Die neue Erzählung des 21. Jahrhunderts

Der Text entspricht inhaltlich einer englischsprachigen Rede, die die Autorin am 29.09.2009 zur Eröffnung des World Commons Forum in Salzburg gehalten hat. Erstabdruck in deutscher Fassung.

Gemeingüter? Was bitte?

Ein Schiff kreuzt von Hafen zu Hafen. Auf dem Oberdeck stehen Liegestühle, jedoch erheblich weniger als Passagiere. Während der ersten Tage der Kreuzfahrt wechseln die Stühle ständig ihre „Besitzer“. Sobald jemand aufsteht, gilt der Liegestuhl als frei; Badetücher oder sonstige Belegsymbole werden nicht erkannt. Die Regel ist einfach und der Situation angemessen: Freie Nutzung – für begrenzte Zeit! Auf diese Weise werden die wenigen Liegestühle nicht knapp.

Das entspricht einem Grundsatz gemeingüterorientierten Wirtschaftens und Lebens: Gebrauch? Ja! Missbrauch? Nein! Missbrauch meint hier sowohl Übernutzung als auch künstliche Verknappung.

Später kommen neue Passagiere an Bord. Die bis dahin gültige Ordnung bricht zusammen, denn Neuankömmlinge halten die Stühle füreinander frei und somit dauerhaft besetzt. Wer „nicht dazugehört“ hat das Nachsehen. So entstehen Konflikte um knapp gewordene Ressourcen (Liegeplätze) und die Reisequalität ist fortan für die meisten Gäste deutlich schlechter als zu Beginn der Fahrt. (basierend auf: H. Popitz, Phänomene der Macht)

Die Parabel verweist auf jene elementare Funktion der Gemeingüter, die oft im Verborgenen bleibt: Gemeingüter sind „ein gut gehütetes Geheimnis unseres Wohlstands“, sagt der Soziologe und Umweltexperte Wolfgang Sachs. Und die Alternative Nobelpreisträgerin Vandana Shiva setzt diese Funktion ins Bild: „Commons sind das Netz des Lebens“.

Wenn wir über Gemeingüter reden, reden wir über unsere Lebensqualität und Zukunft. Doch obwohl sie überall sind – im natürlichen, sozialen, kulturellen und digitalen Umfeld –, bleiben Gemeingüter oft unsichtbar. In der deutschen Sprache haben wir nicht einmal einen starken Begriff dafür. So wirkt selbst das hier verwendete „Gemeingüter“ sperrig, denn wie die Kreuzfahrgeschichte illustriert, geht es nicht um die Ressourcen an sich, sondern um eine besondere Form des Umgangs mit ihnen sowie um die Sozialbeziehungen die daraus entstehen.

Gemeingüter verschwinden erst aus der Erinnerung und dann aus der Realität. Das kann Ergebnis der Macht der Ellenbogen (wie in der Geschichte unserer Kreuzfahrt), der Macht des Geldes (also des Marktes) oder der Anordnung des Kapitäns (also des Staates) sein. Im Ergebnis erodieren die Gemeingüter, und die eigentliche „Tragik der Allmende“ (s.S. 1) besteht im Grunde darin – im Gegensatz zu Hardins These –, dass wir uns ihrer erst besinnen, wenn sie im Verschwinden begriffen sind.

Ich werde oft gefragt, was genau Gemeingüter sind. Wir sind es gewohnt, die Komplexität der Dinge so lange zu zerlegen, bis wir sie vorgeblich objektiv definieren können. Doch eine „wissenschaftliche Definition der Gemeingüter“ wird es kaum geben.

Zu den bahnbrechenden theoretischen Arbeiten über das Thema gehören jene der Politologin Elinor Ostrom, die im Oktober 2009 mit dem Wirtschaftsnobelpreis geehrt wurde – für etwas, was man mit Fug und Recht als „Lebenswerk“ bezeichnen kann. Ostrom und Kollegen betonen, dass es weder einen „Masterplan“ für die governance of the commons noch eine einzige, allgemeingültige Definition der „Gemeingüter“ gibt. Vielmehr entsteht jedes Gemeingut unter einzigartigen historischen Bedingungen, geprägt von der lokalen Kultur, von ökonomischen und ökologischen Gegebenheiten sowie vielen weiteren Faktoren.

Doch selbst ohne auf eine griffige, universelle Definition zurückzugreifen, können wir die Frage stellen, was alle commons gemeinsam haben. Die Antwort legt frei, was die Verteidigung der biologischen Vielfalt mit dem Kampf für freie Soft-und Hardware gemein hat. Sie zeigt, dass die Auseinandersetzung um Zugang zu Wissen und Kultur in ihrem Kern die gleiche Auseinandersetzung ist, die auch um den Zugang zu Wasser oder gegen den Klimawandel geführt wird. Kurz: Die Idee der Gemeingüter ermöglicht, wieder zusammen zu denken, was zusammen gehört.

