller Staat gegen den Staat. Letztere bereichern sich, indem sie andere ausrauben. Reichtum und dessen Vermehrung sind wichtig, doch niemand, der etwas auf sich hält, würde zur Mehrung seines Reichtums ein Unternehmen gründen oder in eines investieren. Die am höchstens geschätzten Personen sind reich, halten ihr Geld aber nicht zusammen, sondern geben es mit offenen Händen aus, um allen zu helfen, die Hilfe brauchen (vgl. z.B. Shi und Luo 1988, Bd. 1: 280).
Geld und Märkte machen noch keinen Kapitalismus
Dieser kurze historische Rückblick zeigt, dass Geld, Märkte und Kapitalismus keineswegs so eng zusammenhängen, wie aus radikal kapitalismuskritischer Perspektive manchmal unterstellt wird. Andreas Exner (2010) verweist zurecht auf die Unterscheidung zwischen „Wirtschaften mit Märkten“ (im Sinne von Marktplätzen) einerseits, die es schon sehr lange und in sehr vielen Formen gab, und der „Marktwirtschaft“ andererseits. Nur in letzterer wird fast alles, insbesondere auch die Arbeitskraft der meisten Menschen und ein Großteil des nutzbaren Landes, ge- und verkauft, d.h. nur in letzterer dominiert das Marktprinzip. Bislang gab es nur eine Form von Marktwirtschaft in diesen umfassenden Sinne, nämlich die kapitalistische. Insofern ist Exner zuzustimmen, wenn er schreibt: „Marktwirtschaft und Kapitalismus gehören zusammen.“
Eine Gesellschaft ohne Geld wäre aber logischer Weise auch eine ohne Marktplätze – beide, Geld und Märkte (in beiden Wortsinnen) dürften überhaupt keine Rolle mehr spielen. Hier macht der historische Rückblick skeptisch, denn eine gewisse Rolle haben Geld, Marktplätze und andere Formen des Tauschens (wie ein regulierter Außenhandel) bisher in den meisten Gesellschaften eben doch gespielt. Gleichzeitig zeigt der Rückblick, dass es zwischen kapitalistischer Marktwirtschaft einerseits und Gesellschaften ganz ohne Geld und Märkte andererseits noch zahlreiche andere Möglichkeiten gibt. Eine Aussage wie „wer den Kapitalismus (und seine Grausamkeiten) überwinden will, muss auch auf Geld und Märkte verzichten“, steht im Widerspruch zur realen Vielfalt möglicher Produktionsweisen, die historisch auftraten oder denkbar sind – sie macht ein falsches Dilemma auf.
(Fortsetzung: Verteilung ohne Geld?)
Literatur
Dalton, George (1971). Economic Anthropology and Development. Essays on Tribal and Peasant Economies. New York: Basic Books.
Exner, Andreas (2010): „Das Zinssystem ist Schuld“ – ein Mythos der Krise. In Beirat für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen (BEIGEWUM) und Attac Österreich (Hg.): Mythen der Krise. Einsprüche gegen falsche Lehren aus dem großen Crash. Hamburg: VSA. URL: http://www.social-innovation.org/?p=3060, Zugriff: 18.05.2017.
Gabler Wirtschaftslexikon (2017). Stichwort: Geld. URL: http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Definition/geld.html, Zugriff 27.04.2017.
Polanyi, Karl (1978): The Great Transformation: Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Frankfurt: Suhrkamp.
Shi Nai’an and Luo Guanzhong (1988). Outlaws of the Marsh. 4 Bände. Beijing: Foreign Languages Press.
Die aus meiner Sicht entscheidende Frage ist: Welche Produktionsaufgabe(n) ein „gesellschaftliches“ Produktionsverhältnis zu lösen hat – bei gegebnem Ausgangs-Kulturniveau („Stand der Produktivkräfte“).
Nehmen wir zB eine High-tech-Subsistenzwirtschaft – das soll die ironisch verfremdete Bezeichnung für einen „modernen“ Zustand sein, den man „stabil“ einrichtet und in dem Ressourcen wesentlich in Kreisläufen genutzt werden, in dem also die Ressourcen-Nutzung nicht mehr ständig „wächst“.
Das derzeitige Ausmass an Zerstörtheit der weltweiten Biosphäre ebenso wie der Weltgesellschaft erfordert aber, dass solch ein sorgfältig gehandhabtes Ressourcen-Inventar ununterbrochen an die je prioritär nächst zu verfolgenden Reparatur-Aufgaben angepasst wird – die muss man, nebenbei, auch noch korrekt bestimmen. „Man“? Wer soll das tun? Die kollektivistische (die, wie ich glaube, der Aufgabe einzig angemessene) Antwort darauf lautet: Alle, die an diesem Reparaturprozess mitwirken, die „Produzenten“. Sie müssen alles Wesentliche des Prozesses, in dem sie vielleicht eine Teilaufgabe übernehmen, kennen (der (Lern)Fortschritt jedes Einzelnen ist Voraussetzung des (Lern)Fortschritts aller.)
Der (Lern)Prozess baut sich nicht über ihnen von selber auf, es ist IHRER (gebunden an jeden einzelnen), und sie müssen ihn IHREN Zwecken entsprechend gestalten.
Viele Natur-Ressourcen sind lokal, regional gebunden, und gerade der schonende Umgang mit ihnen berücksichtigt das. Aber für viel andres, Ressourcen, vor allem aber Problemlagen, die uns die kapitalistische Modernisierung hinterlässt, gilt das nicht, sie sind weiträumig oder gar global ausgedehnt. Da kann man sich nicht in sein kleines Selbstversorger-Paradies zurückziehen (wenn man nicht überhaupt immer wieder angesichts der nächsten Katatstrophe daraus fliehen muss, die es – vorübergehend, dauerhaft – unbewohnbar gemacht hat).
Die Weltgesellschaft, die sich und die planetare Biosphäre wiederherstellen soll, muss in all ihren Teilen, an allen Stellen, wo Wissen sich bildet, mit den gleichen Relevanzkriterein arbeiten, und alles wesentlich zu Wissende an alle, für die es wesentlich ist, gelangen lassen.
In einem Wort: Sie muss kollektiv lernfähig sein (bzw es werden). Das ist das neue epochale Produktionsverhältnis.
Was soll, was kann da Geld? Was „Märkte“ (in jedem Sinn)?
Eine weiterführende Anregung:
Über Vorstellungen einer Gesellschaft nach dem Geld hat der Wirtschaftsprofessor Franz Hörmann schon viel publiziert, einfach mal bei youtube nachsehen.
franz
@franz:
An Hörmann ist (vorsichtig ausgedrückt) nicht viel dran, siehe z.B. http://keimform.de/2011/vom-ende-des-geldes/ .
@franziska:
Mir scheint, dir schwebt da eine (im besseren Falle demokratische) globale Zentralplanungswirtschaft vor, die anhand eines einheitlichen Kriterienkatalogs entscheidet, „was zu tun ist“ und dann irgendwie (aber wie?) auch „wer es tun soll“. Aber tatsächlich ist die Welt immer pluralistisch gewesen, es gab nie die EINE Zielsetzung, der sich alle hätten unterordnen müssen, und das ist ja auch gut so.
Um die Frage, ob und wofür es in Zukunft doch Geld braucht, ginge es mir hier im Übrigen ja gar nicht. Sondern um die Korrektur der falschen Vorstellung, dass (um es mal etwas überspitzt zu formulieren) überall dort, wo Geld verwendet wird, zwangsläufig gleich der Kapitalismus ausbricht.
@Christian:
Ich zitiere mich mal:
„die „Produzenten“…müssen alles Wesentliche des Prozesses, in dem
sie vielleicht eine Teilaufgabe übernehmen, kennen (der
(Lern)Fortschritt jedes Einzelnen ist Voraussetzung des
(Lern)Fortschritts aller.)“
Individuen-bezogener kann man das, meine ich, kaum ausdrücken. Das Rätsel, das uns durch die objektiven Anforderungen (wenn ich recht behalte) zu lösen aufgegeben ist, lautet allerdings: Wie kann Koordination und Kooperation so weiträumig wie (dann) nötig (wenn auch so dezentral wie möglich) eingerichtet werden, und das bei fortschreitendem Wissenserwerb?
