„Die Sehnsucht nach dem anderen Leben“
Manchmal entdeckt man Keimformfans an Orten, wo man sie nun wirklich nicht vermutet. So steht in der ja nun wirklich nicht gerade als kapitalismuskritisch bekannten Welt über Second Life:
In der Sturheit, mit der Second Life das Real Life untermauert, ist es vielleicht ein Zeichen von Anarchie und Zerfall. Irgendwann wird es einige Frage provozieren: wozu Geld? Warum Ungleichheit? Warum jeden Tag sich ins Büro schleppen? Irgendwann.
Hoffentlich bald 🙂
Wer Zeit hat, kann sich ja mal die Key Metrics ansehen, wo statistische Daten von SL aufbreitet wurden. Hier ein paar Auszüge.
Residents:
Gender (female/male):
Die Zeitpunkte habe ich nicht zufällig ausgewählt, zeigen sie doch systematisch zunächst einen Anstieg des Anteils der weiblichen Nutzer von einem niedrigen Niveau bis zum Maximum im Mai 2005. Der Anteil fällt seitdem kontinuierlich wieder ab und dürfte bald wieder das niedrige Anfangsniveau erreicht haben. — Haben die Frauen (zuerst) die Nase voll? Werden sie zunehmend rausgemobbt? Oder was ist die Erklärung?
In absoluten Zahlen ist SL jedoch gerade in den letzten Monaten nahezu „explodiert“. Hier noch die Aufteilung nach Ländern.
Country:
Europa hängt die USA ab. China hat erst 0,61% Anteil — können wohl nicht so viele bezahlen.
Das ist ein „self-reported gender“, also in dem Kontext wohl meistens das online-Geschlecht. Das sagt wenig bis nix über das Geschlecht der Menschen hinter den Avataren aus.
Na ja, kann schon sein, aber das verschiebt die Frage nur: Warum werden weibliche Rollen weniger gewählt mit dem Boom der absoluten Userzahlen?
Ich kann mir vorstellen, dass männliche Avatare weniger „dumm angemacht“ werden. SL soll ja ohnehin schon sehr Sex-Shop-lastig ein. Ich weiß es nicht aus Erfahrung, aber wenn ich einen Avatar wählen müsste, würde ich auch einen männlichen nehmen (bin w.). Das wäre einfach ein sicheres Gefühl.
Auch nicht uninteressant: Eine Anitfa-Demo in Second-Life.
Das Stichwort wurde im Titel schon genannt: anhand aktueller Phänomene wie z.B. Second Life könnte man das Verhältnis von virtueller und realer Lebenswelt kritisch aufarbeiten, wie es die Kritische Theorie bisher für die Religion bzw. den religiösen Fundamentalismus getan hat. Ausgehend von Marx über den ambivalenten Doppelcharakter der Religion: Inwiefern sind virtuelle Ersatzwelten Ausdruck realer Verelendung sowie verstümmelter Protest gegen eben diese? Inwiefern kommen hier reale Bedürfnisse zum Ausdruck, deren Erfüllung aufgrund realer Entremdung in den virtuellen Raum transformiert wird?
@ChrisSW: Das rein ideologiekritisch zu betrachten führt glaube ich in die Irre. Da landet man schnell bei einem eigentlich recht konservativen Kulturpessimismus. Interessanter wäre zu gucken, ob in den virtuellen Welten nicht eben doch Nischen möglich sind, die in der (mehr oder weniger) realen Welt eben (noch) nicht möglich sind. Dass das widersprüchlich ist, ist sowieso klar.
@benni: Warum führt marxistische (oder marxistisch inspirierte) Ideologiekritik zu konservativen Kulturpessimismus? Es ging doch um die praktische Überwindung des realen Elends, auch wenn sich damit die Metaphysik nicht erledigt haben wird, wovon Marx noch ausging. In dem Artikel aus der Welt steht:
„Bisher zeigt Second Life lediglich, wie dieser Planet wäre, wenn die Menschen ihren Wünschen freien Lauf ließen.“
Das ist so zu pauschal formuliert, aber die „Sehnsucht nach dem anderen Leben“ meint ja nicht nur die Sehnsucht nach einer rein virtuellen Existenz, sodern kann auch begleitet sein von einer „Sehnsucht nach einem anderen Leben“ in der Offline-Kultur.
Nachtrag: In der Frankfurter Rundschau ist ein Artikel zu Second Life erschienen, in dem auf die Verpflechtungen von Online- und Offline-Welt eigegangen wird:
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/multimedia/aktuell/?em_cnt=1092840
Auch das Internet und seine Inhalte sollten meiner Meinung nach immer auch als Teil einer umfassenderen Offline-Kultur betrachtet werden, um sie nicht als der realen Welt völlig enthobene „zweite Kultur“ (…) misszuverstehen.