Der schwierige Weg der Transformation
Ein Gespräch zwischen Andreas Exner und Stefan Meretz
Teil 1
[Erschienen in: Grundrisse 42/2012]
Andreas Exner und Stefan Meretz bloggen regelmäßig zu Fragen der gesellschaftlichen Transformation (auf social-innovation.org und keimform.de) und unterstützen die Initiative demonetize.it. Doch über das „Wie“ der Transformation und Demonetarisierung gibt es unterschiedliche Auffassungen. Das ist das Thema des folgenden Gesprächs.
Stefan: Ich denke, dass die Aufhebung des Kapitalismus kein schlagartiges Ereignis sein kann, keine Revolution im Sinne eines Aufstands, nach dem alles anders wird, sondern ein widerspruchsvolles Herauswühlen aus den sozialen Formen ist, die der Kapitalismus ein paar hundert Jahre lang als scheinbar „natürliche“ etabliert hat. Doch wie sind die Widersprüche in der Übergangsphase beschaffen? Wie kann verhindert werden, dass sich neue Ansätze doch nur als Modernisierungsimpulse für die „alte Scheiße“ (Marx/Engels) entpuppen? Welche Triebkräfte sorgen dafür, dass Widersprüche „nach vorne“ in Richtung Emanzipation gelöst werden? Um welche Widersprüche geht es aus deiner Sicht?
Andreas: Da stellst du gleich eine Reihe großer Fragen. Lass mich mal damit beginnen, wie man überhaupt diese „Natürlichkeit“ der herrschenden Verhältnisse angehen kann. Da reicht ein Aufstand bei weitem nicht, weil, wie du sagst, die sozialen Formen des Kapitalismus über einen langen Zeitraum hinweg mit Gewalt etabliert worden sind – Geld und Markt, Lohnarbeit und Kapital, der Staat. Der Staat und seine Vorläufer hielten die auch immer dann, wenn sie praktisch infrage gestellt worden sind, mit Gewalt aufrecht. Wenn wir von sozialen Formen sprechen, dann haben die auch einen Inhalt, und der ist im Kapitalismus letztlich die Herrschaft von Menschen über Menschen. Auch dieser Inhalt wird als „natürlich“ angesehen, nicht nur seine spezifischen Formen. Auch wenn der eine Aufstand nicht ausreicht – aufständisches Denken und Handeln halte ich dennoch für sehr wichtig, um überhaupt mal diese „Natürlichkeit“ aufzulösen.
Exklusionslogik und Herrschaft
Stefan: Aus meiner Sicht liegt das Problem noch tiefer. Wir leben ja nicht mehr im Feudalismus, wo tatsächlich und unmittelbar Menschen über Menschen herrschten. Re-Feudalisierungen lasse ich mal außen vor. Heute läuft das vermittelter, wobei der Inhalt in der verselbstständigten Verwertungslogik des Kapitals besteht: Aus Geld muss mehr Geld werden. Diese Logik des „ich muss mich rechnen“ ist das, was als „natürlich“ empfunden wird, oder zumindest als alternativlos. Allerdings ist es richtig, dass sich innerhalb dieser Logik, wo sich strukturell die Einen immer auf Kosten von Anderen durchsetzen müssen, gerade jene Menschen austoben können, die die Exklusions-Logik verinnerlicht haben und gleichzeitig über Machtmittel verfügen. Diese Erscheinungen würde ich allerdings nicht zur eigentlichen Ursache erklären.
Vielleicht ist das der Grund, warum ich mit dem bloßen Aufstand so meine Probleme habe. Was ist denn der Inhalt des aufständigen Denkens und Handelns? Ein Aufstand hat eine sehr kurze Reichweite, wenn er der Verwertungslogik keinen eigenen Inhalt entgegensetzen kann, wenn er also keine Vorstellung davon hat, wie die Lebensbedingungen jenseits des Sich-rechnen-müssens so geschaffen werden, dass alle gut leben können. Da reicht es nicht aus, einfach nur eine Umverteilung zu fordern, weil diese die Verwertungslogik nicht antastet. Grundsätzlich spricht nichts gegen Aufstände und Umverteilungen, aber für eine Lösung reichen sie nicht hin. Meine Kernfrage ist demzufolge: Was ist unser eigener Inhalt?
Andreas: Nun, wenn man sich ansieht, wie der Kapitalismus funktioniert, dann sieht man in der Tat, dass hier ganz konkrete Menschen über Menschen herrschen: im Betrieb, im Staat, in der Familie etc. Das ist aus meiner Sicht genau die Exklusions-Logik, von der du sprichst. Das Kapital ist der systematische Ausschluss der meisten Menschen von der Verfügung über Produktionsmittel, Maschinen, Gebäude, Rohstoffe, Land etc. Dieser Ausschluss nimmt die Form von Geld an und wird mit Gewalt gesichert, das Kapital ist eine bestimmte Form von Herrschaft. Herrschaft ist so gesehen kein Austoben, sondern steckt schon in der Geldform und im Kapital drinnen.
Richtig ist, dass diese Herrschaft den Beherrschten nicht immer einsichtig ist und auch den Herrschern nicht in allen Aspekten. Darüberhinaus kontrollieren die Herrschenden nicht das Gesamtsystem, in dessen Formen sie ihre Herrschaft ausüben. Das war aber auch im Feudalismus so. Die Ausübung von Herrschaft ist, so denke ich, generell nicht das Ergebnis eines sich selbst einsichtigen und souveränen Bemühens, sondern eine Form der Ohnmacht, des Unterworfenseins: Der Herrschende glaubt Stärke, Autonomie aus der Dominanz über andere zu gewinnen, diese vermeintliche Autonomie unterliegt aber dem Zwang, andere zu kontrollieren.
Den eigentlichen Unterschied zwischen dem Feudalismus und dem Kapitalismus sehe ich nicht in der Unpersönlichkeit von Herrschaft. Um ein Beispiel zu nehmen: Die Kirche agierte ihrer Ideologie gemäß nicht als eigenständige Institution, sondern als eine Einrichtung Gottes. Der Adlige war von Bluts wegen von der Bäuerin unterschieden, er agierte als Verkörperung einer Abstammungslinie. Die feudale Herrschaft war so gesehen ebenso fetischisiert, wenn man so will unpersönlich, wie die kapitalistische, aber auf eine andere Art. Die für beide Gesellschaftsordnungen notwendige Gewaltausübung ist jedoch letztlich immer persönlich.
Ein wichtiger Unterschied scheint mir vielmehr darin zu liegen, dass im Kapitalismus die relative Freiheit der Herrschenden durch die Geldform (den Markt) geprägt und limitiert ist. Die Marktkonkurrenz und der Klassenkampf zwingen sie dazu, einen großen Teil des Mehrprodukts, das sie sich aneignen, zu investieren. Zugleich erlaubt es die von den Produktionsmitteln getrennte Arbeitskraft, die Investitionen dazu zu nutzen, Arbeitskräfte durch Maschinen zu ersetzen und das Mehrprodukt zu vergrößern. Allerdings sollten wir die Freiheit der Feudalherrscher auch nicht zu hoch veranschlagen.
Die gesellschaftliche Substanz des abstrakten ökonomischen Werts, der sich im Geld ausdrückt, ist die abstrakte Arbeit, jene Tätigkeit also, die dem Kommando der Kapitalisten unterworfen ist, sich gegen Kapital austauscht. Gerade der uneingeschränkte Geltungscharakter dieses Kommandos über den Menschen, das Faktum, dass im Kapitalismus die Herrschaft eine von konkreten Bestimmungen abgelöste Form erhalten hat, ist das Wesen des Geld-Werts.
Wenn der Inhalt der sozialen Formen des Kapitalismus – und soziale Formen sind immer unpersönlich – die Herrschaft von Menschen über Menschen ist, dann muss unser eigener Inhalt der einer egalitären, kommunitären Beziehung von Menschen mit Menschen sein. So gesehen stellt sich das Problem nicht allein in der Weise, dass wir bloß eine neue Form der Vermittlung unseres gesellschaftlichen Stoffwechsels finden müssen. Der Kapitalismus ist etwas anderes als nur eine missglückte Art, den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur zu regulieren.
Allerdings muss dieser Stoffwechsel in der Tat reguliert werden – und zwar ohne Herrschaft. Das „Nein!“ eines fortgesetzten aufständischen Denkens und Handelns lässt sich nicht beirren, es verweigert sich der Logik des Sich-Rechnens und erschöpft sich nicht in Umverteilung. Aus dem „Nein!“ muss freilich ein „Ja“ erwachsen. Da bin ich ganz bei dir. Wo dieses „Ja“ anknüpfen kann, und was es eigentlich will, wird nach und zugleich mit dem „Nein!“ entscheidend.
[→Teil 2]
Zumal auch andere Nöte Aufstände provozieren können als eine nicht mehr akzeptierte, als schändlich und schädlich erkannte Verteilung von Möglichkeiten eines guten Lebens entsprechend des jeweilgen Bedarfs bzw. der jeweiligen Bedürfnisse oder Sehnsüchte.
Allmähliches Herausarbeiten aus Verhältnissen, die Unzufriedenheit der unterschiedlichen Art produzieren oder Zufriedenheit mit schändlichen Strukturzwängen, (die zwar als schädlich, gefährlich usw. erkennbar wären aber als nach mitmenschlichen Maßstäben nicht gestaltbare Naturgewalt auftreten und akzeptiert werden oder als bloße intellektuelle Irrtümer erscheinen) dürfte immer wieder auch von Aufständen gegen einzelne, akut als bezwingbar geltende Erscheinungen der unhaltbar gewordenen Strukturzwänge begleitet und dabei entscheidend voran gebracht werden.
Siehe dazu etwa Rosa Luxemburgs „Sozialreform oder Revolution“
Gruß hh
Wenn der Begriff „Herrschaft“ mehr als nur ein ideologisierter Fetischbegriff sein soll, der Herrschaft als einen zu tötenden Dämon fixiert, was dann „Antiherrschaft“ zur fixen Drachentöteridee macht, sollte der meines Erachtens nicht von „Ausbeutung“ und beides nicht von den historischen Möglichkeiten im Hinblick auf den Stand der menschlichen „Produktivkraftentwicklung“ getrennt werden.
Tatsächlich hatte die den Feudalismus charakteresierende Sichtbarkeit der – historisch spezifisch engen – Verknüpfung von politischer Herrschaft und Ausbeutung wohl auch deshalb religiös und abstammungsideologisch verbrämt werden können, weil historische Sachzwänge die nicht unbedingt sichtbar waren, (etwa die Notwendigkeit einer militärischen Schutzmacht oder die Unmöglichkeit, diese, weil zugleich Mittel der eigenen Ausbeutung, zu bezwingen) dies als rational (= auch für das eigene Leben zweckdienlich oder zumindest unvermeitlich) erscheinen ließen.
Das charakteristische Sichtbare an der feudalistischen Form von Ausbeutung (so und so viel Arbeitszeit für die eigene bäuerliche Reproduktion, so und so viel Arbeitszeit für die Reproduktion der fürstlichen Herrlichkeiten) und der engen Verknüpfung mit direkter politischer Herrschaft der Ausbeuter, verschwindet aber mit dem Kapitalismus – obwohl die Ausbeutung der Bauern mit dem Siegeszug des Geldes/Fernhandelskapitals und des Übergangs zur entsprechenden, monetären Besteuerung (u.a. mittels Heimarbeit) diese – noch feudalistische – Ausbeutung zunächst einmal ins Unerträgliche steigerte.
Für den Kapitalismus charakteristisch ist die Unsichtbarkeit der Ausbeutungsverhältnisse und eben auch die relative Trennung von Staat (= politischer Herrschaft = gesetzgeberische Absicherung der sozialen Ausbeutungsverhältnisse) und der (ausbeuterischen bzw. nicht von einer Gemeinschaft freiwillig assoziierter Menschen rational steuerbaren) Gesellschaft. Weshalb das Ausbeuterische bzw. die Unmöglichkeit einer gesamtgesellschaftlich rationalen Steuerung des Produzierens als unpolitische Sachzwänge und die staatlichen Tätigkeiten als durchaus rational empfunden werden in so fern sie den Eindruck vermitteln, demokratisch regiert und insgesamt zivilisierend zu wirken.Überwindng von Ausbeutung und Herstellung kollektiver (am Ende weltgemeinschaftlicher) Selbstbeherrschung müssen daher Hand in Hand gehen.
Die hier oft bemühte Kritik „der Ausgrenzungslogik“ des Kapitalismus scheint mir zu kurz zu greifen. Die scheint mir auszublenden, dass gerade die große Fähigkeit kapitalistischer Formen der Arbeitsteilung bzw. Teilung von Mühen, Genuss, Zweckbestimmungsvermögen und Verantwortung, zur Inklusion so große Probleme verursacht (Hunger infolge der Konsum = privateigentümliche Aneignung ankurbelnden Industrialisierung von Landwirtschaft, Überfischung, Bodendegeneration, Verlust an biologischer Vielfalt, Treibhauseffekt usw.). Thema sollte also nicht „die Ausgrenzungslogik“ an und für sich sondern neue Arten der gesellschaftlichen Entscheidungsfindung darüber sein was wo integriert und ausgegrenzt (oder auch zu wessen Gunsten was wachsen und schrumpfen) soll.
@Hans-Hermann: Mit der Inklusion/Exklusion verhält es sich ähnlich wie mit dem Verhältnis Kooperation/Konkurrenz: Es wäre zu schlicht, sie als bloßen Gegensatz nach dem Muster der formalen Logik zu verstehen: entweder – oder. Tatsächlich gibt’s im Kapitalismus permanent Kooperation und Inklusion, aber zum Zweck der Positions-Stärkung in der Konkurrenz bzw. mit der Folge erweiterter Exklusion.
Daher spreche ich auch von Exklusionslogik, die nicht das Gegenteil von Inklusion ist, sondern diese einschließt. Dem steht dann eine Inklusionslogik gegenüber, die sich stets über den Weg weiterer Inklusionen stabilisiert und verstärkt. Dafür stehen die Commons, prinzipiell.
Deine Forderung nach der
finde ich zwar richtig, aber sie ist mir zu abstrakt. Dafür brauchst du einen »Mechanismus der Vermittlung« wie das denn gehen soll. Da müssen wir ran.