Knappheit ist künstlicher Mangel

Die nach meinem Artikel »Piraten und Knappheit und Eigentum« angestoßene Diskussion möchte ich gerne in einem eigenen Artikel fortsetzen (und dabei die Piraten weglassen). The User fragt mich:

Wie definierst du denn Knappheit?

So: Knappheit ist eine soziale Eigenschaft von Gütern, die als Waren hergestellt werden. Knappheit ist Exklusion von der Verfügung über diese Güter. Knappheit ist mithin künstlicher Mangel.

Wenn die Gesellschaftsordnung dafür sorgt, dass nicht alle Bedürfnisse erfüllt werden, ist es Knappheit, wenn die Natur dafür sorgt …, ist es keine Knappheit?

Zunächst zum zweiten Teil der Frage. Die Natur »sorgt« für gar nichts. Es gibt zwar naturbezogene Ausgangsbedingungen, aber im Unterschied zu Tieren finden Menschen ihre Lebensbedingungen nicht bloß (als »Natur«) vor, sondern stellen sie (unter Nutzung von äußerer »Natur«) her. Das ist immer so, eine bloße tierische »Naturversorgung« endete spätestens mit der neolithischen Revolution.

Wenn ein Vergleich mit der Natur als solcher nicht sinnvoll ist, dann müssen wir ganz allgemein davon ausgehen, dass Menschen die Bedingungen und Mittel für ihre Bedürfnisbefriedigung selbst herstellen. Die entscheidende Frage ist nurmehr, wie sie das tun und nicht, ob. Zu den Voraussetzungen der Herstellung der Befriedigungsmittel gehören neben den Naturbedingungen damit auch die soziale Form sowie die Entwicklung der Menschen und ihrer Bedürfnisse. Das zusammen genommen existiert nicht statisch, sondern ausschließlich historisch: Es ändert sich permanent.

Die konsequente historische Sicht ist insbesondere im Falle der Bedürfnisse wichtig. Es gibt nicht »die« menschlichen Bedürfnisse, sondern diese entwickeln sich historisch im Verhältnis zu den Bedingungen und Möglichkeiten ihrer Befriedigung. Zwar ist klar, dass Menschen essen müssen und anderes brauchen, um ihre leibliche Existenz aufrechterhalten zu können, doch was das im Einzelnen ist, das die Existenz aufrecht erhält, und vor allem wie es hergestellt wird, ist historisch völlig unterschiedlich. Ein Definitionsversuch, was Grund- und etwa Luxusbedürfnisse sind, muss folglich scheitern.

Wenn man nun davon ausgeht, dass sich die Bedürfnisse im Verhältnis zu den Möglichkeiten ihrer Befriedigung entwickeln, dann wird niemals ein Zustand erreicht werden, der beide zur Deckung bringt. Es gibt also immer eine Differenz zwischen den Bedürfnissen und den Befriedigungsmöglichkeiten. Hieraus leitet die Ökonomietheorie ab, dass es immer Knappheit geben müsse, dass Knappheit also etwas »natürliches« sei.

Die Ideologie der Knappheit — um nichts anderes handelt es sich — besteht darin, bestimmte jeweils aktuelle Grenzen der Befriedigungsmöglichkeiten in Knappheit umzudeuten. Knapp werden Güter jedoch erst, wenn sie zwar existieren und Bedürfnisse befriedigen könnten, dies aber aufgrund künstlicher Beschränkungen nicht tun, weil man Menschen von einem Zugriff auf diese Güter oder der Möglichkeit, sie herzustellen, ausschließt.

Diese Situation haben wir in der warenproduzierenden Gesellschaft (nur die betrachte ich), die nur funktionieren kann, wenn die meisten Menschen von Befriedigungsmitteln und Mitteln zu ihrer Herstellung ausgeschlossen werden. Warenproduktion braucht und schafft Knappheit als ihre Existenzbedingung, denn nur knappe Güter können Waren sein. Knappheit ist also eine bestimmte soziale Form, Güter zu produzieren. Es ist eine paradoxe Form, da die Güter hergestellt werden, um Knappheit zu begegnen, diese aber nur in der Form der Knappheit, des künstlichen Mangels, existieren können. Knappheit wird perpetuiert.

Was ist nun aber mit den echten Begrenzungen? Es wird immer Grenzen geben (natürliche und soziale), und Menschen werden immer mit diesen Grenzen umgehen. Die Frage ist einzig, wie sie es tun. Die Knappheit ist eine historisch besondere Umgehensweise, bei der sich strukturell die einen auf Kosten der anderen durchsetzen. Während die einen ausgeschlossen werden, sind andere eingeschlossen. Die Ausschluss/Einschluss-Dimensionen können sehr unterschiedlich sein: Geld, Geschlecht, Hautfarbe, Alter, Produktionsmittelverfügung, Staatsangehörigkeit, Clanzugehörigkeit etc.

Wenn jedoch Knappheit eine Form künstlichen Mangels ist, also Mangel eigentlich nicht sein müsste, folgt daraus, dass es auch anders gehen kann. Es kann eine Form der gesellschaftlichen Herstellung der Lebensbedingungen geben, die mit Begrenzungen so umgeht, dass dabei kein künstlicher Mangel — Knappheit — entsteht. Dies kann dann der Fall sein, wenn Güter nicht mehr als Waren produziert werden, die ja die Zwangsknappheit eingebaut haben (a feature, not a bug).

Also nochmal zurück zu der Frage:

Wenn die Gesellschaftsordnung dafür sorgt, dass nicht alle Bedürfnisse erfüllt werden, ist es Knappheit…?

Da niemals alle Bedürfnisse befriedigt werden können, weil es immer eine Differenz gibt (s.o.), unterstellt die Frage etwas, das nicht eintreten kann. Das hat jedoch nichts mit Knappheit zu tun.

Ist das nicht alles ein Gerangel um Worte?

Ja. Worte transportieren Bedeutungen. Fehlen Worte, so fehlt Differenzierungsvermögen. Hier geht es um die Differenzierung von zwei zu unterscheidenden Bedeutungen: (1) den realen Grenzen, die als Mangel empfunden werden, weil sie die Bedürfnisbefriedigung begrenzen, und (2) den durch die Produktionsweise und die Herrschaftsformen erzeugten Mangel.

Das erste nenne ich Begrenzung oder Grenzen, vielleicht auch realer Mangel. Das zweite nenne ich Knappheit oder künstlicher Mangel. Mit erstem werden wir immer zu leben haben und stets neue Möglichkeiten erfinden, real empfundenen Mangel abzustellen (um neuen hervorzurufen etc.). Das zweite, die Knappheit, ist aus der Welt zu schaffen. Einfürallemal.

Kann man diese Differenz sprachlich nicht auch anders unterscheiden? Warum nicht, ich bin für Vorschläge offen.

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