Monokultur
[Kolumne Immaterial World in der Wiener Zeitschrift Streifzüge]
Wie entstand das, was wir heute so selbstverständlich „Landwirtschaft“ nennen, und was ist das überhaupt? Diesen Fragen stellt sich Florian Hurtig in dem Buch „Paradise Lost – Vom Ende der Vielfalt und dem Siegeszug der Monokultur“ (Oekom Verlag, 2020). Hurtig rekonstruiert die Genese der modernen Landwirtschaft als „lebensfeindliche Produktionsstätten für Agrarerzeugnisse“ und einem „sozialen und ökonomischen Ausschluss [der Menschen] aus der Landschaft“ (10). Doch war früher wirklich alles besser? Es war zumindest anders, und die Rekonstruktion des über weite Strecken gewaltförmigen Durchsetzungsprozesses der Monokulturisierung des Anbaus von Nahrungsmitteln führt uns vor Augen, dass das, was wir heute kennen, keineswegs der einzige und zudem auch nicht der nachhaltige Weg ist, uns langfristig mit Nahrungsmitteln zu versorgen.
Hurtig zeigt zu Beginn auf, dass die gängige Erzählung des Übergangs von jagenden und sammelnden (=nomadischen) Lebensweisen zur landwirtschaftlichen Produktionsweise vom linearen Fortschrittsnarrativ bestimmt ist. Nomadische Gesellschaften waren demnach defizitär, denn sie nutzten die Umwelt nur wie sie sie vorfanden und zogen weiter, wenn die Ressourcen erschöpft waren. Demgegenüber gestalteten Ackerbäuer*innen planvoll die Landschaft, um ihre Lebensbedingungen produzierend herzustellen und sich von zufällig vorgefundenen Bedingungen zunehmend unabhängig zu machen. Doch: „Beides – Sammeln und Jagen – waren keine zufälligen Prozesse, sondern sehr viel geplanter, als landläufig angenommen“ (15). Und: „Sesshaftigkeit ist … nicht an eine bestimmte Form der Nahrungsgewinnung geknüpft“ (20).
In der Folge entwirft der Autor ein Panorama einer vielfältigen polykulturellen Lebens- und Produktionsweise als Gegenbegriff zur der heute in der kapitalistischen Landwirtschaft dominierenden Monokultur. Die Polytechnik gab es bereits viele tausend Jahre bevor sich die Landwirtschaft über viele Zwischenstufen schließlich durchsetzen konnte. Sie basierte auf einer Vielfalt unterschiedlicher Subsistenztechniken, zu denen Jagen und Fischen, der Brand- oder Wanderfeldbau bis zur Pflege von Waldgärten reichten.
Der erste Übergang zur sesshaften Lebensweise wurde mit der Jōmon-Kultur in Japan vor etwa 14.000 Jahren nachgewiesen. Sie entwickelte sich jedoch nicht auf Basis der Domestizierung von Wildgetreide und -tieren, sondern von Waldgärten mit kultivierten Esskastanien, die so licht gehegt wurden, dass dazwischen weitere Nutzpflanzen gedeihen konnten. Diese Form der Kultivierung lag so nahe an der natürlichen Vegetation, dass sie Böden und Klima nicht negativ beeinflussten und eine dauerhafte Nutzung möglich wurde. Ähnliche Entwicklungen, die den (Wald-) Gartenbau zur Grundlage hatten, lassen sich in vielen Teilen der Welt nachweisen, etwa auch in Europa mit der Nutzung der Haselnuss.
Hinzu kommt ein weiterer stabilisierender Effekt der Gartenbaukultur: Im Gegensatz zu jagenden Tätigkeiten, bei der der Erfolg der einen Gruppe die Erfolgswahrscheinlichkeit einer anderen Gruppe reduzierte, führte die Verbesserung der Pflanzenerträge durch züchterische Erfolge eher zu kooperativ-inkludierenden Beziehungen, sofern Wissen und Pflanzgut zwischen Gruppen ausgetauscht wurden. Ein solches Verhalten wurde für die Tropen nachgewiesen und liegt auch nahe, da „die Kooperation zwischen den Gemeinden … zu geringerer notwendiger Tätigkeit führte“ (42).
Doch: „Wieso gingen Menschen in einer Zeit der Fülle auf einmal zum deutlich arbeitsintensiveren Ackerbau über?“ (48). Einen zentralen Hinweis sieht der Autor in der erst vor 25 Jahren entdeckten und immer noch nur ansatzweise ausgegrabenen Tempelanlage von Göbekli Tepe in Südostanatolien, die vor 12.000 Jahren errichtet wurde. Der Bau begann noch zu einer Zeit des Jagens und Sammeln als bestimmender Form der Lebensgewinnung und reicht bis in die Zeit der landwirtschaftlichen Produktion hinein – nachgewiesen etwa anhand des genetischen Ursprungs der Urformen des Weizens in der Region. Daraus schließt (nicht nur) der Autor, dass nicht ein schwindender Nahrungsertrag aus dem Jagen und Sammeln zum Übergang zur produzierenden Lebensweise führte, was erst danach den Bau der Tempelanlagen ermöglicht hätte. Sondern umgekehrt waren für den Bau derartig monumentaler Bauwerke enorme Nahrungsmittelmengen erforderlich, um riesige Menschenmengen zu versorgen, die den Bau errichteten, was erst zur produzierenden Lebensweise führte.
Diese Umkehrung der bisher üblichen Sichtweise verschiebt auch den Grund für die Entstehung von Herrschaft in die Zeit einer Lebensweise, die bisher als herrschaftsfrei oder -arm galt. Der Autor schreibt von einer „jägerischen Machtelite“ (49), die den Bau dieses überregionalen spirituellen Zentrums veranlasste. Doch wie entstand diese (männliche) Machtelite und wie war sie in der Lage, eine komplette Neuorganisation der Lebensweise mit Verfügung über eine vergleichsweise gigantische Ansammlung von Menschen zu Bauzwecken ins Werk zu setzen?
Der Weg bis zu den späteren Monokulturen war noch weit, doch das neue „Agrarpaket“ mit Getreide, Linsen und Bohnen wie auch domestizierten Tieren setzte sich durch und verbreitete sich in alle Richtungen. „Die notwendige Arbeitszeit stieg mit der Ackerarbeit. Durch die Arbeitsteilung konnte aber die individuelle Arbeitszeit sehr ungleich verteilt werden“ (60). Ausbeutung und Abschöpfung von Produkten führte zur Klassen- und Sphärenspaltung. Der entscheidende Umbruch im Neolithikum sei also nicht Sesshaftwerdung und Schrifterfindung, sondern die „Erfindung der Arbeit“ (61). Und: „Die Vervollkommnung dieser Arbeitsmaschinerie führte zur Entstehung der ersten wirklichen Staaten … aus den Getreidespeicher- und Bewässerungsbürokratie-Tempeln“ (66) – Arbeitskritik am konkreten Gegenstand.
In dem interessanten Buch werden die weitere Entwicklungen auf dem Weg in die industriell-landwirtschaftliche Monokultur nachgezeichnet, dem diese kurze Besprechung der Anfangszeit der Landwirtschaft nicht gerecht werden kann. Zentralisierung, Vereinheitlichung und Kontrolle der Monokulturen schufen die Voraussetzungen für die industriell-kapitalistischen Stoffströme und Herrschaftsformen – ein neuer Blick auch auf die Entstehungsbedingungen des Kapitalismus. Bitte selbst lesen!
Schrifterfindung im Neolithikum? Schreibt er das wirklich? Das würde mich sehr wundern. Da liegt mehr Zeit dazwischen als seit dem vergangen ist 😉
Und wieso sollte nur die Errichtung eines Tempels die Existenz einer „Machtelite“ noch dazu einer „männlichen“ beweisen? An anderer Stelle las ich die Idee von Göbekli Tepe als große Festival-Location. Dazu braucht es doch keine „Machtelite“. Irgendwie klingt das für mich ein bisschen danach als würde er Teile des kritisierten Zivilisationsnarrativs selber glauben? Naja, klingt auf jeden Fall interessant, vielleicht guck ich mal rein.
