Der Commonismus ist kein WG-Plenum (I)

Gesellschaft und Vermittlung

Wenn wir über die freie Gesellschaft sprechen, so treffen wir häufig eine Denkgewohnheit, welche sich meist mit einer (berechtigten) Müdigkeit und Sorge verbindet: Der Commonismus müsse doch wie ein großes Plenum funktionieren oder zumindest voll von diesen Plena sein.

Die zugrunde gelegte Prämisse ist, dass Entscheidungen nur bedürfnisnahe getroffen werden können, wenn die Menschen, welche diese Entscheidung betrifft, an dem Entscheidungsprozess beteiligt sind. Größere Entscheidungen müssen somit eine Unmenge an Menschen unmittelbar einbeziehen. In dieser Denkgewohnheit liegt ein Wahrheitsmoment, aber eben nur als Moment: Bedürfnisnahe Entscheidungen in Konfliktfällen müssen zwischenmenschlich getroffen werden. Die Bedürfnisse müssen unmittelbar und bewusst von Menschen in Beziehung und Bewegung gebracht werden.

Das bedeutet jedoch nicht, dass alle Betroffenen anwesend sein müssen. Dieser ‘Anwesenheitszwang’ – und damit ‘Zwang zur Unmittelbarkeit’ – ist ein Relikt einer Exklusionsgesellschaft, in denen es für andere Menschen subjektiv funktional ist, ihre Bedürfnisse auf Kosten meiner Bedürfnisse durchzusetzen. Dann ist klar: Ich muss anwesend sein, um unmittelbar und direkt meine Bedürfnisse zu schützen und verteidigen. Nicht dabei zu sein, macht Angst, dass sich andere auf meine Kosten durchsetzen. Es ist das Grundgefühl in einer Exklusionsgesellschaft. In einer Inklusionsgesellschaft – warum der Commonismus eine solche ist, können wir hier leider nicht angemessen entwickeln – ist es für Menschen jedoch subjektiv funktional die Bedürfnisse anderer einzubeziehen, um die ihrigen zu befriedigen. Völlig andere Bedingungen.

Ein weiteres Problem, dass uns wohl auch vom Kapitalismus nahegelegt wird, ist die Schwierigkeit Gesellschaft und gesellschaftliche Vermittlung zu begreifen. Denn die kapitalistische Vermittlung stellt sich ‘hinter unserem Rücken’ her, ohne unsere bewusste Gestaltung. Sie ist verselbststständigt. Auf diesen Sachverhalt wollen wir gleich eingehen, nachdem wir etwas allgemeines über Vermittlung gesagt haben.

Was ist Gesellschaft? Was ist gesellschaftliche Vermittlung?

Bevor Menschen in Gesellschaften lebten, lebten sie in interpersonalen, also ausschließlich zwischenmenschlichen Zusammenhängen: Horde, Dorf, Stamm, Sozialverband. Diese interpersonalen Zusammenhänge, Gruppen, sind dadurch gekennzeichnet, dass sich die Menschen direkt-unmittelbar aufeinander beziehen. Sie kennen einander, wissen wer auf Jagd gehen muss und wer Beeren sammelt etc. In der Geschichte nahm die Vernetzung dieser einzelnen Gruppen zu, weil Beziehungen zu anderen Gruppen lebensnotwendig wurden. Ohne die produzierten Mittel anderer Gruppen – z.B. Jagdmethoden, Sprache oder Werkzeuge – war das eigene Überleben nicht mehr stabil möglich. Die Arbeitsteilung/Kooperation überschritt die interpersonalen Grenzen – eine Gruppe produzierte v.a. Werkzeug, die andere v.a. Nahrung, eine andere förderte v.a. Salz, etc. Hier sind die Anfänge von Gesellschaft zu finden. Sie stellt eine Verbindung und Vernetzung von interpersonalen Zusammenhängen her.

Menschen handeln immer in interpersonalen, unmittelbaren Zusammenhängen. Gesellschaft basiert somit auf interpersonalen, unmittelbaren Handlungen. Jedoch überschreitet sie diese gleichzeitig auch. Eine Gesellschaft ist mehr als bloß ein Zusammenschluss interpersonaler Zusammenhänge. Sie hat eine gewisse Selbstständigkeit gegenüber den Menschen und ihren (unmittelbaren) Handlungen. Sie hat eine eigene gesellschaftliche, d.h. transpersonale Struktur. Eine transpersonale Struktur mit einer eigenen Dynamik. Versinnbildlicht: ‘Das (gesellschaftliche) Ganze ist mehr als die Summe seiner (unmittelbaren) Teile’.

