Oya: Wovon wir alle leben
Der Gemeingüter-Virus greift weiter um sich. Die neue Zeitschrift Oya widmet sich in ihrer ersten Ausgabe dem Thema „Allmende, Gemeingüter, Commons – Wovon wir alle leben“. Das auch grafisch sehr ansprechend gestaltete Magazin hat dabei ein umfangreiches und tiefschürfendes Programm zusammengestellt.
Die unermüdliche Silke Helfrich führt in den Schwerpunkt ein und erklärt „Was Gemeingüter sind und wie wir mit ihnen umgehen müssen“ (S. 10ff). Daran anknüpfend stellt der Kassel Wirtschaftswissenschaftler Achim Lerch Elinor Ostroms wesentliche Erkenntnisse vor, die ihr den Wirtschaftsnobelpreis eingebracht haben (S. 22f).
Der Biologe und Philosoph Andreas Weber, der sich immer sehr enthusiastisch für die Commons ausspricht und damit schon bei der Vorstellung von Silkes Gemeingüter-Buch für Begeisterung oder auch (bei Reinhard Bütikofer) für Irritationen sorgte, wirbt dafür, Freiheit und Verbundenheit nicht als Gegensatz zu betrachten (S. 24ff). Seine Erwartungen für die nähere Zukunft sind allerdings pessimistisch. Er geht davon, dass das unerbittliche kapitalistische Wachstum die Erde fast zum Äußersten übernutzen und die Menschheit erst anschließend lernen wird, sich in den verbleibenden „abgenagten Gebeinen der Biosphäre“ einzurichten und mit den noch verbleibenden Resten respektvoller umzugehen. In Anbetracht der derzeitigen Entwicklungen sicher kein ganz unplausibles Szenario, aber hoffen wir, dass sich die Prinzipien der „Gemeinen Peer-Produktion“ durchsetzen, bevor es eigentlich schon zu spät ist…
Optimistischer ist der Artikel „Copyleft“ der Oya-Chefredakteurin Lara Mallien (S. 31ff). Ausgehend von der Freien Software und dem Copyleft-Prinzip zieht sie den Bogen zur Keimform-These und zur Peer-Ökonomie. Dabei sieht sie Ähnlichkeiten zwischen der Peer-Ökonomie und der „Ökonomie der Gabe“ matriarchalischer Kulturen, wie sie Heide Göttner-Abendroth und Genevieve Vaughan beschrieben haben.
Ein weiteres Highlight ist eine Diskussionsrunde zwischen Stefan Meretz, Silke Helfrich, Julio Lambing vom durchaus wirtschaftsnahen European Business Council for Sustainable Energy sowie dem Oya-Herausgeber Johannes Heimrath (S. 58ff). Das Gespräch zum Thema „Lasst uns die Spielregeln ändern“ gibt es auf der Oya-Homepage auch als Video in einer deutlich längeren Fassung als im Heft abgedruckt werden konnte.
Außerhalb des Schwerpunkts, aber ebenfalls sehr passend, ist der Artikel „Anders lernen“ von Anke Caspar-Jürgens (S. 64ff). In dem Text geht es um Lern- und Lehrformen, die Kinder nicht bevormunden, wie sie auch bei Keimform unter Stichworten wie „Nicht-Erziehung“ diskutiert werden. Lernen ist keine isolierte Aktivität, die unabhängig von den gesellschaftlichen Verhältnissen vor sich geht – „anders lernen“ setzt letztlich eine „andere Gesellschaft“ voraus. Konsequenterweise kommt auch in diesem Artikel die Peer-Ökonomie zur Sprache als eine Gesellschaft, in der man die Dinge „tut, weil man [sie] gerne tut“.
Das ist noch längst nicht alles, der Commons-Schwerpunkt umfasst noch viele andere Artikel, unter anderem ein Interview mit der alternativen Nobelpreisträgerin Vandana Shiva (S. 52f) sowie eine weitere Gesprächsrunde mit vier Mitgliedern verschiedener „intentionaler Gemeinschaften“ (wie der Kommune Niederkaufungen, S. 16ff).
Insgesamt wirkt das Heft, vor allem außerhalb des Commons-Schwerpunkts, ein bisschen esoterisch angehaucht, jedoch nicht so dass es stören würde. Sehr erfreulich ist, dass alle Artikel unter der Creative Commons-ShareAlike-Lizenz stehen und (jedenfalls zum großen Teil?) auf der Oya-Website als PDF-Dateien verfügbar sind.