Das mit der Schrift ist etwas verkürzend referiert. Im originalen Text gibt da noch ein „später“: „Wenn wir nach den entscheidenden Umbrüchen im Neolithikum für die menschliche Gesellschaft fragen, dann werden normalerweise die Sesshaftwerdung und später die Erfindung der Schrift genannt.“ (S. 61).
Was Göbekli Tepe angeht, finde ich die Darstellung von Klaus Schmidt („Sie bauten die ersten Tempel“, 2006) nachvollziehbar, dass es sich um eine religiöse Kultstätte handelte. Er schreibt: „Die gesellschaftliche Kraft – ob ein Häuptling, eine Gruppe von Schamanen oder, vielleicht schon professionalisierter, von Priestern, ein Rat oder ein Kollektiv, werden wir wohl nie erfahren -, welche die Arbeitsleistung zur Errichtung der Monumentalbauten dem Individuum abfordern konnte, durfte dabei ganz offensichtlich aus dem Quell religiöser Motivation schöpfen und sich darauf verlassen, daß der den Arbeitern die nötige Kraft verleihen würde: Noch würde viel Zeit vergehen, ehe man von starken Haustieren, Zugtieren wie dem Ochsen, sich bei schweren Arbeiten würde helfen lassen können.“ (S. 247). Ob das eine „Machtelite“ war und ob überhaupt einer solchen bedurfte, ist offen, auch bei Schmidt. Die Konsequenz wäre jedenfalls, dass das marxistische Narrativ, dass die Klassenspaltung mit dem Auftreten eines Mehrprodukts entstand, nicht mehr zuträfe, weil die (Prä-)Spaltung ja schon „mitgebracht“ wurde. Vielleicht war es auch beides: Präspaltung meets Mehrprodukt.
Finde nicht, dass sich „religiöse Kultstätte“ und „Festival-Location“ ausschließen. Aber ja, das Zitat bestätigt ja meinen Punkt, dass die Existenz von großen Gebäuden alleine noch keinen Beweis für eine „Machtelite“ liefert. Das ist aber eine Missverständnis, dass ziemlich tief verankert ist in der Archäologie, da wird ja auch immer „Zivilisation“ mit „Hierarchischer Gesellschaft“ gleich gesetzt zB.
Ein interessanter „idealistischer Turn“ – nicht die von der Landwirtschaft ermöglichte hierarchische Strukturierung der Gesellschaft führte zur Entstehung hierarchischer Religionen, sondern die (scheinbar vom Himmel gefallene?) Religion führte zur Entstehung der Landwirtschaft. Nun das „das ist idealistisch“ natürlich noch kein Argument gegen eine Theorie, aber trotzdem wäre ich das skeptisch. Einmal ist, wie Benni schon schrieb, unklar ob Göbekli Tepe tatsächlich in erster Linie eine „Tempelanlage“ war oder ob sie nicht etwa auch Wohnzwecken diente (Wikipedia). Auch ob wirklich „riesige Menschenmengen“ für ihren Bau nötig waren, ist strittig:
Ziemlich klar ist es hingegen, dass die Entstehung der Landwirtschaft ein Prozess war, der nicht schlagartig „auf einmal“ passierte, sondern sich über Jahrtausende hinzog – siehe etwa David Graeber und David Wengrow oder dieses Video. Graeber und Wengrow gehen übrigens davon aus, dass Göbekli Tepe von Jäger-Sammler-Kulturen errichtet und genutzt wurde – worauf auch die dort genutzten Werkzeuge hindeuten (wiederum Wikipedia).