Diese transpersonale Struktur wird durch Vermittlung hergestellt. Vermittlung ist vorstellbar als ein Verbindungsnetz, welches alle Menschen einer Gesellschaft in eine bestimmte Beziehung setzt. Sie stellt die transpersonalen Beziehungen zwischen Menschen her. Ein Teil ihrer Qualität liegt schon im Begriff selbst: Ver-Mittlung – die Beziehung zwischen Menschen wird über Mittel hergestellt. Diese Mittel können symbolisch (bspw. ein Text), sozial (bspw. eine spezifische Arbeitsorganisation) oder gegenständlich (bspw. Nahrung) sein. Auch interpersonale Beziehungen sind vermittelt – v.a. durch das symbolische Mittel der Sprache. Und auch in ihnen erhalten Menschen Lebens-Mittel zur Bedürfnisbefriedigung und ReProduktions-Mittel zur Herstellung anderer Mittel. In transpersonalen Beziehungen geht es darum Lebens- und ReProduktionsmittel zu bekommen. Bei diesem Fokus ist jedoch die konkrete Person, welche diese Mittel herstellt, zweitrangig. Es geht nur darum, dass ich die Mittel erhalte, egal wer sie hergestellt hat. Anders in interpersonalen Beziehungen, in denen die konkrete andere Person oder die soziale Beziehung im Zentrum steht. So können wir vielleicht transpersonale Beziehungen als Mittel-Beziehungen und interpersonale Beziehungen als Sozial-Beziehungen begreifen. In einer interpersonalen Beziehung stellt eine Bäckerin Brot für eine konkrete Person, eine konkrete Andere, her. In einer transpersonalen Beziehung stellt eine Bäckerin Brot für eine ihr unbekannte Person, eine allgemeine Andere, her. Beide Beziehungen sind über Brot vermittelt, jedoch einmal steht auf der anderen Seite der Beziehung eine konkrete Person, andernfalls eine unbekannte andere Person.

Wir sehen an diesem Beispiel: Es geht nicht darum, eine Beziehung als interpersonal oder transpersonal festzulegen. Umgekehrt: Es geht eher darum, beide Momente in einer Beziehung aufzuspüren und zu begreifen. Denn in aller Regel besitzen heute alle Beziehungen sowohl interpersonale wie transpersonale Momente. Wenn ich die Bäckerin kenne, die mein Brot herstellt, so ist diese Beziehung mit ihr sowohl interpersonal (ich halte z.B. ein Schwätzchen mit ihr) wie auch transpersonal (sie hat das Brot für eine allgemeine Nutzerin gebacken).

Das gesamtgesellschaftliche Verbindungsnetz der Mittel-Bewegungen ist die Vermittlung. Sie verbindet (meist) unbekannte Personen in einer, heutzutage globalen, Struktur. Gesellschaftliche Vermittlung ist immer gegenüber den unmittelbar handelnden Menschen selbstständig: Sie hängt nicht direkt von ihnen ab. Wenn nicht der Bauer Heinz meine Kartoffeln produziert, wird es wohl Bäuerin Elsa tun oder eine ‘allgemeine Andere’. Im Kapitalismus hat sich die Vermittlung jedoch gegen die Menschen verselbstständigt. Sie hat eine eigene Logik jenseits der Handlungsgründe der Menschen.

Verselbstständigte Vermittlung – unbewusste Gesellschaftlichkeit

Eine Gesellschaft existiert nur durch menschliche Handlungen, im kapitalistischen Fall kaufen, verkaufen, tauschen, lohnarbeiten etc. Diese finden immer interpersonal, unmittelbar statt. Dies gilt für alle Gesellschaften und doch erschöpft sich Gesellschaft nicht in diesen unmittelbaren Handlungen. Im Kapitalismus stellt sich die gesellschaftliche Vermittlung nicht durch direkte, bewusste menschliche Handlungen und Entscheidungen her, sondern als ‘Nebenphänomen’ des verallgemeinerten Tausches. Nur dadurch, dass Menschen tauschen, werden Preise, Märkte, Konkurrenz etc. hergestellt. Diese Phänomene werden nicht bewusst gestaltet, sondern entstehen ‘quasi-automatisch’ ohne bewusste menschliche Absicht. Die Vermittlung wird nicht bewusst, unmittelbar, interpersonal gestaltet, sondern stellt sich als “die Bewegung der Sachen” (Marx), wie von Geisterhand, “hinter dem Rücken der Menschen” her und entzieht sich der Kontrolle durch die Menschen. Dies ist Grundlage von dem, was Marx den Fetischismus nennt und wir als Sachzwänge kennen: die Verselbstständigung der Verhältnisse gegenüber den Menschen. Die Verhältnisse diktieren, wie wir Menschen handeln müssen, um unsere Existenz zu sichern. Marx beschreibt das so: “Ihre eigene gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie eine Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, anstatt sie zu kontrollieren” (Marx, MEW 23). Im Kapitalismus steht die Vermittlung also auf dem Kopf.

Die automatische Vermittlung bedeutet gleichzeitig eine enorme Komplexitätsreduktion: Die Menschen müssen diese Vermittlung nicht bewusst organisieren, sie stellt sich ‘einfach so’, unbewusst her. Konsequenz davon sind jedoch die ganzen unschönen Folgen des Kapitalismus: Verwertungszwang, Leistungsprinzip, Staatlichkeit, etc.

In der Tauschgesellschaft Kapitalismus ist die Vermittlung unbewusst und hat sich gegen die Menschen verselbstständigt. Doch wie sieht sie in einer freien Gesellschaft aus? Darum geht es im nächsten Text.

32 Kommentare

Einen Kommentar hinzufügen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Entdecke mehr von keimform.de

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen