Materielle Peer-Produktion – Teil 1: Aufwandsteilung
[This is the German translation of the original English article.]
Voriger Teil: Merkmale der Peer-Produktion.
Das erste charakteristische Merkmal der Peer-Produktion besteht darin, dass der zum Erreichen der Ziele eines Projektes benötigte Aufwand unter den Menschen aufgeteilt wird, denen das Vorhaben wichtig genug sind, um dazu beizutragen. Wie dieses Teilen organisiert wird, hängt von der Art des Projekts ab.
Projekte, die Freie Software oder Freies Wissen produzieren, setzen auf eine Methode, die Francis Heylighen [2007] als „stigmergisch“ (Hinweis-basiert) beschreibt. Die Arbeit, die in solchen Projekten geleistet wird, hinterlässt Zeichen (griechisch stigma) oder Hinweise, die andere motivieren, damit fortzufahren. Beispiele für solche Hinweise sind To-Do-Listen, Bug Reports und Feature Requests in Freien Software-Projekten; und „rote Links“ auf fehlende Artikeln sowie Listen von „Fehlenden Artikeln“ und „Artikelwünschen“ in der Wikipedia. Sie weisen Beteiligte und potentielle Beteiligte auf lohnende Aufgaben hin.
Dieses Hinweissysteme dient auch als informeller Mechanismus für die Priorisierung von Aufgaben: je mehr Menschen eine Aufgabe wichtig ist, desto wahrscheinlicher wird sie jemand in Angriff nehmen (da die entsprechenden Hinweise sichtbarer und deutlicher werden dürften, und da Menschen sich eher um Dinge kümmern, die ihnen selbst am Herzen liegt). Und da sich jede/r selbst aussucht, wo sie sich einbringt, sind die Beteiligten im Allgemeinen motivierter als in Markt-basierten Systemen, wo man den Anweisungen eines Vorgesetzten oder Kunden Folge leisten muss. Zudem suchen sich die Beteiligten meist Aufgaben auf, die sich sich am ehesten zutrauen, was dazu führt, dass die unterschiedlichen Kenntnisse und Fähigkeiten der Beitragenden nahezu optimal eingesetzt werden.
Für Projekte, die frei kopierbare Güter herstellen, macht ein solches Hinweis-basiertes System mit unbeschränktem Zugang und freiwilligen Beiträgen sehr viel Sinn. Da zusätzliche Nutzer/innen dem Projekt keine nennenswerten Mehrkosten verursachen, gibt es keinen Grund, Leute, die nichts beitragen, von der Nutzung des Projekts abzuhalten. Zudem besteht bei zusätzlichen Nutzer/innen immer die Möglichkeit, dass sie sich auf einen der Hinweise einlassen und anfangen, selbst aktiv zu dem Projekt beizutragen. Und selbst passive Nutzer sind oft gut für das Projekt, weil sie die Motivation der Beteiligten erhöhen können (es ist befriedigender, an Dingen zu arbeiten, von denen man weiß, dass sie gebraucht und genutzt werden).
Die Sache ändert sich, wenn der von zusätzlichen Nutzer/innen verursachte Mehraufwand so hoch wird, dass er nicht mehr allein durch Hinweise und freiwillige Beiträge ausgeglichen werden kann. In solchen Fällen braucht es explizitere Vereinbarungen darüber, wie der nötige Aufwand aufgeteilt wird. Im Falle von BitTorrent erfordert das Zulassen von zusätzlichen Nutzer/innen hauptsächlich zusätzliche Bandbreite, daher wird von den Nutzern erwartet, selber Bandbreite beizutragen. Bei der materiellen Produktion ist das primäre Bottleneck dagegen Aufwand – Zeit, die Leute für das Projekt aufwenden, um Dinge zu tun, die getan werden müssen, damit das Projekt seine Ziele erreichen kann. (Sollen Fahrräder produziert werden, gehören zu den notwendigen Aufgaben beispielsweise die Erstellung von Designs und Prototypen, das Zusammenbauen der Fahrräder selbst, sowie Bau, Unterhalt, und Reinigung einer Fabrik, in der die Fahrräder hergestellt werden.) Vorbedingung für die Nutzung der materiellen Ergebnisse (z.B. Fahrräder) eines solches Projekts dürfte somit vermutlich sein, dass man selbst einen gewissen Aufwand zum Projekt beiträgt (neben Aufwand werden Projekte oft auch Ressourcen brauchen – darum wird es in Teil 3 gehen). Auf diese Weise können die Aufgaben, die erledigt werden müssen, damit das Projekt produzieren kann, was es produzieren will, unter denjenigen aufgeteilt werden, die diese Produkte nutzen wollen. (Sie denken jetzt vielleicht, dass es verrückt wäre, für jedes kleine Ding, das man haben will, gesondert Aufwand beitragen zu müssen? Ich bitte um Geduld – darum wird es im nächsten Teil gehen.)
