Entscheidungsfindung in der Genossenschaftsgesellschaft

(Voriger Artikel: Eigentumsrechte in der Genossenschaftsgesellschaft)

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Sowohl in Kooperativen wie in Communen müssen Entscheidungen getroffen werden. Eine romantische, aber für große Gruppe kaum realistische Vorstellung ist, dass Entscheidungen immer im Konsens aller Beteiligten getroffen werden sollten. Ein allgemeiner oder zumindest weitgehender Konsens aller bzw. der meisten Beteiligten ist, sofern möglich, klarerweise wünschenswert (ein lediglich weitgehender Beinahe-Konsens wird manchmal „grober Konsens“ bzw. „rough consensus“ genannt). Niemand wird gerne überstimmt und ignoriert und je mehr Beteiligte einer Entscheidung zugestimmt oder zumindest keinen Einspruch gegen sie eingelegt haben, desto besser dürften die Chancen dieser Entscheidung zu sein, allgemein respektiert und umgesetzt zu werden. Dabei gibt es Verfahren, die das Finden eines Konsenses auch in größeren Zusammenhängen erleichtern, etwa das Systemische Konsensieren und die Soziokratie.

Allerdings funktionieren konsensorienterte Entscheidungsprozesse zwar bei einigen Dutzend oder Hundert Beteiligten ganz gut, doch in größeren Gruppen wird es schnell schwierig. Dass Communen mit Hunderttausenden oder Millionen von Mitgliedern alle Entscheidungen im Konsens treffen, dürfte praktisch ausgeschlossen sein. Hier werden zumindest manchmal Entscheidungen nötig sein, bei denen die Mehrheit die Minderheit überstimmt. Aber ist es legitim, wenn manche (eine Mehrheit) für alle entscheiden?

Wann sind Mehrheitsentscheidungen legitim?

Klarerweise wäre es schöner, wenn alle von einer Entscheidung Betroffenen dieser aktiv zugestimmt hätten. Communen mit Millionen von Beteiligten würden dadurch aber vollkommen lahmgelegt, da wahrscheinlich nie alle Betroffenen mit irgendeiner Entscheidung einverstanden wäre. Und selbst wenn, würden früher oder später Kinder heranwachsen oder Leute in die Commune ziehen, die der Entscheidung nicht zugestimmt haben.

In der Praxis ist es daher unabdingbar, auf den Konsens aller Betroffenen manchmal zu verzichten. Daraus folgt aber andererseits noch lange nicht, dass eine irgendwie zustande gekommene Mehrheit beliebige Entscheidungen beschließen und durchsetzen könnte. Vielmehr würde ich von folgenden Voraussetzungen für die Legitimität von Mehrheitsentscheidungen ausgehen:

(1) Alle direkt Betroffenen sind gleichermaßen stimmberechtigt. Wenn sich eine Commune Regeln setzt, sind also alle auf dem Gebiet dieser Commune lebenden Menschen stimmberechtigt – ein Unterschied zwischen stimmberechtigten „Staatsbürger_innen“ und Bewohnern zweiter Klasse, die zwar eine Aufenthaltsberechtigung, aber kein Stimmrecht haben, wird nicht gemacht. Lediglich Personen, die sich gemäß eigener Entscheidung nur kurz (z.B. für ein paar Wochen) auf Communegebiet aufhalten, können hier ausgenommen bleiben, da sie auch nicht lange von den Regeln betroffen sein werden.

Ebenso kann Menschen nicht aufgrund ihres Geschlechts, Alters, Verhaltens oder anderer Kriterien das Mitentscheidungsrecht abgesprochen werden – auch Kinder, geistig Behinderte oder verurteilte Straftäter_innen haben also gleiche Beteiligungsrechte wie alle anderen, da auch sie von den Regeln betroffen sind (heute ist dies in Deutschland, den USA und anderen Ländern oft anders). Neugeborene Kinder werden naturgemäß noch nicht mit abstimmen, doch eine pauschale (untere oder auch obere) Altersgrenze ist unzulässig, da sie einen Teil der Betroffen willkürlich ausschließt. Denkbar ist stattdessen etwa, dass junge Leute stimmberechtigt (und, sofern Personen zur Wahl stehen, auch wählbar) werden, sobald sie sich selbst in ein Verzeichnis der Stimmberechtigten haben eintragen lassen – womit sie gezeigt haben, dass sie selbständig agieren können.

