Text „Care-Revolution und Industrie 4.0“
[Text zu meinem Vortrag auf der Leipziger Tagung „Digitalisierung und soziale Verhältnisse im 21. Jahrhundert“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen im Juni 2016, erschienen in: Dieter Janke, Jürgen Leibiger (Hrsg.), Digitale Revolution und soziale Verhältnisse im 21. Jahrhundert, Hamburg: VSA, S. 27-38]
Care-Revolution und Industrie 4.0
Die Dialektik von Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnissen vom Kopf auf die Füße stellen
Was haben das Wickeln von Babys und das Konfigurieren von Robotern miteinander zu tun? Nein, es geht hier nicht um techno-utopistische Fantasien, nach denen letztere, die Roboter, bald ersteres übernehmen sollen. Und auch nicht darum zu behaupten, beide Tätigkeiten seien algorithmisch doch prinzipiell das Gleiche. Sondern es geht mir darum zu zeigen, dass Entwicklungen in zwei getrennten gesellschaftlichen Sphären, dem sogenannten Care-Bereich und dem sogenannten Produktionsbereich, überraschend ähnliche Tendenzen zeigen. Diese Bereiche mit einem „sogenannt“ anzuzeigen ist notwendig, weil es sich bei der gesellschaftlichen Sphärenspaltung in „Reproduktion“ (Care) und „Produktion“ (Ökonomie) um ein historisch spezifisches Artefakt des Kapitalismus handelt, das weder natürlich ist noch ewig bestehen wird. Vorübergehend benennen wir das scheinbar Getrennte, tatsächlich aber Zusammenhängende mit Sogenannt-Begriffen wie Care und Produktion. Machen wir uns ans Bestimmen.
Agenten-basierte Netzwerkfertigung
Industrie 4.0 ist ein Hilfsbegriff zur Kennzeichnung einer neuen Qualität der Produktivkraftentwicklung. Um die neue Qualität zu erkennen, müsste seine Genese nachgezeichnet werden, wofür hier allerdings kein Platz ist.1 Summarisch kann ich nur die Ergebnisse referieren.
Nachdem der letzte Versuch (Industrie 3.0), die Produktion mittels zentraler Computersysteme zu steuern, zu scheitern drohte, setzte sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass die Vorstellung einer zentralen Instanz, die den Zustand des gesamten Systems kennt und deswegen „objektiv richtige“ Entscheidungen treffen kann, nicht aufgeht. Zwar wurde schon früh die Zentralplanung des inzwischen verblichenen Realsozialismus als dysfunktional beurteilt2, doch dauerte es noch einige Zeit, bis auch die Vergeblichkeit einer Zentralsteuerung von als deterministisch angesehenen Prozessen wie den der industriellen Produktion eingesehen wurde. So musste das Konzept des computer integrated manufacturing (CIM) beerdigt werden, um als Netzwerk cyber-physischer Systeme (CPS) in der Industrie 4.0 wieder aufzuerstehen.
Während bei CIM die Integration der verschiedenen computerisierten Inselsysteme im Vordergrund stand, geht es bei den CPS um eine lose Kopplung und Interaktion autonomer Agenten in einem Netzwerk. Es geht um den Übergang von der Kathedrale zum Basar, um ein Bild von Eric Raymond3 zu verwenden, der damit dem Übergang von der proprietär-zentralistischen zur quelloffenen selbstorganisiert-netzwerkartigen Softwareentwicklung kennzeichnete. In der agenten-basierten Netzwerkfertigung muss nicht mehr zentral entschieden werden, welche Schritte wo und von wem – Maschine oder Mensch – zu erfolgen haben. Sondern die „Intelligenz“ der Fertigung wandert in die verteilten, vermaschten Knoten von Agenten – Maschine oder Mensch –, die nun autonom aufgrund lokal verfügbarer Informationen (die durchaus auch globalen Charakter haben können wie etwa der Lieferstand weltweit hergestellter Vorprodukte) entscheiden, was zu tun ist. Die Fertigung gewinnt stigmergischen Charakter.
Exkurs: Stigmergie
Stigmergie ist ein altes Konzept, es wurde zuerst für Termiten formuliert.4 Dabei legen einzelne Organismen Spuren, die Artgenossen Signale für ihre lokalen Aktivitäten bieten (bei Termiten durch Pheromone). So entstehen die komplexen Bauwerke der Termitenhügel ohne dass es einer zentralen planenden Instanz bedarf.
Übertragen auf die Technik sind lokale Marker, oder allgemeiner: lokale Informationen, die Grundlage für die jeweils anstehenden Produktionsschritte. Bei der agentenbasierten Fertigung kommt das zum Tragen, wenn technische Agenten (CPS) aufgrund der vorliegenden Informationen (aus bestehenden Datenrepositories oder per Sensorik aktuell der Umwelt entnommen) „selbsttätig entscheiden“, was zu tun ist und wie sie mit menschlichen Akteuren interagieren können.
Menschen wiederum entscheiden sich auf Basis vorliegender möglichst umfassender unmittelbar prozessbezogener, aber auch kontextuell weiträumiger Informationen, sich selbst einer Aufgabe zuzuordnen, anstatt eine Aufgabe von einer hierarchischen Instanz zugeordnet zu bekommen. Der darin liegende Paradigmenwechsel kann allerdings nur unter Bedingungen freier bewusster Entscheidung zur vollen Entfaltung kommen. Unter Bedingungen warenförmig-fetischistischer Verkehrung von Bedürfnis und Wert im Kapitalismus stößt auch größte lokale Entscheidungsfreiheit irgendwann an das sachliche Imperativ des Verwertungszwangs.
Selbstentfaltung und Selbstverwertung
Die agenten-basierte Netzwerkfertigung der Industrie 4.0 bedeutet eine neue Qualität der reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital. Die Arbeiter*in stieg vom bloßen Maschinenanhängsel in der Hochzeit des Fordismus zur autonomen Produktionsagent*in im CPS-Netzwerk auf. Aus Marx‘ Sicht ist es eine „Frage von Leben und Tod“ für das Kapital, „das Teilindividuum, den bloßen Träger einer gesellschaftlichen Detailfunktion, durch das total entwickelte Individuum, für welches verschiedene gesellschaftliche Funktionen einander ablösende Tätigkeiten sind“5 zu ersetzen. Autonom handelnde Subjekte in der Produktion müssen allseitig gebildet sein und nicht nur in der Produktion „funktionieren“. Doch sie bleiben Subjekte, Unterworfene (lat. Subiectum), einer fremden Logik. Die Unterwerfung geschieht jetzt im Unterschied zur fordistischen Ära nicht mehr durch personales Kommando und Kontrolle, sondern Kommando und Kontrolle werden internalisiert. Mit der Totalisierung des Verwertungsimperativs muss sich nun alles rechnen, muss sich alles dem universellen Diktat des Marktes und der Konkurrenzfähigkeit unterwerfen. Marx in prognostischer Klarheit:
In fact aber, wenn die bornierte bürgerliche Form abgestreift wird, was ist der Reichtum anders, als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen? Die volle Entwicklung der menschlichen Herrschaft über die Naturkräfte, die der sog. Natur sowohl wie seiner eignen Natur? Das absolute Herausarbeiten seiner schöpferischen Anlagen, ohne andre Voraussetzung als die vorhergegangne historische Entwicklung, die diese Totalität der Entwicklung, d.h. der Entwicklung aller menschlichen Kräfte als solcher, nicht gemessen an einem vorhergegebnen Maßstab, zum Selbstzweck macht? Wo er sich nicht reproduziert in einer Bestimmtheit, sondern seine Totalität produziert? Nicht irgend etwas Gewordnes zu bleiben sucht, sondern in der absoluten Bewegung des Werdens ist? In der bürgerlichen Ökonomie – und der Produktionsepoche, der sie entspricht – erscheint diese völlige Herausarbeitung des menschlichen Innern als völlige Entleerung; diese universelle Vergegenständlichung als totale Entfremdung und die Niederreißung aller bestimmten einseitigen Zwecke als Aufopferung des Selbstzwecks unter einen ganz äußeren Zweck.“6
Das „absolute Herausarbeiten seiner schöpferischen Anlage“ auf der einen Seite und die „völlige Herausarbeitung des menschlichen Innern als völlige Entleerung“ auf der anderen wegen der „totalen Entfremdung“ und Unterordnung „unter einen ganz äußeren Zweck“ – in dieser Zuspitzung bringt Marx den antagonistischen Widerspruch zwischen Selbstentfaltung und Selbstverwertung auf den Punkt.
Das Verrückte daran ist, dass sich das Kapital diesen Widerspruch nicht „ausgedacht“ hat, um die Abhängigen besser zu beherrschen. Wer hier einen taktischen Schachzug der Herrschenden im Klassenkampf sieht, der wendet mechanisch alte Schemata an, die heute als Erklärung nicht mehr taugen (ob sie je taugten, steht auf einem anderen Blatt). Die Arbeiter*innenklasse steht in einem strukturellen Selbstfeindschaftsverhältnis, an dem die Eroberung von Macht nichts ändern kann. Gesellschaftliche Transformation kann heute nur heißen, die Struktur der Selbstfeindschaft samt ihrer Klassenbasis aufzuheben und eine andere Produktionsweise durchzusetzen.
Keimformen dieser neuen Produktionsweise können wir bereits heute in der Industrie 4.0 beobachten. Neue Handlungsmöglichkeiten erweitern die Verfügung der Arbeitenden über die Bedingungen ihrer Tätigkeiten. Im Rahmen der Warenform ist jedoch der inhärente Widerspruch zwischen Selbstentfaltung und Selbstverwertung nicht aufhebbar:
Das Individuum verhält sich dabei zur Entfaltung seiner eigenen Individualität nicht wie zu einem Selbstzweck, sondern wie zu einem Mittel des ihm äußerlichen Verwertungszwecks.“7
Menschliche Bedürfnisse und ökonomische Rationalität
Die im doppelten Wortsinne „Care-Seite“ der Medaille der Produktion ist die „Krise sozialer Reproduktion.“8 Zu Care zähle ich häusliche Tätigkeiten und haushaltsnahe Dienste, die entweder staatlich oder auch im Kapitalverhältnis erbracht werden. Von letzterem abgesehen ist Care zum überwiegenden Teil zwar ökonomisch unproduktiv, trägt also nicht unmittelbar zur Kapitalverwertung bei, ist gesellschaftlich aber essenziell. Care ist durch eine im Vergleich zum „produktiven“ Sphäre konträre Handlungslogiken gekennzeichnet: Der Ökonomie der Warenproduktion steht der Sozialität menschlicher Beziehungen gegenüber, der Logik der Zeiteinsparung die Logik der „extensive(n) Zeitverausgabung ohne entsprechend großes Produkt“9, der Externalisierung von Kostenfaktoren das Prinzip der Sorge und Vorsorge. Diese Gegensätze sind auch dort zu finden, wo Care-Dienste im Kapitalverhältnis erbracht werden, sie werden hier allerdings zu Binnen-Widersprüchen, die die Kapitalverwertung limitieren.
Care ist gegenüber der Produktiv-Sphäre mit einem strukturellen Nachteil versehen. Im Care-Bereich können aufgrund der Besonderheit der zuwendenden Nähe zu Menschen nur geringe Produktivitätssteigerungen erreicht werden. Auch der Einsatz von Robotern bei Demenzkranken kann echte Zuwendung bestenfalls ergänzen, aber nicht ersetzen. Technische Assistenzsysteme können zwar zu Produktivitätssteigerungen beitragen, doch der Effekt ist im Gesamt des Care-Bereiches begrenzt. Die relativ geringeren Produktivitätszuwächse verteuern Care-Arbeit im Vergleich zur Produktionsarbeit kontinuierlich. Der Wert der Ware Care-Arbeitskraft sinkt damit im gesellschaftlichen Durchschnitt völlig konträr zur steigenden Bedeutung und unhintergehbaren Notwendigkeit von Care für die Gesellschaft. Die in diesem Bereich wirkenden Exklusionslogiken beschreibt Friederike Habermann:
Es ist die unüberwindbar begrenzte Verwertbarkeit, die bei Reproduktionsarbeiten bestehen bleibt, welche immer wieder dazu führt, dass sie an unterprivilegierte Menschen ausgelagert wird, seien es Frauen, schwarze SklavInnen oder, heute MigrantInnen in internationalen Sorgearbeitsketten“.10
Christa Wichterich nennt die Ausbeutung der primär von Frauen geleisteten Reproduktionsarbeit analog zur Ausbeutung von Rohstoffen „Care-Extraktivismus“.11
Ein weiterer Aspekt ist der qualitative Wechsel im Care-Bereich selbst. Zum male bread winner model der fordistischen Ära gehörte ein Einkommen der Männer, das die Reproduktionskosten der ganzen Familie tragen konnte. Darüber hinausgehende Risiken waren durch sozialstaatliche Transfersysteme abgesichert. Der Kampf der Frauenbewegung der 1970er Jahre gegen patriarchale Unterdrückungsstrukturen in der traditionellen Hausfrauen-Familie sowie die aus Sicht des Kapitals notwendige Reduzierung der Kosten für Familienlohn und sozialstaatlicher Absicherung mündeten in das heute dominante neoliberale adult worker model. Danach ist jede Person unabhängig vom Geschlecht für die eigene Existenzerhaltung sowie ggf. die gemeinsame Versorgung der Kinder verantwortlich. Für viele Frauen wurde damit die personale Abhängigkeit vom Familienernährer durch den Zwang zur Verwertung der eigenen Arbeitskraft ersetzt. Gestiegen sind gleichzeitig die Anforderungen an das „Familienmanagement“. Winkler und Carstensen sehen die Anforderungstransformation im ökonomischen Bereich, die Voss und Pongartz als Selbst-Kontrolle, Selbst-Ökonomisierung und Selbst-Rationalisierung des Arbeitskraftunternehmers beschrieben12, gleichermaßen im Reproduktionsbereich gegeben und sprechen von Arbeitskraftmanager*innen. 13 Reproduktionsanforderungen werden auf diese Weise individualisiert und privatisiert.
Meist übersehen werden jedoch auch neue Caring Communities und Care Sharing, also Formen der autonomen Selbstorganisation von Care-Tätigkeiten jenseits von Markt und Staat. Das leitet über zu einem Begriff, der den scheinbar so disparaten Bereichen der warenförmigen Produktion und wesentlich nicht-warenförmigen Reproduktion, von Ökonomie und Care, eine gemeinsame Perspektive der Aufhebung des Kapitalismus gibt: die Commons.
Ein neu-altes Paradigma
Commons sind gemeinsam hergestellte, gepflegte und genutzte Produkte und Ressourcen unterschiedlicher Art. Im Deutschen gibt es dafür das Wort Gemeingüter, was aber zu sehr auf die Ressourcen oder Produkte (“Güter”) fokussiert. Daher hat sich auch im deutschen Sprachraum der Begriff des oder der Commons – er steht sowohl für die Einzahl wie für die Mehrzahl – verbreitet.
Commons haben drei Bausteine. Zunächst geht es immer um Ressourcen, die gemeinschaftlich hergestellt, gepflegt und genutzt werden. Ressourcen werden umfassend verstanden, es sind die Ausgangsmaterialien oder -bedingungen, die in den sozialen Prozess eingehen: Gewässer, Böden, Räume, Software, Saatgut, Fahrräder, Spielzeug, Heilmittel, die Wikipedia, Erkenntnisse, Produktionsmittel, die Atmosphäre oder die Ozeane oder etwas anderes. Grundsätzlich kann alles zum Commons werden. Manche Ressourcen sind universell. Jeder Mensch kann sie nutzen, niemand hat das Recht, sie zu zerstören oder sie einzuhegen und dadurch andere von ihrer Nutzung auszuschließen. Das gilt etwa für die Atmosphäre und die Ozeane, Freie Software wie GNU/Linux oder Firefox sowie Freies Wissen wie Wikipedia oder OpenStreetMap. Andere sind lokal. Sie sind an einen bestimmen Ort gebunden und können nur von den vor Ort lebenden Menschen hergestellt, gepflegt und genutzt werden. Das gilt etwa für Gewässer, Böden oder Gebäude. Auch lokale Commons brauchen Schutz vor Einhegung und Zerstörung, um als solche erhalten zu bleiben.
Der soziale Prozess einer Community rund um die Commons wird als Commoning bezeichnet. Die Community ist die Gemeinschaft der Menschen, der Commoners, die das Commons herstellen, erhalten und nutzen. Ohne das Commoning der konkret handelnden Menschen in selbst bestimmten sozialen Umgebungen ist kein Commons denkbar. Wesentlicher Antrieb des Commoning sind die produktiven Bedürfnisse der beteiligten Commoners, also das Streben nach kollektiver Verfügung über die je eigenen Lebensbedingungen. Dabei bestimmen die Commoners die Regeln der Selbstorganisation im Umgang mit dem Commons selbst. Ohne verabredete Regeln kann kein Commons funktionieren, doch welche Verabredungen im Einzelfall die richtigen sind, hängt von der Art des Commons und den Präferenzen der Community ab. Es ist ein Unterschied, ob die Herstellung und Nutzung von Bytes und Informationen geregelt werden muss oder jene natürlicher Ressourcen wie Wasser und Wald.
Resultat des Commoning rund das Commons sind Produkte. Dabei wird auch der Begriff Produkt weit verstanden. Das kann die Pflege und erhaltende Nutzung natürlicher Ressourcen sein oder die Neuschöpfung gegenständlicher oder symbolischer Mittel wie Nahrungsmittel, Fahrräder, Kunst der Erkenntnisse oder die Versorgung, Unterstützung und Pflege von Menschen. Die Produkte werden in zweierlei Hinsicht verwendet. Sie dienen entweder der Befriedigung sinnlich-vitaler Bedürfnisse und werden dabei genossen, gebraucht oder verbraucht oder sie gehen als Ressourcen in einen neuen produktiven Zyklus der Herstellung, Pflege und Nutzung eines Commons ein. Commons sind somit selbsterhaltend und können mit anderen Commons vernetzt werden.
Commons sind so vielfältig wie das Leben selbst. Es gibt keine für alle Bereiche gleich gültigen (und gleichgültigen) Regeln, sondern diese werden im sozialen Prozess immer wieder neu bestimmt. Zentrale Basis dafür sind die Bedürfnisse der Commoners. Anders als in der getrennten Privatproduktion werden diese – in der Regel unterschiedlichen – Bedürfnisse vor der tatsächlichen Umsetzung des jeweiligen Vorhabens in einem kommunikativen Prozess vermittelt. Im Unterschied zur warenförmigen Ex-post-Vermittlung über den Markt nach der Produktion findet die Vermittlung in Commons ex ante, also im Vorhinein statt. Das hat zur Folge, dass in der kapitalistischen Privatproduktion Bedürfnisse jenseits des engen Gebrauchswerts der Ware externalisiert werden müssen. Commons tendieren hingegen aufgrund der Ex-ante-Vermittlung dazu, auch jene Bedürfnisse mit einzubeziehen, sie also zu internalisieren, die vom eigentlichen Gegenstand nur peripher tangiert werden.
Der strukturell unterschiedliche Bedürfnisbezug bringt unterschiedliche soziale Logiken hervor. Die negativ-reziproke Handlungsmatrix der warenförmigen Exklusionslogik setzt die Akteure in ein Ausschließungsverhältnis, d.h. ökonomische Handlungen von Einzelnen oder Partialkooperationen verletzen stets die Bedürfnisse von anderen. Die positiv-reziproke Handlungsmatrix der commonsgegründeten Inklusionslogik legt nahe, andere Menschen mit ihren Bedürfnissen in das je eigene Handeln als Voraussetzung für die eigene Bedürfnisbefriedigung einzubeziehen.
Lässt man sich auf die Commonslogik einmal ein, so verschwindet der Schein der „Natürlichkeit“ von Tausch, Wert und Markt sehr schnell. Statt einen permanenten Umweg über den geldvermittelten Markt zu gehen, der Bedürfnisse immer nur radikal reduziert und von anderen Bedürfnissen getrennt abbilden kann, liegt es nahe, Bedürfnisse direkt und in Relation zu anderen Bedürfnissen zu befriedigen. Ursache der im Wortsinne „verrückten“ Logik der Warenproduktion ist der Doppelcharakter der Ware, deren Erkenntnis Marx als den „Springpunkt“ zum Verständnis der politischen Ökonomie bezeichnete. Und, so ist heute zu ergänzen: zum Verständnis der Commons als Aufhebung der Warenform. So wie die Ware die „Elementarform“ (Marx) der kapitalistischen Produktionsweise (samt abgespaltener Reproduktionssphäre) ist, so ist das Commons die Elementarform einer commonistischen Re-/Produktionsweise, in der die Spaltung in die Sphären von Ökonomie und Care aufgehoben ist.
Vom Kopf auf die Füße
Immer wieder wird das Verhältnis von Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnissen im Sinne eines vorgeblichen Ableitungszusammenhangs vereinseitigt. Die beiden möglichen Vereinseitigungen können sich dabei auf Marx berufen. Die technozentrisch verkürzte Sicht der Produktivkraftentwicklung zitiert diesen Marx:
Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten.“14
Die politizistisch-eigentumfixierte Vereinseitigung zitiert hingegen diesen Marx (zusammen mit Engels):
In diesem Sinn können die Kommunisten ihre Theorie in dem einen Ausdruck: Aufhebung des Privateigentums, zusammenfassen.“15
Doch es gibt kein erst-dann. Es gibt weder einen Automatismus der Technik, die neuen soziale Verhältnisse hervorbringt, noch lassen sich soziale Verhältnisse auf Eigentumsverhältnisse reduzieren. Es geht um das Ganze der Produktionsweise:
Mit der Erwerbung neuer Produktivkräfte verändern die Menschen ihre Produktionsweise, und mit der Veränderung der Produktionsweise, der Art, ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, verändern sie alle ihre gesellschaftlichen Verhältnisse.“16
Interessanterweise geht dieser Satz dem viel zitierten Dampfmühlen-Satz von oben unmittelbar voraus. Die Art den Lebensunterhalt zu gewinnen zeigt das aus meiner Sicht angemessene Verständnis von Produktionsweise, denn es schließt alle Beiträge zu den notwendig zu erledigenden Tätigkeiten in einer Gesellschaft ein, solche aus Ökonomie wie aus Care. Zur Aufhebung des Kapitalismus gehört jedoch die Einsicht, dass weder Ökonomie noch Care in ihrer je spezifischen Logik bestehen bleiben, sondern beide als Sondersphären verschwinden werden. Es geht sowohl in Produktion wie Reproduktion schlicht um die vorsorgende Herstellung unserer Lebensbedingungen, um eine neue Art, unseren Lebensunterhalt zu gewinnen, die alle Menschen einschließt. Die Commons bieten hierfür das angemessene theoretische und praktische Paradigma. Der Commonismus ist kein Ideal, nach der sich die Wirklichkeit zu richten hat, sondern die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt – in voller Widersprüchlichkeit.
Anmerkungen
1 Vgl. zu den drei Voretappen Stefan Meretz: Zur Theorie des Informationskapitalismus. Teil 2: Produktive und unproduktive Arbeit. In: Streifzüge 2/2003. S. 41-46.
2 Etwa bei Friedrich A. v. Hayek: Wirtschaftstheorie und Wissen (1936). In: Viktor Vanberg ( Hg.): Wirtschaftstheorie und Wissen. Aufsätze zur Erkenntnis- und Wissenschaftslehre, Tübingen 2007. S. 137-158.
3 Eric S. Raymont: The Cathedral & the Bazaar. Musings on Linux and Open Source by an Accidental Revolutionary. Revised edition. Beijing u. a. 2001.
4 Pierre-Paul Grassé: La reconstruction du nid et les coordinations inter-individuelles chez Bellicositermes natalensis et Cubitermes sp. La théorie de la stigmergie: Essai d’interprétation du comportement des Termites constructeurs, in: Insectes Sociaux 6/1959. S. 41–83.
5 Karl Marx: Das Kapital, Erster Band. In: Marx-Engels-Werke 23. Berlin 1962. S. 512.
6 Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. In: Marx-Engels-Werke 42. Berlin 1983. S. 395f.
7 Dieter Sauer: Arbeit im Übergang – Gesellschaftliche Produktivkraft zwischen Entfaltung und Zerstörung. In: Marxistische Abendschule Hamburg (Hg.): Aufhebung des Kapitalismus. Die Ökonomie einer Übergangsgesellschaft. Hamburg 2015. S. 255.
8 Gabriele Winkler: Zur Krise der sozialen Reproduktion. In: Denknetz Jahrbuch. Zürich 2013. S. 119-133.
9 Frigga Haug: Familienarbeit/Hausarbeit. In: Das Argument 207. Hamburg 1994. S. 915.
10 Friederike Habermann: Keine glatten Wege. In: Seitenwechsel. Die Ökonomien des Gemeinsamen. Böll.Thema 1/2014, S. 38.
11 Christa Wichterich: Bausteine von Zukunft und der Charme des Selbermachens. Wider den care- und ressourcen-extraktivistischen Kapitalismus. In: Aaron Tauss (Hrsg.): Sozial-ökologische Transformationen. Das Ende des Kapitalismus denken. Hamburg 2016. S. 183-204.
12 Günter G. Voss, Hans J. Pongartz: Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der »Ware Arbeitskraft«? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 50 (1998). S. 131-158.
13 Gabriele Winkler, Tanja Carstensen: Eigenverantwortung in Beruf und Familie – vom Arbeitskraftunternehmer zu ArbeitskraftmanagerIn. In: Feministische Studien 25 (2007). S. 277-288.
14 Karl Marx: Das Elend der Philosophie. In: Marx-Engels-Werke 4. Berlin 1972. S. 130.
15 Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. In: Marx-Engels-Werke 4. Berlin 1972. S. 475.
16 Karl Marx: Das Elend der Philosophie. In: Marx-Engels-Werke 4 Berlin 1972. S. 130.
Den Bezug auf Industrie 4.0 verstehe ich nicht so ganz. Selbstorganisation im Dienste der Kapitalverwertung („Tut was ihr für richtig haltet, aber seid profitabel!“) ist doch schon ein ziemlich alter Hut, der im Grunde für die gesamte postfordistische Epoche charakteristisch ist?
Außerdem: Ist der Satz „Mit der Erwerbung neuer Produktivkräfte verändern die Menschen ihre Produktionsweise…“ nicht ebenso technozentrisch verkürzt wie der Dampfmühlen-Satz? Auch hier wird von einem Primat der Produktivkräfte ausgegangen — neue Produktivkräfte führen zu einer Veränderung der Produktionsweise und nicht etwa andersherum. Während etwa die marxistische Historikerin Ellen Wood zumindest in Bezug auf die Entstehung des Kapitalismus für ein Andersherum plädiert: erst kam der englische Agrarkapitalismus, dann und deshalb die (erste) industrielle Revolution.
@Christian:
Nicht, wenn man ihn umfassend versteht, wie der zweite von dir gekürzte Teil der Satzes sagt: „…und mit der Veränderung der Produktionsweise, der Art, ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, verändern sie alle ihre gesellschaftlichen Verhältnisse“ — und ich es danach entsprechend interpretiere. Ob Marx das nicht trotzdem eher deterministisch gedacht hat, weiß ich nicht.