Rezension »Google-Komplex«

(Rezension erschienen in: »Das Argument«, Nr. 291/2011)

Röhle, Theo, Der Google-Komplex. Über Macht im Zeitalter des Internets, transcript,
Bielefeld 2010 (261 S., br., 24,80 €)

Während in bekannten Dystopien wie Orwells 1984 der Staat als allmächtiger Moloch über die isolierten Individuen herrscht, hat sich diese Funktion im neoliberalisierten Kapitalismus eine private Firma gesichert: Google. Doch statt Dämonisierung ist kühle Analyse angebracht, denn »Macht im Zeitalter des Internets« sei nicht mit unidirektionalen Top-Down-Konzepten zu begreifen, sondern als Gouvernementalität statt als Souveränität, mit Foucault statt mit Hobbes, lautet Röhles argumentative Leitlinie. Macht wird verstanden als Netzwerk, in dem unterschiedliche Akteure die Machtrelationen produzieren und reproduzieren. In der von Michel Callon und Bruno Latour seit Mitte der 1980er Jahre vorangetriebenen »Akteur-Netzwerk-Theorie«, die Verf. affirmativ referiert, werde die »Unterscheidung zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren aufgegeben« (65). Auch Technik sei »Akteur«. Die Handlungsmacht werde durch »Interaktion von Akteuren hervorgebracht und nicht auf Intentionen zurückgeführt« (ebd.), und eine »Makroebene, die der Mikroebene Strukturen und Rahmen« vorgebe, werde »zugunsten einer symmetrischen Beschreibung von Relationen aufgegeben« (67). Schlüsselbegriff ist der der »Verhandlungen« der techno-sozialen Akteure im Netzwerk.

Innerhalb des Netzwerks identifiziert Verf. vier »Akteursverbünde«, die sich durch ein gemeinsames »gerichtetes Handlungsprogramm« (80) auszeichneten: Google, Inhalteanbieter, Suchmaschinenoptimierung (SEO) und Nutzer/innen. Während Google das Interesse hat, durch möglichst rasch gelieferte und zielgenau selektierte Informationen möglichst viele Nutzende an sich zu binden – was sich mit einem komplementären Interesse der Nutzenden trifft –, streben kommerzielle Inhalteanbieter und SEO danach, die Suchergebnisse zu ihren Gunsten zu manipulieren. Google versucht, dem mit entsprechenden Maßnahmen zu begegnen, um den Charakter eines neutralen Vermittlers zu bewahren. Im Hintergrund steht das kommerzielle Eigeninteresse Googles, eine attraktive Plattform für Werbeinhalte zu bieten. Statt per SEO auf die Suchresultate Einfluss zu nehmen, bietet Google eine Reihe von Werbeoptimierungsmaßnahmen an, um zielgenau das gewünschte Produktpublikum zu erreichen. Zu diesem Zweck muss Google wiederum möglichst viele und genaue Daten seiner Nutzerinnen und Nutzer erheben.

Detailliert wird beschrieben, wie Google die Daten des WWW erfasst und für die Suche aufbereitet (»crawling«, »parsing«, »indexing«, »ranking«) und wie die Nutzerregistierung erfolgt (»tracking«, »targeting«, »controlling«), wobei sich die Datenerfassung auf registrierte, aber auch auf nicht-registrierte Nutzer bezieht. Nach einem anfangs unklaren Geschäftsmodell entwickelte sich Google ab 2000 von einer Suchmaschine zu einem Werbevermarkter und wurde mit »AdWords« und »AdSense« zum wichtigsten Anbieter kontextueller Werbung. Durch Firmenübernahmen wurde die Angebotspalette schließlich in allen Bereichen der Online-Werbung komplettiert. Inzwischen gehen 97% der Umsätze auf das Anzeigengeschäft zurück. Damit trat die Suchdienstleistung zunehmend hinter die Werbevermarktung zurück. Ziel sei es, der Werbeindustrie »die Umwandlung von Nutzern zu Konsumenten durch die möglichst exakte Zuordnung von Werbebotschaften« (187) anzubieten. Ein Seiteneffekt der genauen Aufzeichnung des Nutzerverhaltens ist ein attraktiver Datenpool für den Zugriff staatlicher Instanzen, denen Google die Kooperation zugesichert hat.

Insgesamt bleibt unklar, was eine »Dezentrierung der Machtanalyse« jenseits der vom Verf. als unzureichend bewerteten »herkömmlichen technik- oder sozialdeterministischen Zugänge« (234f) an neuen Erkenntnissen bringt. Die Stärke des Buches liegt in der detaillierten Beschreibung der technischen Mikromechanismen zur umfassenden Kontrolle der Benutzer zum Zweck der Profitrealisierung. Die spiegelbildliche Schwäche liegt im fast völligen Verzicht auf Untersuchung der ökonomischen Logik der Google-Aktivitäten, die es nahelegt, Roberto Verzolas 1997 ausgearbeiteten Begriff der »Informationsrente« als einer spezifischen Form der Mehrwertaneignung zu nutzen (vgl. den Eintrag im HKWM 6/II).

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