Mein Lösungsansatz dazu lautet:
Dadurch, dass die Produzenten sich als planetare Forscher-Gemeinschaft zu ihrem Wissenserwerb verhalten. Und: Ihr Forschungsinteresse ist (dann) nicht mehr vorrangig auf technische Entwicklungen fokussiert; sondern auf das Verstehen biologischer bzw. „Lebens“-Zusammenhänge.
Die Lösung der Produktionsaufgabe erfordert das (nämlich ein solches) Produktionsverhältnis, das diese Leute zu ihrer Lösung benötigen.
Wenn man sich den Utopie-Fragestellungen von seiten der („objektiv“, oh, aber wer sagt das?*)) zu lösenden Produktionsaufgabe nähert, engt sich das Inventar möglicher Alternativen schnell ein.
Trost Nr.1: Ich muss ja nicht rechthaben.
Trost Nr.2: WENN ich rechthabe, beginnt der ganze Forschungsprozess mit der Frage, wie man selber gut LEBT. Dagegen… wird wohl kaum jemand was haben. Der Rest (so behaupte ich, und verweise auf Nr.1) ergibt sich dann von selbst.
*) eine zu lösende Produktionsaufgabe von dem Kaliber, dass sie DAS Produktionsverhältnis bestimmt, wird nicht von irgendwem entschieden oder festgelegt. Sie drängt sich, auf Dauer, wenn sie ungelöst bleibt, immer dringender, selber auf. (noch ein Fall von Nr.1)
Zum Geld und weiteren solchen „Medien“, die irgendwie zwischen individuellen und kollektiv-arbeitsteiligen Projekten und Plänen (also den Plänen „aller andern“) vermitteln sollen, hat das einen Bezug, der in der rhetorischen Frage am Schluss meines Beitrags anklang: Das Problem der Vermittlung des je relevanten Wissens an alle, von dem eine planetar-ökologische Produktionsweise abhängt, ist mit so primitiven Mitteln der Wissensverarbeitung, Koordination und Kooperation nicht zu lösen.
Mir ist klar, dass dieses Szenario recht weit entfernt ist von dem, was sonst an materieller Basis den Überlegungen bei keimform zugrundegelegt wird. Insofern ist das hier eher eine Aussenseiter-Position.
„Zur konkreten Frage, was mit Geld gemeint sein könnte, hilft dabei zunächst der Blick in eine Standardquelle wie das Gabler Wirtschaftslexikon (2017): „Geld ist das allgemein anerkannte Tausch- und Zahlungsmittel, auf das sich eine Gesellschaft verständigt hat.“
Das könnte auf Kindergartenniveau (oder natürlich aus ideologischen Gründen (bewusst kindisch) in der politischen Ökonmie mit Geld gemeint sein (Gabler ist ein sehr ausgewählte Referenz, oder?)
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Geld als Tauschmittel ist blanker Unsinn, auch wenn Geld tatsächlich wie andere Waren in einem bestimmten Wertverhältnis getauscht wird. Geld ist eine abstrakte Ware, jede Ware ist Tauschmittel. Als konkrete Ware dient(e) Geld dem Messen des Preis-Wertes von Waren.
Historisch ist absolut unverständlich, wieso zwei Warentauschende in einer Gesellschaft, in der sich Geld noch nicht durchgesetzt hat, den umständlichen Weg wählen sollten, ihre Ware zuerst gegen irgendein Geld einzutauschen. Wir haben bislang einfach keine plausible Geschichte zum Geld, aber sicher wird in einer solchen Geschichte der Marktplatz auf dem Dorf, wo Kartoffeln und Schuhe getauscht werden, keine Rolle spielen. Vielmehr geht es um Sold (Lohn) und um Kredite (Fuggerei).
Aber man muss ja vielleicht nicht so recht wissen, was man als Geld bezeichnet, wenn man es sowieso abschaffen will.
@franziska:
Wär ja schön, wenn es so einfach wäre!
Nun geht es aber ja keineswegs nur um Wissensvermittlung, sondern auch und vor allem darum, wie Ressourcen sowie notwendige oder erwünschte Tätigkeiten und deren (häufig materiellen) Ergebnisse geteilt werden. Sofern du Wissensvermittlung als nicht nur ein, sondern das zentrale Problem ansiehst, werden wir uns schon bei der Problemanalyse nicht einig werden.
@Rolf:
Es war einfach die erste Mainstream-Quelle, die mir untergekommen ist. Ich kenne keine anderen Ökonomie-Lexika, die online frei zugänglich sind, habe allerdings auch nicht weiter danach gesucht.
Vielleicht hättest du einfach mal weiterlesen können? Dass der in dem Lexikon propagierte Mythos einer geldfreien Naturaltauschwirtschaft eben nur ein (wenn auch weitverbreiteter) Mythos ist, stelle ich ja auch fest.
@Christian, ich habe den ganzen Text gelesen, weil mich Geld-Begriffe sehr interessieren. Ich habe im Text keinen Geldbegriff gefunden (ausser jenem von Gabler). Ich habe gut verstanden, dass Du den Mythos einer geldfreien Naturaltauschwirtschaft bekämpfst. Dieser Mythos (ich weiss allerdings nicht, wer ihm nach nur ein paar Gedanken nocht unterliegt) ist an die Vorstellung Geld als Tauschmittel gebunden.
Ich kann in Deinem Text nicht sehen, dass Du diese Vorstellung zurückweist, ich sehe nur, dass Du in der Folge von G. Dalton sagts, dass es keine Naturalienmarkt gegeben habe. Das weiss aber auch jeder, wenn er sonst nichts weiss.
Mich interessieren Geldbegriffe. Wenn Du einen solchen hast, verstehe ich nicht, wieso Du auf Gabler verweist. Und der Link auf die Kritik an Hörmann zeigt ja auch nicht mehr als Hörmann selbst.
Mir scheint, Geld ist der Mythos … das begriffslose Geld
@Christian, ich zitiere dich:
„Wäre ja schön, wenns so wäre“: Nein, das ist nicht nur schön, weil es gewaltige, ja, wie ich sagen würde, geradezu epochale Probleme aufwirft, wie wir unsere Reproduktion dann (nämlich „bedürfnis-gerecht“) gestalten – nicht nur die Produkte; sondern das Produzieren selbst. Dies (Sich Re)Produzieren bekommt ja immer auch Vorgaben mit Blick auf seine Zweckmässigkeit – sogar die selbstreplizierenden 3D-Drucker, mit denen man alles selber macht, sind so eine Vorgabe. Und genauso die Vorgabe, die ICH für die einzig mögliche halte, nämlich mit raffiniertem low tech sich „natur-nahe, natur-ähnlich“ in der Natur einzurichten (angefangen bei der Ernährung, und der Ressourcen-Wiedergewinnung). Naturgemäss UND angenehm UND zuverlässig-nachhaltig produzieren (also nicht zurück ins Mittelalter) – das ist eine Aufgabe, die derzeit, soweit ich sehe, nichtmal im Ansatz gelöst ist. (Ich höre aus meinem Umfeld einiges über den Stand der Agrarwissenschaft – auch darüber, dass sie im Umgang mit Natur-naher Produktion ohnehin an Erkenntnisgrenzen gelangt. Ein weites Feld. Und so ganz anders als die 3D-Druck-Szenarien…)
„…es (geht) aber ja keineswegs nur um Wissensvermittlung, sondern auch und vor allem darum, wie Ressourcen sowie notwendige oder
erwünschte Tätigkeiten und deren (häufig materiellen) Ergebnisse
geteilt werden“: Natürlich unterstelle ich, dass genau diese Entscheidungen in einer „radikal“ Natur- und Bedürfnis-orientierten kollektiven Produktionsweise teils regional, teils weiträumig oder gar global nur getroffen werden können, wenn „alle alles (aus ihrer Perspektive; etwa der, die sich aus ihrem Wohnort, Region usw ergibt) Relevante“ wissen und sich darüber verständigt haben. Noch ein weites Feld: Organisation kollektiven Lernens; die Relevanz-Kriterien teilen und darüber verständigt sein. Ich würde sagen: Das ist die herzustellende materielle Basis (und zu lösende Aufgabe) für jede kollektive, also die imo als nächste anstehende radikal-ökologische, radikal-bedürfnis-orientierte Produktionsweise.