Wie man Aufwand aufteilen kann – gewichtete Arbeit
Ein Projekt könnte alle potenziellen Nutzer/innen bitten, jeweils ungefähr gleich viel Aufwand beizutragen, um so den Produktionsaufwand etwa gleichmäßig aufteilen. Aber wie kann man Aufwand vergleichen? Aufwand ist Zeit, die man dem Projekt widmet – Zeit, die man damit verbringt, Aufgaben zu erledigen, die notwendig sind, damit das Projekt seine Ziele erreichen kann. Beide Faktoren sind wichtig. Wenn das Projekt nur die Zeit messen würde, die man ihm widmet, unabhängig davon, welche Aufgaben man übernimmt, hätte es wahrscheinlich Schwierigkeiten, alle zu erledigenden Aufgaben aufzuteilen. Es gäbe beliebte Aufgaben, für die sich mehr Freiwillige melden würden als benötigt, während es für andere, weniger beliebte Aufgaben an Freiwilligen mangeln würde.
Dieses Problem kann dadurch gelöst werden, dass man den Zeit-Faktor und den Aufgaben-Faktor ausbalanciert. Dieses Konzept nenne ich gewichtete Arbeit: die Zeit, die man dem Projekt widmet, wird mit einem Faktor multipliziert, der die Popularität der Aufgabe, die man erledigt, ausdrückt. Wenn es mehr Freiwillige gibt als nötig, wird dieser Faktor (das Arbeitsgewicht) gesenkt; fehlt es an Freiwilligen, wird er erhöht. Beliebte Aufgaben (z.B. Softwareentwicklung) werden somit ein niedriges Arbeitsgewicht bekommen (z.B. 0,5), während unbeliebte Aufgaben (z.B. Müllabfuhr) ein hohes Arbeitsgewicht erhalten (z.B. 2,0). Das bedeutet, dass Leute, die zehn gewichtete Stunden zu dem Projekt beitragen sollen, sich entscheiden müssen, ob sie lieber zwanzig Stunden mit Softwareentwicklung verbringen oder fünf Stunden mit Müllabfuhr (vorausgesetzt, dass sie beides können). Wer die unbeliebte Aufgabe wählt, hat den Vorteil, dass ihr/ihm mehr Zeit für andere Aktivitäten außerhalb des Projekts bleibt.
Ein solches System zur Aufgabengewichtung hat gewisse Ähnlichkeiten mit den Hinweis-basierten Systemen zur Verteilung von Aufgaben, die Francis Heylighen beschreibt. Hohe Arbeitsgewichte sind eine Art Hinweise, die die Beteiligten zu den Aufgaben führen, deren Erledigung am meisten gewünscht wird.
Wie man Nutzung an Beiträge koppeln kann
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie der Aufwand, der erforderlich ist, um die Ziele eines Projekts zu erreichen, unter den Leuten aufgeteilt werden kann, die die Ergebnisse des Projekts nutzen wollen. Zunächst wird sich das Projekt entscheiden müssen, ob der Umfang der Beiträge an den Umfang der Nutzung gekoppelt werden soll.
Ohne eine solche Kopplung muss der insgesamt nötige Aufwand mehr oder weniger gleichmäßig unter allen Nutzer/innen aufgeteilt werden. Die Ergebnisse des Projekts werden dann allen Beteiligten zur freien Verfügung gestellt, so dass sich jede/r Beteiligte nach Belieben aus ihnen bedienen kann. Diese Variante bezeichne ich als Flatrate-Modell, da sie den beliebten Flatrate-Angebote für Internet-Zugang und Telefonie ähnelt, wo man eine feste Gebühr zahlt, die unabhängig davon ist, wie viel und wie lange man tatsächlich online ist bzw. telefoniert.