Auf der Oya-Homepage kann man die Zeitschrift abonnieren oder sich erstmal die erste Ausgabe als kostenloses Probeheft bestellen. Auch die künftigen Ausgaben versprechen interessant zu werden, so soll es im dritten Heft um „Wirtschaft radikal anders denken“ gehen.
Was mich mal interessieren würde. Gibt es eigentlich auch Zeitschriften, die sich kritisch spezielle mit Esoterik auseinandersetzen? Ich hab den Eindruck, dass immer mehr ehemalige GenossInnen inzwischen auf die Esoiteriksoße umgeschwenkt haben. Und da muss es doch auch was kritisches zu geben. Zu Waldorf, Wurzelrassen, Neuheidentum, New Age und all dem ganzen Schrott!
Hallo Michel,
in der Zeitschrift „Skeptiker“ werden Esoterik und Grenzwissenschaften kritisch diskutiert. Ich kann diese Zeitschrift allerdings nur eingeschränkt empfehlen, denn der dort überwiegend anzutreffende Materialismus schüttet leicht das Kind mit dem Bade aus. Ich denke, wir sollten uns vor jeglichem Fundamentalismus hüten, auch vor dem vorgeblich „wissenschaftlichen“.
Aber ich habe einen Buchtipp: „Schwarze Sonne“ von Rüdiger Sünner. Letzten Herbst haben wir dieses wichtige Buch in unserem Verlag neu aufgelegt (www.drachenverlag.de). Die kritische Auseinandersetzung mit Esoterik gehört zu unseren Themen, deshalb publizieren wir auch entsprechende Titel. Rüdiger Sünner setzt sich hier mit dem Missbrauch der Mythen im Nationalsozialismus auseinander. Er zeigt, wie sich das unsägliche Gedankengut vom erleuchteten Herrenmenschen oft unreflektiert in die moderne Esoterik hineinzieht oder auch ganz bewusst ins rechte Neuheidentum. Das Buch hilft, Spreu von Weizen zu unterscheiden.
Und Hallo Christian, vielen Dank für die ausführliche Besprechung der neuen Oya! Darüber freue ich mich als Zeitungsmacherin natürlich sehr. Was ist dir denn in Oya als „esoterisch“ aufgefallen? Das würde mich interessieren.
Unsere Vorgänger-Zeitschrift KursKontakte hatte historisch bedingt Anzeigen aus der Eso-Szene. Ein Grund für die Gründung von Oya war unter anderen, dass wir aus diesem thematischen Umfeld aussteigen wollten, weil wir selber keine Esoteriker sind.
Ich persönlich interessiere mich für alle Kulturimpulse, die nicht Profitdenken oder Machtstreben in den Mittelpunkt stellen, sondern Werte wie Solidarität, Freiheit, Selbstbestimmung, Ökologie oder auch so einfache Dinge wie Verbundenheit und Freundschaft. Deshalb wird Oya in ziemlich unterschiedlichen Szenen nach solchen Impulsen suchen, wir haben da keinerlei Berührungsängste. Ich mache genauso gerne ein Interview mit einem Anarchisten, der vielleicht eine eher materialistische Weltsicht hat, wie mit einem Philosophen, der sich auch erlaubt, über Spiritualität nachzudenken. Mich interessiert, wie die Leute die Welt als Ganze sehen, und so geht es in Oya selbstverständlich auch mal um spirituelle Fragen.
Ich freu mich auf den weiteren Austausch!
Herzliche Grüße,
Lara
@Michael: Die deutsche Publikationslandschaft ist voll mit kritischen Publikationen zu den von dir genannten Themen, auch in Zeitschriften. Dass du das nicht kennst ist okay, aber es wäre ein Zeichen von Respekt, Differenziertheit und Informiertheit,wenn Du Neuheiden nicht pauschal als Schrott beschimpfen und in einem Atemzug mit rassistischen theosophischen Konzepten nennen würdest. Ganz so wie es es ein Zeichen von Respekt, Differenziertheit und Informiertheit ist, den Islam nicht mit den Theorien der Muslimbruderschaft gleichzusetzen oder das Christentum nicht einem Atemzug mit Kreationismus oder Dominion Theology zu nennen.
@Lara:
Ist die Frage nötig, wo du schon im Editorial die Sturmgöttin des Yuruba-Volks als Namensgeberin der Zeitschrift nennst?
