Freie Software als des Staates Helfer
Kürzlich bin ich über ein ältere Publikation gestolpert, die eine mir neue Variante der Kritik an Freier Software im allgemeinen und implizit auch der Keimformhypothese im besonderen lieferte. Es geht um den Aufsatz »Electronic Government und die Free Software Bewegung: Der Hacker als Avantgarde Citoyen« von Christoph Engemann, erschienen in »Politiken der Medien. Medien als Kriegs- und Regierungstechnologien« (diaphanes, 2005, S. 155-171). These des Beitrages ist,
dass die Hacker der Free Software Bewegung … einen der wichtigsten Bausteine der Staatlichkeit im 21. Jahrhundert geschaffen haben — dass sie tatsächlich, wenn auch wahrscheinlich unfreiwillig, Avantgarde-Citoyen waren bzw. in erheblichem Maße sind. (155)
Die Kritik wird deutlich, wenn man noch die Aussage des Autors dazu liest,
dass nicht eine neue revolutionäre Klasse mit der Free Software Bewegung aufgetreten ist, sondern Hacker als Avantgarde-Citoyen agiert haben (168)
Wie geht die Argumentation?
Regierungshandeln braucht Software. Der Staat soll eine technische Infrastruktur und sein Gewaltmonopol bereitstellen, damit über eine Strategie der »Quasi-Vereinzelung« der Kaufsubjekte die Warenförmigkeit digitaler Produkte erzwungen werden können, die sie sonst nicht besitzen bzw. zu verlieren drohen (wg. der Kopierbarkeit). Die Authentifizierungsinfrastruktur kann jedoch nicht auf proprietärer Software basieren, da es dieser an Legitimität aufgrund fehlender Transparenz (Quellcode nicht einsehbar) fehlt:
Allein quelltextoffene Software kann in liberal-demokratischen Rechtsstaaten Basis staatlicher Interventionsfähigkeit sein. Proprietäre Software in staatlicher Nutzung setzt sich dagegen dauerhaft dem Verdacht aus, dass ihr Code nicht gemeinwohlwirksam sein könnte… (162)
Der Autor zitiert Frederico Heinz:
»You might be able to run a dictatorship on Free Software but you simply cannot run a democracy on proprietary Software.« (163) [Du kannst zwar eine Diktatur mit Freier Software betreiben, aber schlicht keine Demokratie mit proprietärer Software]
Da der Staat über den partikularen Interessen stehen müsse, dürfe er seine Souveränität nicht durch Kauf von proprietärer Software an einzelne Hersteller abtreten:
Allein Freie Software … sichert die Souveränität des Staates in der Informationsgesellschaft und damit die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Bedingungen… Durch den einklagbaren Zwang zur Quelltextoffenlegung und -weitergabe ist Freie Software absolut transparent bis auf den Grund des Codes, in dem sich keine fremden, partikularen Interessen mehr verbergen können. (164)
Einen Zwang zur Quelltextoffenlegung gibt es zwar mit den üblichen freien Lizenzen nicht, sondern nur dann, wenn die Software weitergegeben wird, was in der Entscheidung des Anwenders (als Auftraggeber) liegt. Aber das nur am Rande. Entscheidend ist für den Staat:
Einmal unter einer Copyleft-Lizenz veröffentlicht, ist die (Re-)Kommodifizierung der Software so gut wie unmöglich und damit bleiben auf Software rekurrierende staatliche Handlungsgrundlagen unantastbar öffentliches Gut. (165)
Nun kommt die Kritik: Da die GPL als bekannteste Copyleft-Lizenz auf dem Urheberrecht basiert,
…rekurriert [sie] selbst auf staatliche Gewalt, qua Gewaltmonopol Recht zu setzen und durchsetzen zu können. In Anerkennung der Verhältnisse … hat die GPL und die Free Software-Bewegung nie außerhalb des Kapitalismus gestanden. Sie war vielmehr eine Avantgarde … (und) verhilft dem Staat in einer neu entstandenen Sphäre — dem Internet — zur Legitimität und Souveränität. (169)
Finale:
Es ist paradoxerweise erst die durch die Hacker der Free Software-Bewegung auf Grundlage des Eigentumsrechts verfügte, nicht warenförmige Struktur Freier Software, die Eigentum und damit den Warentausch im und über das Netz ermöglicht. (…) Ohne Eigentumsrecht keine Durchsetzbarkeit (und keine Notwendigkeit von) Freier Software. Und ohne Freie Software keine Durchsetzbarkeit keine Durchsetzbarkeit von Eigentumsrecht in der digitalen Sphäre. Ein wahrhaft dialektischer Verweisungszusammenhang, indem Freie Software nicht auf ein außerhalb des Kapitalismus verweist, sondern seine Widersprüche auf neuem Niveau zusammenschließt. (169)
Bewertung der Kritik
Die vermeintliche Kritik an der Freien Software und unexpliziert an der Keimformthese („ein außerhalb des Kapitalismus“) ist keine. Sie beschreibt weitgehend Selbstverständlichkeiten, die auch von den Vertreter_innen einer wie auch immer verstandenen Keimformthese (z.B. mir) nicht nur nicht bestritten, sondern auch immer wieder dargestellt werden. Keine Freie Software ohne Freie Lizenzen, keine Freien Lizenzen ohne Urheberrecht, kein Urheberrecht ohne Staat. Der Autor hat den Kreis dann sehr schön geschlossen, in dem er zeigte, dass auch der Staat ein vitales Interesse an Freier Software hat. Möge der Staat auf den Autor hören.
Die vermeintliche Kritik wirft eher ein Schlaglicht auf die gesellschaftlichen Transformationsvorstellungen des Autors als das sie die Keimformthese betrifft. Leider hat sich der Autor auf die Keimformthese nicht eingelassen, sondern es bei wagen Zuschreibungen (»neue revolutionäre Klasse«, »subversives Projekt« etc.) belassen. Hier klingt das alt-linke Revolutionskonzept durch, nach dem eine revolutionäre Klasse auf den Plan tritt und die herrschende Klasse beseitigt bzw. sich selbst an deren Stelle setzt. Gerade damit bricht die Keimformthese vollständig, auch wenn zum Beispiel hier hin und wieder über den alten Klassenkampfismus diskutiert wird.
Was ich bei dieser Kritik-Konstruktion nicht verstehe, ist die Vorstellung von der Existenz eines »Revolutionärs«: Ist das jemand, der außerhalb der Gesellschaft steht und täglich sein subversiv‘ Werk verrichtet? Dito in Bezug auf eine Bewegung: Existiert sie außerhalb des Kapitalismus und untergräbt ihn stets und ständig? Dies scheint die Folie zu sein, vor dessen Hintergrund festgestellt wird, dass sich die einzelnen Menschen täglich in den Formen von Ware und Geld bewegen und damit den Kapitalismus (re-)produzieren. Und dito für jegliche Bewegung, die etwa die staatlich garantierten Bewegungsformen in Anspruch nimmt (aka Demokratie) und den Staat damit anerkennt. Alles oder nichts lautet im Kern die dichotome Denkweise.
Nun ist das interessante an der Kritik nicht die Kritik, sondern der Hinweis, dass der Staat in der Tat strukturell ein Interesse an der Freien Software hat. Dies gilt selbstverständlich auch für den kapitalistischen Kernbereich selbst, worauf Sabine Nuss hingewiesen hat und was ich ebenfalls in zahlreichen Artikeln dargestellt habe. Die Besonderheit der Keimformthese besteht nun aber gerade darin, zu erkennen, dass das so sein muss. Ein Neues kann sich im Alten nur durchsetzen, wenn das Neue auch innerhalb der alten Logik eine positive Funktion erfüllt. Der zu diskutierende Knackpunkt ist allerdings stets die Frage, ob denn das behauptete Neue tatsächlich auch gleichzeitig eine unvereinbare und damit systemsprengende Potenz hat, die nicht durch die positive Funktionalität des Neuen im Alten absorbiert wird. Diese Dialektik gilt es zu rekonstruieren und zu diskutieren.