(2) Delegationen an andere sind nur legitim, wenn sie umkehrbar sind. Klarerweise unzulässig ist etwa eine Wahlmonarchie, in der eine Mehrheit eine König_in wählt, die dann bis an ihr Lebensende (oder auch für begrenzte Zeit) souverän entscheidet, ohne dabei noch auf ihre Wähler_innen hören zu müssen. Ebenso unzulässig ist die heute übliche repräsentative Demokratie, die dasselbe in abgeschwächter Form macht – ob durch Wahl einer Reihe von Repräsentant_innen, die zwar für ein paar Jahre gewählt werden und untereinander wieder Mehrheiten finden müssen, ansonsten aber wie eine Gruppe kleiner König_innen autonom agieren können; oder durch Wahl einer Präsident_in als einzelner „König_in auf Zeit“ mit zwar oft eingeschränkten, aber nicht mehr direkt von den Wähler_innen kontrollierbaren Entscheidungsrechten.

Denkbar ist hingegen die „delegierbare Abstimmung“ (Delegated Voting oder DV), auch als „Liquid Democracy“ bekannt. (Disclaimer: Ich habe mal eine Weile für den gleichnamigen Berliner Verein gearbeitet, der dieses Konzept propagiert.) Hierbei können alle entweder selber abstimmen oder ihre Stimme an eine andere Person delegieren, der sie zutrauen, die aus ihrer Sicht sinnvollste Entscheidung zu unterstützen. Delegationen können dabei auch themenbezogen erfolgen (geht es um die Energieversorgung, delegiere ich meine Stimme an A, bezüglich Kulturförderung an B, in anderen Fragen entscheide ich selbst) und sind jederzeit widerrufbar. Um demokratietheoretisch akzeptabel zu sein, muss dabei das Abstimmungsverhalten von Delegierten mindestens gegenüber ihren Delegierenden offen sein (während alle andere, wenn sie möchten, geheim abstimmen oder auch geheim delegieren können) und Delegierende müssen die Möglichkeit haben, eine Delegation zu widerrufen und ihre Stimme in Bezug auf einzelne Fragen doch noch anders abzugeben, wenn sie zu dem Schluss kommen, dass die Delegierte nicht in ihrem Sinne entschieden hat.

Eine andere prinzipiell legitime Delegationsmethode ist die Delegation an eine per Losverfahren ausgewählte Gruppe von Entscheidungsberechtigten, die für die Gesamtbevölkerung statistisch repräsentativ sind (in Hinblick auf Kriterien wie Geschlecht, Alter, Herkunft etc.) und jeweils nach relativ kurzer Zeit (ein bis zwei Jahre) durch andere ebenfalls per Los ausgewählte Entscheidungsberechtigte abgelöst werden. Diese Spielart der Demokratie wird als Demarchie bezeichnet; die Besetzung von Ämtern und Gremien per Los spielte schon im alten Griechenland – in den mutmaßlich ersten Demokratien der Welt – eine wichtige Rolle.

(3) Entscheidungen können grundsätzlich später wieder abgeändert oder aufgehoben werden, sofern dies praktikabel ist. (Sofern sich eine Commune entscheidet, für bestimmte Dinge so und so viel Geld auszugeben, kann sie diese Entscheidung natürlich nicht zurücknehmen, nachdem das Geld bereits ausgegeben wurde – sie könnte sich später aber entscheiden, die künftige Förderung für bestimmte Vorhaben zu erhöhen oder abzusenken.) Dabei darf für eventuelle spätere Revisionen einer Entscheidung keine größere Hürde gesetzt werden als für die Entscheidung selbst. Eine Commune könnte sich etwa eine Art „Verfassung“ geben, deren Regelungen nur mit Zweidrittelmehrheit (oder Vierfünftelmehrheit oder Neunzehntelmehrheit) abgewandelt werden können – das setzt aber voraus, dass die ursprüngliche Version der Verfassung selbst mit einer mindestens ebenso hohen Mehrheit beschlossen wurde.

Dasselbe gilt für die Regeln, die sich Kooperativen setzen – da diese kleiner sind, ist hier durchaus denkbar, dass sich alle im Konsens auf bestimmte Regelungen einigen, die dann später auch nur per Konsens wieder abgeändert oder aufgehoben werden können. Allerdings setzt dies voraus, dass sich die Größenverhältnisse in der Zwischenzeit nicht allzu sehr verändert haben. Sonst könnte etwa ein Gründungsteam von drei Personen konsensuell Regeln setzen, die später, wenn die Kooperative auf 300 Mitglieder gewachsen ist, immer noch alle binden und effektiv nicht mehr geändert werden können (da darüber kein Konsens unter den 300 erzielt werden kann), auch wenn eine Mehrheit der Mitglieder diesen Regeln nie aktiv zugestimmt hat und sie vielleicht längst nicht mehr angemessen findet.