Zu „Bedürfnis“ nochmal: Der Entschluss (Einzelner, aller Einzelnen), sich daran konsequent zu orientieren, scheint keine Vorgriffe zu erlauben: Bedürfnisse sind doch so verschieden. Nun, wenn das stimmt… und wenn Bedürfnisse sich nicht im Kern auf Lernen und eine radikalökologische Reproduktionsweise richten – wenn so zu leben und arbeiten nicht uns allen gemeinsam ist – dann sehe ich keine Grundlage für eine zukünftig kollektive Reproduktion – allerdings, so befürchte ich, auf Dauer auch keine andre. Noch so ein Feld.
Über meine drei „Felder“ lässt sich, aus dem Stand heraus und in aller hier gebotenen Kürze, nichts Verbindliches*) und über blosse Meinung Hinausgehendes sagen. Überzeugendes, Verbindliches, Durch-Argumentiertes zu diesen Feldern sagen können, erfordert ausserordentlichen theoretischen Aufwand, und darum ausserordentliche Motivation, sich eine solche Vorgriff-Vergewisserung tatsächlich zu erarbeiten. Vielleicht ist so ein Motiv auch ungut; und der Aufwand… am Ende umsonst (selbst wenn Einzelne zu einem solchen Ende, nämlich einem positiven Beweis solcher Behauptungen, wie ich sie aufstelle, gelangen würdne – dann wären sie immer noch allein; und alleine rechthaben wollen ist blöd.)
Immerhin gut, dass ichs mal ansprechen durfte. Mehr muss aber nicht sein.
@Rolf:
Ach ne, das ist ja nur ein kleiner Randaspekt, hauptsächlich ging es mir um die Frage, welche Rolle Geld und Märkte in nichtkapitalistischen Gesellschaften gespielt haben. Dabei schreibe ich auch gegen den Mythos an, dass Geld und Märkte (insbesondere auch Marktplätze) in solchen Gesellschaften gar nicht vorhanden oder völlig marginal waren und ihnen für die erfolgreiche Durchsetzung des Kapitalismus zunächst gewaltsam aufgezwungen werden mussten. Letzteres stimmt in vielen Fällen für die Durchsetzung des Marktprinzips, was aber eben, wie der Artikel zeigt, nicht generell mit Geld und Marktplätzen in einen Topf geworfen werden kann.
Ich entwickle hier keinen eigenen Geldbegriff, wozu auch? Wenn jede_r für alles einen eigenen, womöglich auch noch ganz obskuren und vom normalen Sprachgebrauch abweichenden Begriff verwendet („Wenn ich Geld sage, meine ich nur Münzen aus Edelmetall“ oder, um Humpty Dumpty zu zitieren: „When I use a word, it means just what I choose it to mean—neither more nor less“), ist damit nichts gewonnen, außer dass vermutlich alle aneinander vorbei reden.
Natürlich kommt es manchmal auf begriffliche Details an, etwa bei der Unterscheidung von Marktplätzen und Marktprinzip. Diese müssen sich aber aus der Analyse ergeben und können ihr nicht einfach abstrakt vorausgesetzt werden.
@Christian: aneinander vorbei reden ist der Anfang jedes Gespräches, in welchem ein „normaler Sprachgebrauch“ unterstellt wird. Nochmals, ich habe Dein Anliegen gut verstanden, auch wenn ich es mit einem kurzen Satz „den Mythos einer geldfreien Naturaltauschwirtschaft bekämpfst“ für Dich nicht treffend beschrieben habe.
Wenn Du den „normalen Sprachgebrauch“ für Geld kennst, dann hast Du einen Begriff von Geld, der Dir „normal“ vorkommt. Wäre nicht die elementarste Aufgabe einer Theorie, das vermeintlich Normale zu hinterfragen? Implizit mache ich das, indem ich eine Definition gebe, der ich mich anschliesse. Bei Dir erkenne ich genau dieses Verfaheren auch, aber leider mit der „normalen“ Gabler-Version.
Dass vor dem Kapitalismus keine (oder wie Du schreibst nur sehr marginale) Geldtausch-Marktplätze existierten, habe ich ja oben bereits als Erkenntnis beschrieben, die sich jedem sofort ergibt, wenn er nur ein bisschen nachdenkt.
Das Problem ist der „Geld-als-Tauschmittel“-Mythos, nicht die Vorstellung von vorkapitalistischen Marktplätzen.
@Rolf:
Doch natürlich gab es vor dem Kapitalismus Marktplätze und andere Transaktionen, wo mit Geld bezahlt wurde und die keineswegs völlig marginal waren — davon handelt mein Artikel ja gerade.
Und selbstverständlich ist Geld nicht nur, aber auch Tauschmittel, das hattest du in #6 ja selbst schon festgestellt. Andere Funktion sind z.B. Maßstab der Preise (1 Hut kostet 6 €), Wertaufbewahrungsmittel und (im Kapitalismus) Kapital — Geld, das zu mehr Geld werden soll. Aber wenn du aus dieser Multifunktionalität des Geldes schließt, dass seine Tauschmittel-Funktion ein reiner „Mythos“ ist, frage ich mich schon, womit du wohl bezahlst, wenn du in einen Supermarkt gehst?
@Christian: Zuerst, ich weiss nicht, wie Du den Text liest, den Du geschrieben hast. Ich lese darin, dass sowohl Markt(platz) wie Geld KEIMFORMEN hatten, die ein Ethnologe wie Dalteon sogar ins heutige Afrika projezieren kann. KEIMFORMEN sind eben Keimformen, also allenfalls marginalste Ansätze von etwas, was sich später entwickelt und nur rückblickend erkannt werden kann. Ich kann in keiner Weise erkennen, dass Markt und Geld bereits vor der kapitalistischen Produktionsweise eine entwickelte Bedeutung hatten.Dann zu Deiner rethorisch gemeinten Frage, womit ich im Supermarkt bezahle. Damit bringst Du die Sache auf den Punkt. Ich bezahle im Supermarkt mit meiner ec-Karte, also nicht mit Geld, sondern mit einem Kreditverfahren. Nur wer ganz naive Vorstellungen von Geld hat (oder eben jene ideologischen der politischen Ökonomie) meint, dass er mit Geld bezahle, wenn er sein ec-Karte verwendet.
Manchmal – am Kiosk oder an der Bar – sind die Beträge so klein, dass ich mit Geld, also mit Münzen oder Noten bezahle. Das ist aber ein bedeutungslos gewordener Teil im Zahlungsverkehr, wie jeder weiss, auch wenn er sonst nichts weiss. InIm Afrika, das Du mit Dalton zusammen beschreibst, mag das anders sein, weil auch das ein finanziell bedeutungsloser Teil darstellt, aber wo immer Du selbst lebst, spielt Geld als Tauschmittel eine absolut marginale Rolle (es sei denn, man denke in Gabler-Kategorien).Wie Du einleitend geschrieben hast, sollte man einen Geldbegriff haben, wenn man darüber nachdenkt, „warum und unter welchem Umständen man erwartet, dass X eines Tages verschwinden wird“. Ich habe genau darauf reagiert.