Dann gibt’s Anzeigen und Medientipps zur Anthroposophie; Anzeigen zu schamanischen Ritualen, zu spirituellen Netzwerken und zum Pendeln; Anzeigen und Inhalte zur Goddess.
Zwei der vier Teilnehmer der Diskussion auf S. 16ff kommen aus explizit spirituell ausgerichteten Gemeinschaften. Es gibt Veranstaltungshinweise zur „keltischen Ostara-Feier“, zum „Stamm der Likatier“ und zum „nächsten Buddha“. Und im Terminkalender geht’s um Bachblüten, „MerKaBa-Lichtkörper“, Feng Shui (heute auch bei Dilbert) und „holotropes Atmen“.
Genug?
@Lara
Vielen Dank für die Lesetipps! Hab ich jetzt erst gesehen und werde bestimmt ans Schmökern gehen … 🙂
@ Christian
Die Frage war für mich insofern interessant, weil mir klar ist, dass einem in Oya dieses oder jenes als esoterisch auffallen kann, und da interessiert mich, was dir als erstes ins Auge gesprungen ist.
Ich bin beruhigt, dass es in erster Linie Anzeigen sind. Die kommen aus unserem historisch bedingten Umfeld und werden sich angesichts nicht-esoterischer Inhalte vermutlich von selbst reduzieren. Ablehnen kann man Anzeigen ja nicht so ohne weiteres …
Zwei Einwände: Anthroposophie = Esoterik? Das würde ich nicht gleichsetzen. Dann wäre die größte ethisch-ökologische Bank in Deutschland Esoterik. Aber das ist ein weites Diskussionsfeld, darüber können wir, wenn wir Lust haben, in Klein Jasedow weiterreden.
Und: Die Yoruba-Göttin Oya – was hat das mit Esoterik zu tun? Sie ist Teil einer nicht-europäischen Kultur, die unsere Achtung verdient. Wir haben ja hierzulande aller Aufgeklärtheit zum Trotz auch so verschiedene Götter wie den Gott der objektiven Wissenschaftlichkeit, der freien Marktwirtschaft, der hier auf Keimform so erfrischend in Frage gestellt wird, den Gott der Mechanik und der Ratio, den christlichen, muslimischen und jüdischen Gott usw. – das alles würden wir nicht als Esoterik bezeichnen (wenn wir Esoterik mal korrekterweise als Geheimlehre definieren). Andere Kulturen haben ein anders Pantheon. Das als Esoterik zu bezeichnen, finde ich fast ein bisschen chauvinistisch. Ob wir es wollen oder nicht, haben wir doch alle den westlichen Kulturimperialismus in den Knochen und müssen meiner Meinung nach gut aufpassen, wo er überall zum Vorschein kommt. Mich interessiert die Yoruba-Göttin jedenfalls aus kulturanthropologischen und nicht aus esoterischen Gründen.
🙂
Lara
Zur Esoterik würde ich u.a. die Zuwendung zu Göttern/Religionen/religiösen Praktiken rechnen, die nicht aus dem eigenen Kulturkreis kommen. Für die Yoruba ist ihre Göttin natürlich nicht esoterisch, für uns (Mitteleuropäer) schon.
Und im Übrigen würde ich auch nicht auf die Idee kommen, zu behaupten, dass Religion (egal welche) in irgendeiner Weise besser sei als Esoterik 😉
Na, ich würde da doch unterscheiden. Persönlich finde ich Esoterik ziemlich überflüssig. Religion brauche ich persönlich auch nicht, aber Religion scheint für alle menschlichen Kulturen weltweit offenbar etwas Wichtiges zu sein, deshalb interessiert mich Religion als kulturelles Phänomen. Esoterik ist dagegen eher eine marginale und typisch westeuropäische Mode-Erscheinung. Vielleicht machen wir mal eine Oya-Ausgabe über das Feld zwischen Aufklärung, Humanismus, Spiritualität, Ideologie, Atheismus und Esoterik, das wäre spannend. Man kann sich ja mit all diesen Dingen auseinandersetzen, ohne selbst religiös oder esoterisch interessiert und damit in irgendeiner Weise „parteiisch“ zu sein.