Bausteine einer Gemeingüterarchitektur

Zunächst: Alle Gemeingüter – egal ob in der natürlichen, sozialen oder kulturellen Umgebung – sind für uns wesentlich:

„Natürliche Gemeingüter sind notwendig für unser Überleben, soziale Gemeingüter sichern den Zusammenhalt und kulturelle Gemeingüter sind Bedingung für unsere individuelle Entfaltung.“ (aus: Manifest „Gemeingüter stärken. Jetzt!“, http://o.ly/tdD [PDF])

Zudem haben Gemeingüter eine Architektur, die Rede ist demnach von Systemen, in denen mehrere Komponenten miteinander interagieren. Natürlich unterscheiden sich die architektonischen Formen maßgeblich voneinander, je nachdem, welches Ressourcensystem man betrachtet. Doch alle basieren auf drei Grundbausteinen: den Baustoffen, den Baumeistern sowie den Regeln und Normen, die es ermöglichen, alles zusammenzufügen.

Der erste Baustein erschließt sich intuitiv. Die Frage: „Was sind Gemeingüter?“ wird üblicherweise so beantwortet: die biologische Vielfalt, das Wasser, der Boden, der genetische sowie der Softwarecode, Algorithmen und kulturelle Techniken wie Lesen und Schreiben, mit denen wir Neues produzieren. Auch das Wissen, welches wir brauchen, um eine Diagnose zu stellen oder zu heilen. Die Noten und das elektromagnetische Spektrum durch die wir Musik und Informationen übermitteln. Ebenso die Zeit, über die wir verfügen. Die Spielregeln und die Stille sowie der unermessliche Schatz, der von Millionen Menschen in der Wikipedia zusammengetragen wurde. Und natürlich: die Atmosphäre, genauer: die Kapazität der Atmosphäre zur Aufnahme von Emissionen. All das sind „Gemeinressourcen“ oder „Allmendressourcen“ (engl. common pool resources). Jeder Mensch hat das gleiche Recht auf Nutzung dieser Ressourcen. Gemeinressourcen bilden den ersten Baustein einer Gemeingüterarchitektur.

Der zweite Baustein liegt weniger auf der Hand, bedienen wir uns deshalb einer Illustration.

In vielen Gegenden Bostons (MA, USA) gibt es ein Winterritual. Sobald der erste Schnee fällt, werden Kisten, Mülltonnen und Stühle nach draußen getragen. Alle möglichen Stühle sollen „schützen“, was einige Bewohner als „ihr“ Stück Straße betrachten. Aber wie kann ein Stück öffentliche Straße in dieser Weise belegt werden? Und warum sagt ausgerechnet die bereits zitierte Elinor Ostrom, eben dies „sei ein Commons“?

Es geht um die Akteure, um die Subjekte des Hausbaus. Noch präziser: Es geht um das gemeinsame Verständnis, welches diese Akteure (eine spezifische Gruppe von Menschen) vom Umgang mit einer gemeinsam zu nutzenden Ressource haben.

In vielen, wenngleich nicht in allen Vierteln Bostons besteht dieses Verständnis darin, dass wer immer einen Parkplatz vom Schnee freischaufelt, berechtigt ist, dort zu parken bis der Schnee schmilzt. Mit den Stühlen signalisieren die Bewohner ihr Nutzungsrecht des vom Schnee befreiten Parkplatzes. Auch hier begegnen wir – wie auf dem Kreuzfahrtschiff – einer einfachen Lösung: Gewährung vorübergehender Nutzungsrechte statt schranken- und zeitlose Verfügung. Mit anderen Worten, zeitlich befristeter Besitz ist nicht dasselbe wie die unbefristete Beanspruchung exklusiver Eigentumsrechte. Jeder kann Gemeingüter „in Besitz nehmen“ (gebrauchen), solange er sie anderen – auch künftigen Generationen – nicht nimmt. Es geht in der Gemeingüterdebatte also nicht um das Wasser oder den Code an sich, es geht vielmehr um die Entscheidungen, die wir bezüglich des Umgangs mit diesen Ressourcen treffen. Und das ist ein komplexer sozialer Prozess. Der Historiker Peter Linebaugh bezeichnet ihn als commoning. Die Idee der Gemeingüter ist ohne die Bindung an handelnde Menschen nicht denkbar. Keine Gemeingüter ohne gemeinsames Tun.