@Rolf: Waren Marktplätze und andere (Ver)Kaufstransaktionen in nichtkapitalistischen Gesellschaften schon „Keimformen“ des Kapitalismus, die dessen wesentliche Logik Jahrtausende früher schon im Kleinen vorwegnahmen und nur noch auf die passende „Krise“ warten mussten, um die alte gesellschaftliche Logik zu verdrängen und sich als Kapitalismus an deren Stelle zu setzen? Ich denke nicht, dass man das generell so sagen könnte — vgl. den Verweis auf die „bloß oberflächliche“ Ähnlichkeit dieser Formen mit den kapitalistischen. Von Keimformen kann man dann reden, wenn die primäre Motivation eines größeren Teils der Marktteilnehmer schon die kapitalistische ist — also der Wunsch, Geld in mehr Geld zu verwandeln. Das wurde aber erst mit der Durchsetzung des Marktprinzips, also des freien Handels auch mit Land und Arbeitskraft, systematisch möglich.
Also erst mit dem Zur-Ware-Werden von Land und Arbeitskraft kann man von kapitalistischen Keimformen sprechen, nicht aber in Hinblick auf die Jahrtausende vorher, wo im Wesentlichen nur Produkte (und da oft auch nur ganze bestimmte) ge- und verkauft wurden.
Zur Idee „Wenn ich mit ec-Karte zahle, zahle ich nicht mit Geld“ (oder anders ausgedrückt: „Nur Bares ist Wahres!“): das ist genau das, was ich mit „ganz obskuren und vom normalen Sprachgebrauch abweichenden Begriff(en)“ meinte. Erstens gibt dir deine Bank bei normalen ec-Karten-Käufen ja gar keinen Kredit (sofern du dadurch nicht in den Dispo rutscht), sondern bucht den bezahlten Betrag sofort von deinem Konto ab. Und zweitens schließen sich auch Kredit und Geld keineswegs aus, sondern Kredite sind gerade der Weg, durch den alles moderne Geld in die Welt kommt, siehe Geldschöpfung.
Ich weiß, dass du das nicht wahrhaben willst, sondern auf deiner Geld=Bargeld-These beharren wirst, aber dazu werde ich nichts weiter schreiben. Diese Art von begriffsverwirrenden Debatten ist Zeitverschwendung.
@Christian: „Begriffsverwirrende Debatten“ ist ein sonderbares Argument gegen Debatten zur Begriffsfindung. Hier geht es nicht um Bares Wahres, sondern um gesellschaftliche Praxis und deren Verklärungen durch die politische Ökonomie.
Im bürgelichen Bankjargon ist das Geld, das ich auf die Bank bringe, mein Geld, also kein Kredit, den ich der Bank gebe. Aber wenn die Bank mir Geld gibt, ist es ein Kredit – das bezeichne ich nicht als Begriffsverwirrung, sondern als bewusste Ideologie.
Wenn ich mit der ec-Karte bezahle, fliesst kein Geld, egal was Du als Geld bezeichnen magst. Es gibt ausschliesslich Buchungen in einer Buchhaltung.
Kredit und Geld schliessen sich nicht aus. Ich kann Dir einen Kredit in Form von Geld geben. Aber Kredit ist etwas ganz anderes als Geld, und insbesondere ohne Geld möglich.
Ich weiss nicht, was Du als Bargeld bezeichnest, für mich ist Geld ein Homonym, das heisst, ich muss mir bewusst halten, wie ich den Ausdruck – anders als im Bankenjargon – verwende. Geld ist bezeichnet einerseits eine Dimension oder Grössenart und andrerseits die materielle Repräsentation von Grössen dieser Art. Das kann eine Banknote sein, aber auch elektronisches Geld, es ist immer materiell vorhanden, oder eben kein Geld.
Natürlich kann man „Geld“ als etwas Geistiges, Transzentens begreifen, das tut die gängige Ökonomie. Wer die Terminologie der Banken (und der von ihnen bestimmten Gesetzgebungen) übernimmt, verzichtet auf Begriffe, er mag verwirrt sein oder eben ideologisch motiviert. Er betreibt Begriffsverwirrung.
Ein davon unabhängiges Thema ist die Keimform. Dazu würde ich sehr gerne auch noch etwas Begriffs-Debatte betreiben. Ich melde mich nochmals.
Christian, ich denke, dies ist ein versprechender Ansatz und ich denke, solch ein historischer Rückblick ist sehr hilfreich.
„wer den Kapitalismus (und seine Grausamkeiten) überwinden will, muss auch auf Geld und Märkte verzichten“
– HA HA HA, klingt als ob du mich zitierst 😉
Für mich ist der entscheidende Faktor für „Kapitalismus“ und „Marktwirtschaft“ der Wachstumszwang, nicht der Arbeitsmarkt.
Aber viel mehr als abstrakte Definitionen geht es für mich darum, ob diese „Grausamkeiten“ noch da sind oder nicht. Ob Rom eine Marktwirtschaft/Kapitalismus war ist umstritten, aber wichtiger sind die Fragen: können wir davon etwas für unsere moderne Probleme lernen? Würden wir so ein System wieder haben wollen oder Elementen davon nachahmen? War ihre Gesellschaft glücklicher/ökofreundlicher/friedlicher/usw als unsere?
Deine Beschreibung von Feudalismus ist natürlich richtig. Doch hat sich der Feudalismus in den modernen Kapitalismus entwickelt. Warum? Meine Antwort: Das Geld und die Märkte, die es schon gab, brauchten Wachstum. Die einzige Quelle des Wachstums ist Arbeitskraft. Das muss nicht notwendigerweise über einen Arbeitsmarkt erworben werden. Frühere Zivilisationen beuteten Sklaven aus. Man kann auch seine eigene Arbeitskraft ausbeuten oder die Arbeitskraft von Familienmitgliedern. Entscheidend ist, dass Wachstum von der Marktlogik erfordert wird. Dafür gibt es eine theoretische Grundlage (besonders aber nicht ausschließlich von Marx).
Die Beschreibung von China der Antike ist natürlich sehr interessant, und ich denke, es wäre ein gutes Thema zum weiter Erforschen. Ob die damalige Wirtschaft gewachsen ist und ob es zwangsläufig wachsen musste, ist aber schwierig zu beweisen. Dass es keine „Unternehmer_innen“ gab, hängt meines Erachtens auf der Definition von Unternehmer ab. Der Aktienmarkt ist ja eine neuere Erfindung. Aber wenn es Taverne in China gab, die mit Geld handelte, dann galten sie vermutlich als Firmen/Unternehmen. Die mussten Profit erzielt haben. Wenn nicht, dann verstehe ich nicht, wie sie funktionierten.
Ich hoffe du verstehst diese Worte (und übrigens auch meine letzten E-mails) als Impuls zum Weiterlernen und Weiterdenken und nicht als Impuls zum Streit 🙂
Leider komme ich aber hier an die Grenzen meines Wissens.
Justin, du gehst von der – oft in klassisch traditionsmarxistischen wie gleichsam neoklassischen Kreisen vertretenen – Auffassung aus, dass Märkte per se zur Expansion neigen müssen und die Marktakteure auf Profit und Wachstum aus sein müssen.
Die britische Marxistin Ellen Meiksins Wood hat, ähnlich wie Karl Polanyi, in ihren Arbeiten recht eindrucksvoll dargelegt, dass sich Vorstellungen wie betriebswirtschaftlicher Rationalität und endloses Wachstum, vollstreckt als Zwang zwischen allen Akteuren, erst im England des 18. Jahrhunderts durchgesetzt hat.
Polanyi ist ebenfalls der Meinung, dass von Kapitalismus erst dann gesprochen werden kann, wenn das Marktprinzip alle wesentlichen gesellschaftliche Bereiche erfasst (d.h. sich ein nationaler Binnenmarkt herausbildet), vor allem jene, wie er es nennt, „fiktive Waren“: Arbeit, Boden und Geld.
Vorkapitalistische Marktakteure waren darüber hinaus einer Art „Ethik des Maßhaltens“ verpflichtet und es galt als unschicklich sich übermäßig zu bereichern. Siehe z.B. die Zunftordnungen der Handwerker-Vereinigungen.
Der Gedanke eines endlosen Wachstums und endloser Bedürfnisse war in diesem Sinne gar nicht vorhanden und wäre diesen Zeitgenossen wohl unsinnig erschienen. Erst Recht das abstrakte kapitalistische Prinzip des Mehr-Habens-und-reinvestieren-um-seiner-selbst-willen.
Das alles wirft die Frage auf ob es Marktverhältnisse ohne Wachstumszwang geben kann. Einige, wie z.B. der Mathematiker und Philosoph David Schweickart, behaupten ja.
Andere wiederum meinen Märkte würden stets die Grundlage legen immer mehr gesellschaftliche Bereiche ihrer Eigenlogik zu unterwerfen. Wobei diese Eigenlogik dann als Wachstumszwang durch die so genannten „Marktkräfte“ beschrieben wird.
Die Frage lautet also: Kann es zeitgemäße aber „eingebettete“ (Polanyi), also quasi sozialisierte bzw. demokratisierte Märkte geben wo Bedingungen und Angebote wie Nachfragen quasi im Voraus verhandelt werden?
Der Industrie-Ökonom Pat Devine hat hierzu in seiner Schrift „Participatory Planning Through Negotiated Coordination“ ein Modell vorgeschlagen.
Nach wie vor ist nämlich unklar wie eine Ökonomie ohne Märkte in einer komplexen und dynamischen Gesellschaft die passende Allokation ohne bürokratische Bevormundung oder individuelle Vorab-Erfassung der Konsumswünsche durch eine Planbehörde machbar sein soll; überhaupt wie ressourcenschonende, effizient-orientiertes Wirtschaften, wenn es keine Kosten gibt die sich in Marktpreisen ausdrücken.
Devine ist meines Erachtens einer der wenigen der sich mit diesen Argumenten der Österreichischen Schule auseinandergesetzt hat und den Versuch erbracht eine entsprechende Antwort zu formulieren ohne sich in bürokratische Planerfassungs-Vorstellungen wie bspw. in Albert und Hahnels „Parecon“ zu verstricken.
@Rolf: Was wird denn mit dem Geld vermittelt – denkst du denn, was immer Kredit leistet, spielt sich nur zwischen Gläubiger und Schuldner ab? So ist es nicht, denn: Wichtige Teile des gesamten Wirtschaftskreislaufes (der Gesamt-Kapital-Zirkulation) sind Investitions- (das ist der allgemeinere Ausdruck) bzw. Kredit- (das ist eine spezielle Form)-vermittelt, und hat zu tun mit Innovationen gleich welcher Art, die zu Marktvorteilen (mithin auch Verdrängung der Anteile von andern Marktteilnehmern; von wegen: Wachstum im Sinne des Ständig-Mehr-Werdens!) führen. Marktvorteile, wenn sie wirklich erzielt werden, machen sich bezahlt – in Gestalt REAL neu verteilter und/oder verringerter Nachfrage; DARUM sind Investitionen mit Zins rückzahlbar in Fristen – vorausgesetzt (was eben das Risiko des Investierens im allgemeinen, und des Kreditgebens im besonderen angeht) das so in Gang gesetzte Geschäft ist so erfolgreich wie geplant. Was ja im Kapitalismus nie sicher ist.
((Von mir zu Protokoll gegeben, anderswo einzulösen: Die politische Ökonomie der Innovation (mithin von Akkumulation, Kredit, „Wachstum“) ist von „Marxisten“, wie ich glaube, theoretisch bis heute nicht korrekt erfasst.))
((Was sich gleich im nächsten Debattenthema zeigt:…))
@ Perikles (und @Justin sowieso): Das Problem liegt im Wörtchen „dynamisch“: also es soll gewachsen werden, aber… ua. ressourcen-schonend und effizienz-orientiert. – Nun SOLL eben auch im Kapitalismus gewachsen werden; das Hässliche dabei ist, dass Preise exakt solche Ziel-Dimensionen wie die genannten (und einige mehr) nicht von sich aus ebenso abbilden, wie sie es für „Produktvität“ bzw. (wenn auch nur sehr grob) für „Knappheit“ tun.
Und da sind die Leute, die „Konsumenten“, aber vor allem (während eines Grossteils ihrer Lebenszeit) doch auch Produzenten sind, noch garnicht vorgekommen: Haben sie nicht „individuelle“ Vorstellungen davon, worauf Fortschritt oder Forschung zielen, welche Prioritäten dabei gesetzt werden sollen?
Marktwirtschaft ohne Dynamik ist noch relativ simpel; Privatisierung von Fortschritt (in einer „dynamischen“ Gesellschaften) und Handel mit Fortschrittsoptionen, über die privat verfügt wird – das ist Kapitalismus, aber das ist eben auch das Problem.
Was mir immer wieder ungut aufstösst, ist: Wie leicht das Ressourcenschonen, das ökologische Produzieren, und das noch im Konsens, hinschreiben lässt. Als hätte man es nicht mit sich abzeichnenden planetaren Gross-Katastrophen zu tun, bei denen niemand weiss, wie sie allein auf der (ich sags mal „traditionsmarxistisch“ passend) Produktivkraftebene gelöst werden können. Da sind keine Freiheiten; da sind nur Zwänge, von denen man hoffen kann, dass die Menschheit als Gattung sie überlebt.
Und nur der Teil von ihr hat überhaupt eine Chance, der (schon wieder traditionsmarxistsich; und schon wieder objektiv-ironischerweise korrekt) mit und in einem radikal zwangfrei-kollektivistischen Produktionsverhältnis leben kann und will – diejenigen also, die auf gesellschaftlicher Ebene lernfähig („dynamisch vergesellschaftet“) sind – weil sie zwangfrei Arbeits(auf)teilung („komplex“) unter (Mit)Teilung des für alle oder alle je Betroffene relevanten Wissens organisieren können.
Zu diesem Wissen gehört, nebenbei, das Begreifen historischer Gefällesituationen; mit denen sind wir schon jetzt dramatisch konfrontiert, und werden es in naher Zukunft noch viel dramatischer sein.
Franziska, es ist halt die Frage ob das von dir formulierte volle öko-kommunistische Paradigma auf Basis einer global vergesellschafteten und komplex-dynamischen Wirtschaft überhaupt umsetzbar ist.
Oftmals wird in derlei Debatten übersehen, dass eben nicht alle Menschen die gleiche Lernfähigkeit bzw. überhaupt Lernlust mitbringen und auch gar nicht alle Bock haben zu jedem Zeitpunkt überall mitreden zu können, geschweige denn es überhaupt wollen. Allein schon aus Zeitgründen. Es besteht also die Frage ob man um Repräsentations-Ebenen gar nicht umhin kommt und wie diese zu gestalten sind, dass sie sich nicht bürokratisch verselbstständigen. Ich hege hier viel Sympathie für das Losverfahren (siehe Demarchie) um diese Repräsentanz- und Partizipationsfrage zu lösen.
Ich glaube allerdings, dass völlig marktlose bzw. durch Vorab-Planung geregelte Verhältnisse einzig im Bereich der Grundversorgung machbar sind, welche dann auf Stadt- und Gemeinde-Ebene organisiert werden können und müssen. Nur so ist ökologisches Produzieren inklusive der nötigen Überschaubarkeit gegeben um überhaupt solidarisch und (basis-)demokratisch/demarchisch/anarchistisch/kommunistisch/commonistisch/postwachtums-orientiert/wie-auch-immer-man-es-nennen-will wirtschaften zu können.
Unser evolutionäres Erbe zieht hier gewisse Grenzen (d.h. all die nötige Denk-, Lern-, und Solidarisierungskapazität kann mit einer abstrakt globalen Perspektive wenig anfangen; sie ist für uns schlichtweg nicht wirklich greifbar. Solidarisierungseffekte verblassen bereits ab Gruppengrößen von 500 bis maximal 1.500 Menschen).
Bei alledem steht die Frage im Raum ob die heutige industrielle Produktion überhaupt „zu retten“ ist. Andererseits würde ein Großteil der Menschheit ohne sie heute gar nicht mehr überlebensfähig sein. Kann es also eine regional-ökologische Form der Industrie geben welche voll recyclebar ist?