Das klingt für mich sehr nach „es muss doch etwas dran sein, wenn es so weit verbreitet ist“. Es stimmt: Religionen spielen in vielen Kulturen eine wichtige Rolle. Der Kulturalismus sieht darin einen Hinweis auf einen „Eigenwert“ der Religionen: sie seien zwar nicht im wissenschaftlichen Sinn wahr, aber dennoch wertvoll. Es gibt ganze Denktraditionen, die aus dem allgemeinen Vorhanden- und Anerkanntsein einer Weltanschauung, kulturellen Praxis o.ä. ihre Relevanz ableiten. So ist für Gadamer Tradition die höchste Autorität, weil sowieso alles der Geschichte unterworfen ist. In diesem Zusammenhang rechtfertigt Gadamer auch (gegen die Aufklärung) Vorurteile als richtig und notwendig, ein Grundgedanke der Postmoderne (die sich reichlich bei Heidegger, Gadamers Nazi-Lehrer, bediente), der auch hier auf keimform schon aufgetaucht ist.
Man kann sich mit der Bedeutung religiöser Mythen auch »materialistisch« auseinandersetzen, vgl. http://wadk.de/stichwort/afrika/
diskusionsteilnehmer aus dem stamm der likatier??
hm…. das wäre das erste mal, dass ich mitbekomme, dass in den lükatischen reihen menschen leben, die „meinungen austauschen können“ – bislang erlebe ich lükatier eher als dogmenreiter ihres gottgurus wolfgang wankmillers und seiner rechtskräftig verurteilten finanzchefin ulrike driendl-piepenburg.
aber ich lasse mich gerne eines besseren belehren. – könnte ich einen link zur diskusion bekommen?
@feenherz: worauf beziehst du dich? Ich weiß zwar nicht, wer Likatier sind, aber soviel ich sehe war von einer Diskussion mit ihnen nirgendwo die Rede.
Christian Siefkes (11.03.2010, 21:45 Uhr)
@Lara:
Ist die Frage nötig, wo du schon im Editorial die Sturmgöttin des Yuruba-Volks als Namensgeberin der Zeitschrift nennst?
Dann gibt’s Anzeigen und Medientipps zur Anthroposophie; Anzeigen zu schamanischen Ritualen, zu spirituellen Netzwerken und zum Pendeln; Anzeigen und Inhalte zur Goddess.
Zwei der vier Teilnehmer der Diskussion auf S. 16ff kommen aus explizit spirituell ausgerichteten Gemeinschaften. Es gibt Veranstaltungshinweise zur „keltischen Ostara-Feier“, zum „Stamm der Likatier“ und zum „nächsten Buddha“. Und im Terminkalender geht’s um Bachblüten, „MerKaBa-Lichtkörper“, Feng Shui (heute auch bei Dilbert) und „holotropes Atmen“.
Genug?
am 07. märz lief auf bayern 3 ein kurzer beitrag über den freitod von myriam h. , der leiterin des kinderdienstes und führungsmitglied des inneren zirkels der likatier.
auch ein mitglied der sektenähnlichen lebensgemeinschaft sowie eine aussteigerin berichteten über die manipulativen strukturen der likatier.
ich selber glaubte auch einmal, dass hier eine segensreiche alternative zu unserer bestehenden gesellschaftsordnung entstanden ist. – leider fehlanzeige!… zumindest, soweit ich es selber erleben musste.
daher rührt auch meine skepsis, wenn es um diese gemeinschaft geht. – vor allem kenne ich deren manipulative vorgehensweise sehr gut und habe mehrmals miterlebt, wie sie alternativen publikationen sand in die augen streuten. (siehe auch kent-depesche vom 29. januar 2009)
lieben gruss
harald
@ Stefan, danke für den Afrika-Filmtipp. In einer Besprechung steht: „So sieht er anarchische und autonomistische Elemente in religiösen Mythen und Kulten vermittelt, deren säkulares Fortwirken er in sozialen Bewegungen nicht nur Afrikas, sondern auch Lateinamerikas bestätigt findet. Seiner besonderen Lesart ist es zu verdanken, dass wir sowohl Kolonialismus und Repression, als auch Aufklärung und Emanzipation nicht als einseitig europäischen Import begreifen müssen.“
Solche Art der Auseinandersetzung mit anderen Kulturen und ihren Mythen finde ich spannend, lohnend und wichtig, das muss eben gar nicht „esoterisch“ sein, sondern man kann es aus sozialem, politischen und anthropologischem Interesse heraus tun.