Diese Prozesshaftigkeit der Entwicklung macht es klar, dass es keinen „Masterplan“ zur Entwicklung der Landwirtschaft gab – niemand hätte sich hinstellen können und sagen „lasst uns mal sesshaft werden und Landwirtschaft machen, damit wir mehr Leute für Bauarbeiten freistellen können“. So funktionierte das natürlich nicht. Das war ein experimenteller Prozess, dessen Ende für niemand der anfangs Beteiligten absehbar war – weshalb es keinen Sinn macht, das Endergebnis zu betrachten und dann einen diesem entsprechenden anfänglichen „Zweck“ zu konstruieren.
An der vom Autor angenommenen „Zeit der Fülle“ würde ich im Übrigen auch zweifeln. Plausibel finde die These aus dem verlinkten Video und diesem Text, dass es gerade das (mutmaßlich von den Menschen selbst herbeigeführte) Aussterben der Megafauna war, das das Jagen und Sammeln immer schwieriger und weniger ertragreich machte und die Menschen zwang, sich nach Alternativen umzusehen – was dann zur Kultivierung von Nutzpflanzen und so schließlich zur Landwirtschaft führte.
@Christian: Vielleicht erscheint als „idealistisch“, was noch nicht materialistisch erklärt werden kann. Dass JS-Kulturen Religionen hatten, ist wahrscheinlich, ob und in welchem Ausmaß diese „hierarchisch“ waren, und was das genau bedeutete, ist offen. Es ist auch ein Szenario vorstellbar, dass Gruppen mit „nicht-hierarchischen“ Religionen (ohne „Machtelite“), zu deren Bestandteil es gehört, durch kollektive kultische Praktiken Einfluss auf das Umweltgeschehen (Wetter, Jagdbeute, whatever) zu nehmen (oder eine Party zu feiern: Festivallocation – das macht dann keinen Unterschied), sich verabredeten, eine entsprechende Stätte dafür zu schaffen – und sich dann erst in der Folge hierarchische Strukturen durchsetzten, weil viele Menschen versorgt und eine entsprechende Proto-Landwirtschaft aufgebaut werden musste (was sich wieder der Mehrproduktthese annähern würde). Dass das so war (Getreidenutzung), zeigen die Funde (Verarbeitungswerkzeuge). Wie groß der Anteil war und welcher Anteil noch durch Jagen aufgebracht werden konnte, ist offen. Mir ist nicht klar, warum du schreibst „Graeber und Wengrow gehen übrigens davon aus, dass Göbekli Tepe von Jäger-Sammler-Kulturen errichtet und genutzt wurde“ – das ist doch der Witz der ganzen Fundstätte und der Thesen von Schmidt.
Das Zitat mit den geschätzten 12-24 Leuten ist IMHO irreführend, weil es sich auf PPNB bezieht, also die zweite Nutzungs- und Bebauungsphase, die viel kleinteiliger war. Die 200 aus Stein gehauenen und bis zu 10 Tonnen schweren Säulen (neben den anderen Baubestandteilen) wurden in der PPNA errichtet. Und auch wenn es möglich ist, dass 7-14 Leute eine Säule mit Seilen und Schmiermitteln bewegen können (ein eher kleiner Teilschritt beim Bau), ist es dennoch unwahrscheinlich, das eine kleine Gruppe die PPNA-Anlage hätte aufbauen können.
@christian dass aussterben der megafauna und „zeit der fülle“ müssen sich nicht widersprechen. das für mich plausibelste szenario: die megafauna ist ausgestorben weil es wärmer wurde und sie intensiv bejagt wurde. das wärmere und stabilere klima hat aber gleichzeitig dazu geführt dass die leute im heutigen nahen osten nicht mehr so viel rumziehen mussten, weil sie auch von kleineren tieren und sammeln gut leben konnten ohne viel umherziehen zu müssen, weil es eben eine „zeit der fülle“ war. das ganze dann auch immer wieder hinundher über mehrere tausend jahre je nach klimatischen bedingungen.
ausserdem ist „sesshaftigkeit“ eh ein ziemlich falsches narrativ. es gab auch vor dem neolithikum schon leute, die im wesentlichen sesshaft waren aber halt trotzdem jäger und sammler. das schliesst sich ja bei guten bedingungen und kleiner bevölkerung nicht aus.