Um dies zu verhindern, kann das Prinzip gelten, dass jedes Regelwerk spätestens dann überprüft und neu angenommen werden muss, wenn eine Organisation um den Faktor 10 gewachsen ist. Begann eine Kooperative mit drei Mitgliedern, müssen ihre Regelungen also spätestens beim Erreichen von 30 und dann von 300 Mitgliedern erneut diskutiert und mehrheitlich akzeptiert werden. Sollten alle 300 Mitglieder weiterhin mit den Regeln einverstanden sein und auch damit, dass sie nur per Konsens geändert wurden, dann gilt das weiterhin. Dann ist aber auch klar, dass alle inhaltlich hinter diesen Prinzipien stehen und sie nicht lediglich als unverhandelbaren Teil des Gesamtpakets akzeptieren. Andererseits ist aber auch denkbar, dass die Regeln zwar von der Mehrheit, aber nicht von allen bestätigt werden und dass die Hürde zu ihrer späteren Abänderung auf z.B. eine Zweidrittelmehrheit abgesenkt wird.

(4) Die Mehrheit darf ihre Moralprinzipien nicht allen aufzwingen. Verhaltensweisen dürfen nur verboten oder anderweitig sanktioniert werden, wenn sie andere gegen deren Willen schädigen, gefährden, oder nötigen würden, nicht aber da, wo sie im freien Konsens aller Beteiligten stattfinden. Dies entspricht dem von dem britischen Philosophen John Stuart Mill formulierten Schadensprinzip, das ich auch schon in „Auch die Mehrheit kann nicht alle binden“ beschrieben habe. Die Geschädigten oder Gefährdeten können dabei auch Tiere oder die kommenden Generationen sein, auch wenn in solchen Fällen der Wille der Betroffenen schwerer festzustellen ist, weil sie sich nicht selber äußern können. Aber dass Tiere genau wie Menschen nicht gerne leiden, ist nicht schwer festzustellen, weshalb Tierschutzregelungen mit dem Schadensprinzip definitiv vereinbar sind.

(5) Die Mehrheit kann nicht selber Strafen oder andere Sanktionen verhängen, sie kann nur festlegen, welche Verhaltensweisen strafbar sein sollen. (Wobei solche Entscheidungen den im vorigen Punkt diskutierten Schadensprinzip entsprechen müssen – was niemanden schädigt oder gefährdet, kann auch nicht sanktionierbar sein.) Über die Anwendung dieser allgemeinen Regeln (Gesetze) auf einzelne kann sie aber nicht selbst entscheiden und schon gar nicht kann sie einzelne ohne allgemeines Gesetz sanktionieren. Dies verhindert (oder erschwert) eine Willkürherrschaft der Mehrheit gegenüber einzelnen, wie sie etwa in den antiken griechischen Demokratien üblich war. (Dort wurden einzelne in Verbannung geschickt, wenn dies ein größerer Teil der Stimmberechtigten per „Scherbengericht“ beschlossen hatte – konkrete Gesetzesverstöße waren dafür nicht nötig; es reichte, dass sie als unbeliebt, weil z.B. zu machthungrig galten.) In modernen Demokratien ist das aus gutem Grund unzulässig, stattdessen gilt der Grundsatz „Keine Strafe ohne Gesetz“ („Nulla poena sine lege“).

Aber brauchen Communen überhaupt ein Strafrecht? Vielleicht können sie auf die Verhängung von Strafen und Sanktionen auch komplett verzichten? Das wird noch gesondert zu diskutieren sein. Ich wäre einerseits skeptisch in Hinblick auf Vorstellungen, die komplett sanktionsfreie Gesellschaften für möglich halten oder davon ausgehen, dass spontane Sanktionen „von unten“ (etwa öffentliche Missbilligung und Kooperationsverweigerung, auch als „Flaming und Shaming“ bekannt) generell besser und humaner sind als solche, die gesellschaftlich ausgehandelten und allgemein geltenden Regeln entsprechen. Andererseits ist aber auch klar, dass viele der heutigen Strafpraktiken barbarisch sind und in einer besseren Gesellschaft keinen Bestand haben könnten.

(Wird fortgesetzt.)

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