Die Gemeinschaft (community), die Gruppe jener Menschen, die gemeinsam eine Ressource nutzt, ist der zweite Baustein einer Gemeingüterarchitektur. Im Falle der Atmosphäre und anderer globaler Gemeingüter entspricht diese „Gruppe“ der gesamten Menschheit.

„Das Parkplatzbeispiel ist wunderbar geeignet um zu zeigen, wie eigen Gemeingüter sind“, sagt der Publizist David Bollier. Im Internet, wo es um immaterielle Ressourcen wie Bytes und Informationen geht, nimmt der Umgang mit ihnen sehr unterschiedliche Formen an. Aber in der Regel trifft jede community ihre eigenen Entscheidungen.

Dies ist der dritte Baustein einer Gemeingüterarchitektur: weitgehend selbstbestimmte Regeln. Eine Gesellschaft, die sich an der Idee der Gemeingüter orientiert, muss Regeln so konzipieren, dass sie Gemeingüter aus sich heraus schützen, reproduzieren oder erweitern.

Paradigma der Gewinnorientierung und der Commons im Vergleich

Ein Schlüssel für eine commonsorientierte Gesellschaft

In Präsentationen zu meinen Vorträgen verwende ich oft zwei Fotos. Das eine von Tim Berners-Lee, das andere von Bill Gates. Die dazugehörige Frage lautet: Wissen Sie, wer das ist? Das Ergebnis ist immer das Gleiche: Wenn das Foto von Berners-Lee erscheint, meldet sich kaum jemand. Erscheint das von Bill Gates, bleibt keine Hand unten. Ich kommentiere das gewöhnlich mit dem Satz: „Das ist ein Problem!“, denn abgebildet wird, was in der Gesellschaft als erfolgreich gilt.

Zwar haben wir Tim Berners-Lee viel zu verdanken, doch kennen die wenigsten seinen Namen oder gar sein Foto, während der Bekanntheitsgrad von Bill Gates sich proportional zu dessen Kontostand entwickelt hat. 1989 verfasste Tim Berners-Lee die Seitenbeschreibungssprache des Internet HTML sowie das zugehörige technische Protokoll http. Berners-Lee sorgte dafür, dass weder seine Ideen, noch deren technische Umsetzungen patentiert wurden. Zudem veranlasste er das World Wide Web Consortium (W3C) nur patentfreie Standards zu akzeptieren. Hier spiegelt sich zwei Kerngedanken der Debatte: die Relevanz des Teilens sowie der Verzicht auf die Kontrolle über andere. Berners-Lee sagt: „Web-Seiten sind für die Menschen da“, warum solle er den Rest seines Lebens damit verbringen zu kontrollieren, was Menschen mit Webseiten tun? Berners-Lee hat intensiv und erfolgreich zur Erweiterung der kulturellen und digitalen Allmende beigetragen. Doch wir kennen ihn nicht, denn die gängige Vorstellung von Erfolg scheint an überkommene Indikatoren gebunden – Kontostand, Medienpräsenz oder Gewinnmargen – unabhängig vom Beitrag des Einzelnen zu den Gemeingütern.

Wenn wir wollen, dass Gemeingüter einen prominenten Platz in unserer Gesellschaft bekommen, müsste stattdessen „das Handeln der Wirtschaft, des Staates und des einzelnen Menschen“ an der Mehrung der Gemeingüter orientiert sein. Das gilt es „zur Grundlage wirtschaftlichen, politischen und persönlichen Erfolgs werden“ zu lassen, so die AutorInnen des bereits zitierten Gemeingüter-Manifests.

Jede und jeder kann auf vielfältige Weise dazu beitragen, Gemeingüter zu verteidigen oder zu mehren. Dabei sind vier Prinzipien wichtig:

  • Dezentralität (insbesondere dezentrale Produktion, die durch ein neues Vernetzungsniveau im digitalen Raum ermöglicht wird)
  • Kooperation auf und zwischen allen Ebenen – von lokal bis global
  • Förderung der Vielfalt (von Ressourcen, Gemeinschaften und Regeln)
  • Relationalität: „Ich brauche die anderen, und die anderen brauchen mich.“

Die Zukunft beginnt heute. Sie wird lebendiger, wenn wir die unzähligen Erzählungen der Gemeingüter zu einer großen Erzählung verbinden. Das Wissen um die Gelingensbedingungen des fairen Umgangs mit Gemeingütern, dem die diesjährige Nobelpreisträgerin Ostrom seit Jahrzehnten systematisch auf der Spur ist, wird uns in die Lage versetzen, den Herausforderungen dieser Zukunft zu begegnen.

www.commonsblog.de

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