Ist dadurch naturschonende Produktion bereits erreicht? Doch wie soll ohne Preismechanismus das alles gesellschaftlich vermittelt werden, wenn man nicht will, dass zentral verordnet wird wie was produziert werden soll oder nicht alle ständig zu irgendwelchen Sitzungen zusammenkommen sollen? Oder: Kann es einen Preismechanismus geben der ein anderes Geld als heute denken lässt? Kann es eine Art politisch vorbestimmtes Rechen- bzw. Schwundgeld geben?
Wolfram Pfreundschuh schrieb hierzu auf seiner Website Kulturkritik.net zum Eintrag „R<echengeld“:
„Rechengeld ist also eine Geldform im Sinne einer Ergänzungswirtschaft, die sich nicht aus den Verhältnissen der Tauschwerte auf dem Markt der so genannten freien Marktwirtschaft im Warentausch der realisierten Wertverhältnisse ergibt, sondern aus einem politisch ermittelten Größenmaß der Aufwände je Reproduktion einer Wirtschaftseinheit (z.B. Kommune, Region, Land) im Maßstab ihrer Produktivität
und umgekehrt proportional zu ihrem realen Vermögen der darin bezogenen
Wirtschaftsräume. Was die eine Seite durch einen Handel mit Rechengeld
an Produktivität
und Bodenschätze gewinnt, muss bei diesem Handel mit der anderen
durch Sache
oder Wert adäquat geteilt, also ausgeglichen werden.
Tauscht damit z.B.
ein Land oder eine Kommune Produkte mit hohem Anteil an menschlicher
Arbeit (also geringer Produktivität) mit Produkten eines anderen Landes
mit hohem Anteil an automatischer Arbeit (also hoher Produktivität),
wird deren Wert (Arbeitsaufwand) umgekehrt proportional zum Wert
(Arbeitsaufwand) der Handarbeit verrechnet. Ebenso die materielle
Berechnung.
Der Verschleiß von Produktionsmittel und Abbau von
Bodenschätzen wird umgekehrt proportional zum Vermögen der Tauschenden
verrechnet, so dass z.B. ein Land mit hohem Anteil der Bodenschätze
gegen die knapperen Bodenschätze eines anderen Landes verrechnet wird.
Der Gesamtzweck soll alle Beteiligten durch die allgemein gewonnene Synergie entschädigen und somit eine allgemein befriedigende Entwicklung ermöglichen.
Daraus ließe sich z.B. ableiten, dass mit moderner Computertechnik in den Verhältnissen einer Ergänzungswirtschaft
Algorithmen zu finden sind, die eine reelle Beziehung des Geldes zum
Aufwand der Produktion unter Hinzunahme von Raum- und Zeitbedingungen
gemessen am Gesamtvermögen der Tauschenden möglich ist. In diesem
Zusammenhang zitiert Marx einen Ökonomen seiner Zeit:
„Die Totalmasse des reellen Geldes hat
notwendige Grenzen in den Bedürfnissen der Zirkulation. Das Rechengeld
ist ein ideales Maß, das keine Grenzen hat als die Vorstellung.
Angewandt, jede Art des Reichtums auszudrücken, wenn sie nur betrachtet
wird unter dem Gesichtspunkt ihres Tauschwerts; so den
Nationalreichtum, das Einkommen des Staats und der einzelnen; die
Rechenwerte, unter welcher Form diese Werte immer existieren, geregelt
nach derselben Form.“ (Granier zitiert nach Marx in MEW 42, S. 121) (…)Statt einen Warentausch zu bewerten, nimmt es in einem vertraglich geregelten Maß dessen konkretes Quantum zum Vergleich (z.B. konkrete Arbeitszeit,
Rohstoffmengen, Landbenutzung usw.).
Von daher muss ein Rechengeld
diesbezügliche Eigenschaften und Bestimmungen enthalten: Seine
Verweildauer ist durch die Zeit beschränkt, welche die dem Aufwand
entsprechende Produkte in diesem Gemeinwesen haben und in welcher es wie ein Schwundgeld entwertet wird.
Es unterscheidet sich von diesem dadurch, dass es eine Vertragswirtschaft voraussetzt, die auch regional gebunden und in einer Subsistenzindustrie begründet ist und interregional anerkannte Maßeinheiten beiinhaltet. Von daher muss es auch politisch kontrolliert sein (siehe internationale Komunalwirtschaft).“
[Zwei Offtopic-Kommentare gelöscht, CS.]
@Rolf: Du hast, wie du ja selbst schon erkannt hast, einen völlig anderen „Geld“-Begriff als alle anderen hier und kannst zu der Debatte hier deshalb leider nichts Erhellendes beitragen. Deshalb habe ich deine letzten Kommentare gelöscht. Du kannst deine ganz eigene Geldtheorie gern anderswo vertiefen, aber hier ist sie kein hilfreicher Beitrag.
@Justin #17:
Ich bin inzwischen sehr misstrauisch, wenn ich das Wort „…logik“ höre. Natürlich könnte man z.B. von „Blauer Logik“ oder „Smartphonelogik“ sprechen, aber was sollte das sein? Ich habe nicht die leiseste Ahnung.
Und bei „der Marktlogik“ als einem vermeidlich überhistorischen Konstrukt ist das ähnlich. Natürlich müssen sich profitorientierte Unternehmen, die sich in einem kapitalistischen Umfeld am Markt bewähren wollen, auf eine bestimmte Weise verhalten — oder genauer gesagt: sie müssen nicht, aber es ist zweckmäßig für sie — aber wieso sollten dieselben Verhaltensweisen auch für kleinbäuerliche Verkäufer und städtische Käuferinnen, die sich auf einem mittelalterlichen Marktplatz trafen, gelten? Das wäre zu zeigen, und ich bin mir ganz sicher, dass Marx nichts Derartiges gezeigt hat — er hat sich vielmehr ganz explizit immer nur mit den spezifisch kapitalistischen Verhältnissen (wo es neben Märkten für Produkte eben auch solche für Arbeitskraft und Land gibt) beschäftigt.
Zum Thema Wachstumszwang: Ich denke, diesen gibt es schon im Kapitalismus nicht so allgemein. Dass große Firmen kleinere wegen Skaleneffekten immer aus dem Feld schlagen können und deshalb alle immer größer werden müssen, bis am Ende nur noch 1-2 Giganten pro Branche übrig geblieben sind, ist eine vulgärmarxistische Vorstellung aus dem frühen 20. Jahrhundert (Stichwort „Monopolkapitalismus“). Die Realität ist viel komplexer — in einigen Wirtschaftszweigen gibt es tatsächlich derartige Skaleneffekten und einige wenige große „Marktführer“, die fast den gesamten Markt unter sich aufteilen, aber in anderen Wirtschaftszweigen gibt es auch viele keine und mittelgroße Unternehmen, die durchaus gut aufgestellt sind und keineswegs permanent größer werden oder aber verschwinden müssen.
Was es real im Kapitalismus gibt, ist kein universeller Wachstumszwang, sondern ein Profitzwang: Da wo Unternehmen um Fremdkapital konkurrieren (z.B. Aktien, Anleihen, Kredite), werden die Kapitalgeber_innen generell das Unternehmen bevorzugen, das ihnen einen größeren „return on investment“ verspricht. Wer wenig profitabel ist, wo andere profitabler sind, hat deshalb ein Problem.
Das war aber z.B. im Mittelalter oder im alten China, wo die meisten Betriebe eigentümergeführt waren und es keine nennenswerten Märkte für Produktionsfaktoren (Land, Arbeitskräfte, Geld/Kapital) gab, ganz anderes: Dort war ein größerer Profit zwar ganz nett, aber keineswegs überlebenswichtig. Also z.B. die chinesischen Tavernen: der Profit war dort zugleich das Gehalt, das sich der Eigentümer/Betreiber selbst auszahlen könnte. Lief es gut, war er wohlhabend und konnte auf großem Fuß leben, lief es weniger gut, musste er bescheidener leben und auf manches verzichten. Aber in beiden Fällen wurde der Profit vom ihm komplett aufgezehrt — in Marx‘ Terminologie handelte es sich um „einfache Reproduktion“.
Ohne Märkte für die Produktionsfaktoren Land und Arbeitskraft war gar nichts anderes möglich — das vorwiegende städtische Modell im Feudalismus und im alten China war das des „Wirts“ oder „Meisters“ mit vielleicht ein paar Lehrlingen und wenig qualifizierten Helfern, der v.a. die Produkte seiner eigenen Arbeitskraft verkauft. Der kann, selbst wenn er besonders erfolgreich ist, gar nicht groß wachsen, solange ihm andere Wirte/Meister nicht ihre Arbeitskraft verkaufen. Ebenso kann auch ein besonders günstig produzierender bäuerlicher Betrieb nicht wachsen, wenn das Land durch den Feudalherren gleichmäßig oder als Belohnung für geleistete Dienste vergeben wird statt zu Marktpreisen. Auch der erfolgreichste Tavernenwirt im alten China war ein Einzelunternehmer — er hatte weder die Notwendigkeit noch die Möglichkeit, andere Tavernen aufzukaufen und eine ganze Kette à la Starbucks aufzubauen — weil das Märkte für Produktionsfaktoren wie Land, Arbeitskraft und ganze Betriebe erfordert hätte, die es aber nicht gab.
Erfolgreiche Wirte, Meister, oder Bauern hatten also keinen systematischen Anreiz, billiger zu produzieren als die anderen, und wenn sie es doch taten, hatten sie davon keinen großen Vorteil und die „Konkurrenz“ keinen Nachteil. Ein genuiner Unterbietungswettbewerb wird erst bei freiem Zugriff auf die Produktionsfaktoren möglich (und dann auch notwendig, in dem Moment, wo die Konkurrenten damit anfangen).
Natürlich wollen wir nicht zum Feudalismus oder ins Alte Rom zurück (also ich jedenfalls nicht!) — abgesehen davon, dass das eh unmöglich sein dürfte. Wertvoll finde ich diese Analysen aber, weil sie zeigen, dass z.B. deine Intuition einer vermeintlich überhistorischen „Marktlogik“, die bei Gesellschaften mit bloßen Märkten für Produkte genauso auftritt wie bei komplett dem „Marktprinzip“ unterworfenen Gesellschaften, falsch ist. Woraus auch folgt, dass die Idee, der bloße Verkauf von Produkten wäre generell und unter allen Umständen ein Problem und würde im Grunde direkt in den Kapitalismus führen, falsch ist. Die Umkehrung, wonach der Verkauf von Produkten generell unproblematisch sein soll, wäre aber natürlich auch falsch — welche Konsequenzen derartige Institutionen haben, muss vielmehr im Einzelfall analysiert werden. Aber die Entlarvung falscher Vorurteile ist unabdingbare Voraussetzung für eine bessere Analyse, die dann daran anschließen kann.
Ganz sicher nicht, siehe oben: Es gab dort keinen systematischen Wachstums- oder Profitzwang. In Hinblick auf den Feudalismus sollte ja auch zu denken geben: Zwar hat sich der Kapitalismus daraus entwickelt, aber erst nach langer Zeit — je nachdem, wie man den europäischen Feudalismus genau definiert, hatte er ja durchaus schon 1000 Jahre oder mehr hinter sich — und außerdem in einem damals unbedeutenden Land an der feudalistischen Peripherie (England), keineswegs in dessen Zentrum. Außerdem gab es auch anderswo feudalistische Gesellschaften (z.B. in Japan), ohne dass es dort kapitalistische Tendenzen gab. Ellen Woods Origin of Capitalism beschäftigt sich detaillierter mit dieser Frage, als ich es könnte (siehe Wie der Kapitalismus entstand), und kommt zu dem klaren Schluss: Die Entstehung des Kapitalismus aus dem englischen Feudalismus war keineswegs zwingend, sondern Ergebnis einer ganzen Reihe mehr oder weniger zufälliger Umstände, die dort zusammenkamen. Dass der Feudalismus im Kapitalismus „endete“, war ganz offensichtlich eine Möglichkeit, aber es war dem Feudalismus keineswegs in die Wiege gelegt, dass er so enden würde.
@Perikles: Danke für den Hinweis auf Pat Devine, ich werde mir das mal anschauen. Dass ein Preismechanismus zur Koordination zumindest mancher Produktionsprozessen in einer komplexen Gesellschaft nötig ist, glaube ich inzwischen auch.
Und dass Demarchie (Losverfahren) für kollektive Entscheidungen in größeren Zusammenhängen besser funktionieren kann als repräsentative Demokratie, glaube ich auch. Ein „Konsens“ (selbst ein „grober“) ist hingegen natürlich eine völlig weltfremde Vorstellung, wenn es sagen wir mal um die Einwohner_innen einer Großstadt geht.
Falls es dich, Christian, oder andere interessiert, kann ich übrigens nur John Burnheims „Is Democracy Possible?“ von 1985 empfehlen, das hier legal und online gesamt gelesen werden kann:
http://setis.library.usyd.edu.au/pubotbin/toccer-new?id=burisde.xml&images=&data=/usr/ot/&tag=democracy
Darin beschreibt Burnheim auch wie eine auf Demarchie basierende Gesellschaft ohne staatliche Institutionen und funktionaler Arbeitsteilung ohne Rückkehr zu kommunal-kleinteiliger denkbar sein könnte.
Ebenso behandelt er darin wie mit Boden, Arbeit und Geld verfahren werden könnte ohne hinter den bisherigen Grad der dynamisch-komplexen Vergesellschaftung zurückzufallen.
Burnheims Versuch besteht darin, nach eigener Aussage, den Sozialismus nach Hayek zu erneuern bzw. eine ähnliche Erneuerung für den Sozialismus zu liefern wie Hayek ihn für den (Wirtschafts-)Liberalismus lieferte.
@Justin:
„Die einzige Quelle des Wachstums ist Arbeitskraft.“ Du beziehst Dich sicher auf die Arbeitskraft als Quelle des Mehrwerts. Als Quelle des Wachstums (von Reichtum bei Marx) gilt auch die Natur, insbesondere der Einsatz einer hoch verdichteten Energiequelle wie Erdöl spielte da in den letzten Jahrzehnten eine enorme Rolle…
@ Christian: „Waren Marktplätze und andere (Ver)Kaufstransaktionen in
nichtkapitalistischen Gesellschaften schon „Keimformen“ des
Kapitalismus, die dessen wesentliche Logik Jahrtausende früher schon im
Kleinen vorwegnahmen und nur noch auf die passende „Krise“ warten
mussten, um die alte gesellschaftliche Logik zu verdrängen und sich als
Kapitalismus an deren Stelle zu setzen?“
Ich weiß nicht, ob das noch kommt oder geplant ist: Hier wäre ein Verweis auf ellen M. Wood extrem hilfreich. Ich fand es extrem spannend, bei ihr zu lesen, wie sie die Versuche zurückweist, in allen möglichen Zeiten und Gegenden das „Scheitern“ des Beginnens/des Durchsetzen des Kapitlaismus begründen zu wollen, weil genau das ja voraussetzt, dass man es erwartet, dass irgendwie Geld und Märkte automatisch zum Kapitalismus führen müssten. Sie dagegen zeigt auf, wie kontingent die Bedingungen in England waren, damit sich daraus wirklich Kapitalismus entwickelte.
@ Franziska: “ Als hätte man es nicht mit sich abzeichnenden planetaren Gross-Katastrophen zu tun…“ Du sprichst mir aus der Seele! Endlich mal eine, die ähnlich denkt wie ich: https://philosophenstuebchen.wordpress.com/2017/06/27/5-vor-12-ist-schon-vorbei/
@ Christian: „Natürlich müssen sich profitorientierte Unternehmen, die sich in einem
kapitalistischen Umfeld am Markt bewähren wollen, auf eine bestimmte
Weise verhalten — oder genauer gesagt: sie müssen nicht, aber es ist
zweckmäßig für sie — aber wieso sollten dieselben Verhaltensweisen auch
für kleinbäuerliche Verkäufer und städtische Käuferinnen, die sich auf
einem mittelalterlichen Marktplatz trafen, gelten?“
Ich habe dabei immer die „Frauen von Juchitan“ (http://www.thur.de/philo/juch.htm) im Kopf.