@feenherz: Die Diskussion hat aber ja mit den Veranstaltungshinweisen nichts zu tun. Das Gespräch, auf das ich mich beziehe, heißt „Lernfeld Allmende: Vom Geben und Nehmen“ und ist hier als PDF verfügbar. Eine der Teilnehmer/innen kommt aus dem „Lebensgarten Steyerberg“, ein anderer vom „Parimal Gut Hübenthal“.
@ Lara: „Andere Kulturen haben ein anders Pantheon. Das als Esoterik zu bezeichnen, finde ich fast ein bisschen chauvinistisch.“
Schön gesagt!
Communities (über die hier immer viel geredet wird) sind eben auch solche, die sich über die Verehrung einer bestimmten Gottheit, über Grundüberszeugungen die wir nicht teilen (nicht empfinden können) zusammenfinden. Kritik an Religion in allen Ehren, solang damit institutionelle Kritik gemeint ist. Die kann nie schaden. Aber dieser Unterton, dass Glauben und Religion (als Institution) dasselbe sei, irritiert mich.
Ich als Atheistin und Materialistin empfinde jedenfalls, dass mir in meinem Wahrnehmungsbereich eine ganze Dimension fehlt. Verbundenheit (immerhin ein Zentralbegriff der Commonsdebatte) stellt sich doch nicht nur analytisch her. Vielleicht sogar erst zu allerletzt analytisch.
Ansonsten weiss ich aus vielen Ländern Lateinamerikas, aus den afrobrasilianischen und afrokubanischen Kulten, wie widerständig diese „Geheimkulte“ sein können. Es kommt eben immer auch auf den Kontext an.
@ christian
danke für den link und das interessante gespräch!
aufgrund der aktuellen ereignisse im stamm der likatier und der umstände in füssen nach dem film scheine ich wohl recht sensibel zu sein.
Gegenfrage: Für die Yoruba ist dann die Verehrung von Jahwe esoterisch? Das Interessante ist, dass westliche Religions- und Esoterikkritiker sehr oft diffuse und implizite ahistorische kulturelle Reinheitskonzepte verfolgen (die „originäre Religion“ etc.), die an völkischem Denken haarscharf vorbeischrammen.
(Ebenso wie sie selten die Brille der christlichen Kolonialethnologie abgelegt haben, aus der sich auch ihr rationales Überlegenheitsgefühl bei der Enttarnung von „religiösem Humbug“speisst. Das wird dann rückübertragen auf neue religiöse und weltanschauliche Bewegungen und Subkulturen im Kerngebiet der Zivilisation.)
Interessant ist ansonsten wie der User „Martin“ flugs den Bogen schlägt von der Haltung, dass Religionen einen Wert haben können, zu der Erwähnung eines philosphischen Nazi-Lehrers. Nicht dass solche Brandmarkung neu ist: Esoterikkritik, die der Versuchung widersteht, die eigene kulturelle Bekehrungslibido als Mission gegen Abhängigkeit und Tyrannei zu rationalisieren, ist hierzulande immer noch selten zu finden.
Und wenn wir gerade bei Vorurteilen sind: Diese – und ebenso Stereotypen, Brandmarkungen, Klischees – sind gerade bei der mitteleuropäischen Auseinandersetzung mit esoterischen, okkulten, religiösen, animistischen Traditionen und Kulturen Legion. Das gilt aber als schick. Man klopft sich auf die Schulter und gefällt sich in dem Habitus.
@Neuheide:
Gute Frage. Wohl nicht, da einige Religionen heute einen so weit verbreiteten Anhänger/innenkreis haben, dass sie keinem bestimmten Kulturkreis mehr zugeordnet werden können (auch wenn sie natürlich historisch aus einem bestimmten Kulturkreis kommen); das gilt z.B. für Christentum und Islam und daher wohl auch für deren Ursprungsreligion, das Judentum (ohne das Christentum und Islam nicht denkbar wären). Das liegt natürlich an der aggressiven Missionierung letzterer beider Religionen und ist kein Qualitätsmerkmal.
Allerdings würde ich bei genauerer Betrachtung sagen, dass neben dem „eigenen Kulturkreis“ auch noch eine „lebendige, nicht-abgerissene Tradition“ hinzukommen muss. Wenn z.B. „Neuheiden“ alte germanische Gottheiten wie Wodan wiederbeleben wollen, ist das ebenfalls esoterisch, obwohl es sich dabei um den eigenen Kulturkreis handelt.
Und wie gesagt, geht’s mir dabei um eine rein deskriptive, wertfreie Unterscheidung. Anders als Lara würde ich Esoterik keineswegs für was Schlechteres als Religion halten. Tatsächlich haben esoterische, z.B. „neuheidnische“ Ansätze ja nicht selten deutlich sympathischere Wertvorstellungen als die traditionellen Religionen.
(Und übrigens hat ja auch Martin sich ganz allgemein religionskritisch geäußert und nicht speziell „Esoterikkritik“ betrieben.)
@ Silke
Kurz erstmal zur „Materialistin“. In deinen Texten und auch sonst hier auf Keimform lese ich eigentlich wenig Materialistisches, das passt hier alles eher in die Kategorie „postmateriell“. Keine Sorge, das hat durchaus mit „materiell“ etwas zu tun, so wie „postmodern“ mit „modern“. Postmaterielle sind z.B. kritische Intellektuelle mit hohem Bewusstsein für soziale Gerechtigkeit (Wir) und dem Wunsch nach Selbstverwirklichung (Ich). Also der „weiche Wert“ der sozialen Gerechtigkeit gilt ihnen mehr als die harte Währung, in der Materialisten in der Regel denken. Eigentlich mag ich solche Milieu-Klassifizierungen nicht, aber wenn du dich schon selbst einordnest, schlage ich vor, mal das Raster zu wechseln 🙂
„Verbundenheit stellt sich nicht nur analytisch her“. Der ganze linkspolitische Diskurs ebenso wie die Commons-Debatte wird analytisch-rational geführt. Das ist auch gut so. Und wenn alles sauber und konsequent zuende gedacht wird, führt einen die Logik schließlich an den Zentralbegriff „Verbundenheit“, an das „Wir“. Da sagt einem irgendwie ein Bauchgefühl „jetzt ist Schluss mit analytisch“, und da wird es erst richtig spannend. Trotzdem analysiere ich mal weiter.
Wie entsteht in Menschen die Fähigkeit, sich verbunden zu fühlen, oder anders gesagt, die Fähigkeit zu Empathie als Grundlage für alles Sozialverhalten? Sie entsteht in der Bindung des Säuglings an die Mutter. Wenn du einen Säugling anschaust, und er dich auch, wenn du ein Kind anlachst, und es lacht zurück – was ist das dann?
Das ist doch das, wovon die Menschen leben.
Ein Kind, das man von Geburt an keines Blickes würdigt, stirbt.
Ich wette, du kannst dieses Gefühl, das entsteht, wenn ein Baby deinen Blick erwidert und dich anlacht, in dir „abrufen“. Du kannst nachfühlen, was das für eine Qualität ist. Dafür fehlt dir keine Dimension in deinem Wahrnehmungsbereich.
Mehr als diese Qualität braucht es doch gar nicht. Das ist etwas ganz Einfaches, sogar Angeborenes. Die entscheidende humanistische Kulturleistung ist meiner Meinung nach dann, diese Qualität nicht zu verniedlichen, zu vergessen und zu marginalisieren, weil sich damit kein Geld verdienen oder keine Schlacht gewinnen lässt, sondern sie auf Rang 1 gegenüber allen anderen menschlichen Trieben wie Gier oder Machtstreben zu setzen. Und zu verstehen, dass diese Qualität der Ausgangspunkt für Freiheit ist. Ein sicher gebundenes Kind mit gesundem Urvertrauen rennt ohne Angst in die Freiheit. Damit hast du die beiden Pole, zwischen denen die Commons-Debatte schwingt, nämlich Selbstorganisation/Selbstbestimmung und Gemeinschaft/Verbundenheit/Beziehungsfähigkeit.
Für den einen Pol, den Pol der Selbstbestimmung und Freiheit, haben wir jede Menge Vokabeln und können uns bestens darüber unterhalten, haben die Legitimation der Aufklärung im Hintergrund. Bei dem anderen Pol bekommen wir Beklemmungen. Gemeinschaft – das klingt nach Lagerfeuer oder gar nach Esoterik wenn nicht nach Sekte. Verbundenheit klingt nach Romantik und Kitsch. Pfui.
Wir brauchen aber beide Pole, sonst kommen wir nicht weiter, und wir müssen doch auch im politischen Diskurs beides zur Sprache bringen können. Wie das gelingen kann, wie man hier eine Brücken bauende Sprache finden und Wörter ent-tabuisieren kann, finde ich einen lohnenswerte Forschungsaufgabe.