Zu diesem Punkt ist der Autor jedoch leider nicht vorgedrungen. Das liegt sicher daran, dass er über weite Strecken von der Freien Software Bewegung schreibt, aber durch Zuschreibung vermeintlich subversiver Eigenschaften sich an (s)einem alten Revolutionsmodell abarbeitet. Durch die Dichotomie »subversiv vs. affirmativ« kommen die realen Widersprüche gar nicht erst in den Blick. Auf der Oberfläche heisst es nur: Freie Software braucht Staat und vice versa. Sabine Nuss hat hingegen diese zirkuläre Struktur (Freie Software braucht Ökonomie und vice versa) erkannt und versucht ein Kriterium außerhalb zu finden: Das Bewusstsein der Akteure. Da sie dort allerdings auch nicht fündig wird, kommt sie zum gleichen Schluss wie Christoph Engemann: Alles affirmativ unter der Sonne des Kapitals.
Wer den Begriff „Eigentumsrecht“ so holzschnittartig verwendet, kommt ohnehin nicht weiter. Engemann schreibt, als gäbe es nur zwei Optionen: Eigentum ja oder nein. Es ist aber die Frage, welche konkreten Zugangs-/ Nutzungs-/Entnahme-/Veräusserungsrechte jemand individuell erhalten darf oder – im Interesse des Gemeinwohls- verweigert bekommt. Da geht es um neue Grenzziehungen. Diese neuen Grenzziehungen können durchaus aus dem System heraus die Grenzen desselben sprengen, weil sie auf einen anderen Zweck ausgerichtet sind. Statt dem „Zusammenschließen der Widersprüche des Kapitalismus auf höherem Niveau“ wird zum Beispiel die Sphäre gemeingüterbasierten Wirtschaftens erweitert und damit kapitalistische Verwertung entzogen.
Manchmal denk ich, wir brauchen nicht nur eine Diskussion um das Aufbrechen und die Neuausrichtung des liberalen Eigentumsbegriff (konkret: um die Abschaffung absoluter Verfügung über Dinge, die allen zustehen), sondern auch einen neuen Terminus, für „Eigentumsrechte“, die auf das Gemeinwohl gerichtet sind. Mit „Besitz“ kommen wir da auch nicht viel weiter. So jedenfalls mein Eindruck.
@Silke:
Warum nicht?
@Stefan: „Besitz“ enthält nicht die von Silke gewollte Geimwohlorientierung. Das Problem mit dem „Gemeinwohl“ ist halt immer, dass niemand so genau weiss was das ist und sich aber immer jemand findet der meint es anderen sagen zu können.
Dass der demokratische Staat ohne Freie Software nicht existieren könnte, ist natürlich Unsinn – die „Partikularinteressen“ stören ja auch sonst nicht, wenn man privaten Unternehmen öffentliche Aufgaben anvertraut. Das ist auch nichts Neues, wenn man an die entscheidende Rolle der Rüstungsindustrie seit Ende des 19. Jahrhunderts denkt.
Interessanter finde ich die Kritik, dass man im politischen Teil der FS-Bewegung manchmal glaubt, ein zukunftsweisendes Rezept zu haben, und daher auf linke Konzepte generell (nicht nur auf den „Klassenkampfismus“, bei dem das vielleicht ganz gut ist) verzichten zu können glaubt (vgl. z.B. Stefan Mertens, der eine rein technologische Lösung propagiert). Also: Die Freie-Software-Bewegung hat ein gewisses Potential der Entpolitisierung, gerade weil sie sich als technologische Avantgarde empfindet.
Ich halte schon die Definition an sich für einigermaßen kurios, der Staat müsse über Partikularinteressen stehen. Empirisch lässt sich doch eher das Gegenteil nachweisen (nicht erst wenn der Staat Aufträge an private Firmen vergibt oder mit Steuergeldern für Banken bürgt).
Indem der Staat qua Gewaltmonopol das Privateigentum garantiert und im Zweifelsfall eben damit dafür sorgt, dass es in jedem Fall dabei bleibt, schafft er doch (analytisch betrachtet) erst Partikularinteressen. Das ‚übergeordnete‘ Staatsinteresse besteht doch gerade darin, dass die Individuen ihre Partikularinteressen verfolgen und zwecks deren Durchsetzung gegeneinander konkurrieren. Darüber hinaus konkurriert er zu eben diesen Zwecken mit seinesgleichen und behandelt spezifische Partikularinteressen gesondert, indem er sie zum Anliegen von ‚Gemeinwohl‘ macht.