@Christian:
Ich weiß, dass ich mit meiner Kritik der Wirtschaftifizierung meistens nicht viel Resonanz finde, aber hier geht es aus meiner Sicht um eines der zentralen Probleme, die von von vielen nicht gesehen werden (wollen). So auch von dir nicht.
Den gesellschaftlichen Prozess nur als Problem der Versorgung von Menschen mit gar auch nur materiellen Gütern und Dienstleistungen zu sehen, heißt ihn nicht wirklich verstehen. So ist es kein Zufall, dass auch in diesem Text Care und Soziales herausfallen. Das lässt sich halt nicht in Begriffen der Versorgung denken. Tatsächlich, und das wäre spannend gewesen in deinem historischen Exkurs zu lesen, waren vor dem Kapitalismus die unterschiedlichen (und eben nicht getrennten) Aktivitäten zur vorsorgenden Herstellung aller Lebensbedingungen noch zusammengeschlossen. Zwischen den Zeilen kann ich das herausahnen.
Erst der Kapitalismus hat diese Tätigkeiten in Sphären aufgespalten, in Wirtschaft und den Rest. Der Rest, der mindestens genauso groß ist (gemessen an der Lebensenergie, die da reinfließt) wie die Wirtschaft. Aber er wird immer wieder verunsichtbart, so auch hier. Dies ist aber kein Wunder, weil du kritiklos die Denkformen und Begriffe von Dalton, Polanyi und Co übernimmst, die das nicht denkbar machen. Die Ontologisierung, die darin steckt („Wirtschaft hat es immer gegeben“, vgl. Dalton), ist aus meiner Sicht gravierender als die berechtigten Hinweise auf simplifizierende Vorstellungen vom Geld in der Geschichte.
Die eine durch die eine andere Mystifizierung einzutauschen, ist kein guter Deal 😉
Nach den Einwürfen von Annette und Stefan traue ich mich meinerseits, nochmal auf den Themenkreis zurückzukommen, der klassisch unter dem Titel „Produktivkräfte“ firmierte. Dieser Titel für die Fundamentalebene einer „Produktionsweise“ wird normalerweise begriffen ausschliesslich etwa im Sinne von: Inventar der grundsätzlich verfügbaren Technologien in einer Gesellschaft – der Rest ergibt sich daraus. Tatsächlich gibt es, vor allem anegsichts fortgeschritten-moderner Verhältnisse, eine Unzahl an Optionen, diese Technologien reproduktiv und entwicklungsfähig auf Zwecke hin aus- und einzurichten. Ich schlage dafür den Begriff „Produktionsarchitektur“ vor.
Ökologische Rücksichten, „Bedürfnisorientierung“ und das, was Stefan vorbringt, sind Beispiele für solche produktionsarchitektonische Themen.
Bei den (wie immer vermittelt kollektiven) Zwecken, die einer (potentiell funktionsfähigen) Prod.architektur vorgegeben werden, ist zu unterscheiden zwischen dem, was im gegebnen Rahmen für wünsch- und zugleich erreichbar gehalten wird, und dem, was an Zwängen und Notwendigkeiten zu beachten ist; dazwischen gibt es den Bereich dessen, was nicht zu beachten riskant, und dessen, was (als Chance) nicht zu nutzen unvernünftig wäre.
Typische produktionsarchitektonische Parameter neben den genannten sind zum Beispiel: Produktivität – Ressourceneffizienz; (De)zentralität, Regionalität vs. überregionale Arbeitsteiligkeit; Modularität; Robustheit, Redundanz, Prophylaxe, Reservenbildung; Forschungsorientierung; Lern- und Lehrbarkeit der Produktionsverfahren (unvermeidlicher Spezialisierungsgrad); Lebensqualität, Arbeitsfreude, „Menschengemässheit“ uvam – die Liste dient nur der Veranschaulichung.
Ich möchte noch darauf hinweisen, dass sowohl Christian (drüben im nächsten Geld-thread, glaube ich) als auch Perikles (hier) die Zahl der Menschen ins Feld führen, die derzeit „nun mal“ auf Gedeih und Verderb von der typisch global-industriellen Produktions- Architektur abhängen, weshalb sich alle auf DIESE Planungs- und Willensbildungs-Dimension richtenden Überlegungen erübrigen sollen.
Man kann den Satz, in den Perikles es oben gekleidet hat, leider umkehren und sagen: Sie können ohne diese Industrie nicht leben, UND MIT IHR heute schlecht, bald aber auch nicht mehr.
Mit den Freunden der „entwickelten Produktivkräfte“, von denen man anscheinend garkeinen andern Gebrauch als den global-hocharbeitsteilig-industriellen machen kann (TINA!), müsste man sich da erst einmal einig werden, dass wir dabei von einer katastrophenträchtigen Monstrosität sprechen, etwas, das sich, ohne tiefgreifende Umformung, SO ODER SO bald selbst abschaffen wird. Ob der Ökokommunismus funktioniert? Perikles: Wenn der nicht – was dann?
Klar: Das ist mit Schlagworten nicht auszudiskutieren. Aber es marktiert das Ausmass dessen, was unter radikal Linken kontrovers ist.
PS: Ich spreche hier speziell mit Blick auf Gesundheit, Land- (und Wasser)Nutzung, Ernährungsqualität (so wie Annette, sehr zurecht, aus Sicht des Energieverbrauchs) – von wegen: 7 Milliarden „ernähren“ ginge! Mit Kohlehydratpampe sättigen, dabei aber vielfältig fehl- und mangelernähren und dadurch krankmachen – das geht. Von der Verseuchung mit lebensfeindlichen Substanzen und allgegenwärtigen Immissionen ganz abgesehen. Von der definitiven Vernichtung von Natur-Ressourcen: abgesehen. SO sehen „industriell, global-hocharbeitsteilig entwickelte Produktivkräfte“ 2017 aus!
@Annette #28 und #30: Auf Wood verwies ich ja schon in einem der Kommentare, aber es stimmt, dass das auch im Haupttext Sinn machen würde. Danke für den Tipp!
Zu den „Frauen von Juchitan“: Ich lese gerade „Eine Kuh für Hillary“ von den Bielefelderinnen (Veronika Bennholdt-Thomsen und Maria Mies) und sah mit Interesse, dass sie dort für eine (Low-Tech)-Subsistenzproduktion mit ergänzenden Märkten für Überschüsse und Spezialprodukte plädieren.
@Stefan #31:
Was wäre Care denn anderes als die „structured provision of services“? Ich gebe zu, dass der Begriff „service“ und noch mehr die deutsche Übersetzung „Dienstleistung“ meistens mit bezahlten Tätigkeiten verbunden wird, aber das ist ja nicht zwingend so, und gerade bei Dalton wird sehr klar, dass unbezahlte Tätigkeiten explizit eingeschlossen sind und in vielen Fällen historisch sogar vorherrschten. „Märkte spielten nur eine Nebenrolle, der Großteil der Produktion wurde mittels Gegenseitigkeit und Umverteilung organisiert“ schreibe ich dazu, und: „Private Haushalte funktionieren nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit.“
Übrigens sprechen Veronika Bennholdt-Thomsen und Maria Mies („Eine Kuh für Hillary“) von der „Entökonomisierung der Frauenarbeit“ für diese moderne Tendenz, die (meistens von Frauen geleisteten) Care-Aktivitäten nicht als Teil der Ökonomie, der „structured provision of material goods and services“ anzuerkennen. An dieser Stelle bist es aber du, der entökonomisiert.
Nicht nur „zwischen den Zeilen“, sondern hoffentlich auch ganz explizit. U.a. schreibe ich ja, dass „dieser strukturierte Versorgungsprozess […] nur im Kapitalismus die besondere Form einer Vielzahl [von] Unternehmen annimmt“ (die im heutigen umgangssprachlichen Sinne als „die Wirtschaft“ gelten).