Alternativ können sich Projekte dafür entscheiden, den Umfang der Beiträge an den Umfang der Nutzung zu koppeln (wie BitTorrent es tut) – je mehr man entnehmen will, desto mehr muss man beitragen. Falls der notwendige Produktionsaufwand bei allen Gütern, die das Projekt herstellt, ungefähr gleich ist, bedeutet dies, dass der beizutragende Aufwand von der Anzahl der Güter, die man haben will, abhängt. Alle, die nur ein Fahrrad wünschen, tragen ungefähr gleichviel bei (genau wie im Flatrate-Modell); aber alle, die zwei Fahrräder wollen, müssen doppelt so viel beitragen (und so weiter). Dieses Modell bezeichne ich als flache Allokation. In diesem Modell teilt sich der insgesamt notwendige Produktionsaufwand proportional zur Anzahl der produzierten Güter auf, während er sich im Flatrate-Modell proportional zur Anzahl der Teilnehmer/innen aufteilt.
Projekte, die verschiedene Arten von Gütern mit unterschiedlichem Produktionsaufwand herstellen (Fahrräder, Motorräder, Autos usw.), können dieses Modell verallgemeinern, indem sie den jeweiligen relativen Produktionsaufwand der verschiedenen Güter berücksichtigen. Wenn die Produktion von Motorrädern dreimal so viel Aufwand benötigt wie die Produktion von Fahrrädern (im Durchschnitt), dann muss jede/r, die/der ein Motorrad will, dreimal so viel beitragen wie die Leute, die ein Fahrrad wollen.
Wie geht man damit um, wenn viele Leute ein bestimmtes Gut haben möchten, aber nicht alle eins bekommen könnten, etwa weil es an verfügbaren Ressourcen mangelt? Beispielsweise werden vermutlich mehr Bewohner/innen von an der See gelegenen Gemeinden Wohnungen und Häuser mit Meerblick vorziehen, als der verfügbare Raum erlaubt. Für solche Fälle sind verschiedenen Lösungen denkbar, beispielsweise könnte man die verfügbaren Güter zufällig per Losverfahren verteilen. Dann ist es Glückssache, welche Interessent/innen ein Gut bekommt und welche nicht. Aber es gibt auch eine weniger willkürliche Lösung, die ohne den Faktor Zufall (Glück) auskommt und deshalb vielleicht besser ist. Diese besteht darin, dass man die Stärke der Wünsche der verschiedenen Interessent/innen berücksichtigt, indem man sie fragt, wie viel sie bereit sind beizutragen, um das gewünschte Gut zu bekommen. Wenn es mehr Nachfrage nach einem Produkt gibt, als befriedigt werden kann, kann das Projekt dieses Produkt somit „versteigern“: es kann die relativen Kosten (den erforderlichen Aufwand) für das Produkt so lange erhöhen, bis es sich hinreichend viele der potenziellen Nutzer/innen anders überlegen. Dieses Modell bezeichne ich als Präferenzgewichtung, weil die Präferenzen (Vorlieben) der Menschen in Bezug auf die Güter, die sie haben wollen, „gewogen“ werden (ähnlich wie im oben diskutierten Modell der gewichteten Arbeit die Beliebtheit von unterschiedlichen Aufgaben „gewogen“ wird).
Wichtig hierbei ist, dass es immer nur die relativen Kosten sind, die modifiziert werden – ein Anstieg der relativen Kosten (benötigten Beiträge) für ein bestimmtes Produkt führt automatisch dazu, dass die relativen Kosten für alle anderen Produkte fallen, da der insgesamt erforderliche Produktionsaufwand ja derselbe bleibt. Auch wenn Güter versteigert werden, wird der Produktionsaufwand nach wie vor unter den Leuten, die die Projektergebnisse nutzen wollen, aufgeteilt, nur passiert dies nun in veränderter Weise: wer ein versteigertes Gut erhält, muss nun zusätzliche Beiträge leisten, während alle, die andere (in ausreichender Menge produzierbare) Güter haben wollen, etwas weniger beitragen müssen.
Es ist auch wichtig, zu verstehen, dass hier kein Austausch zwischen den Leuten, die ein bestimmtes Gut produzieren, und denen, die es benutzen, stattfindet. Auktionieren wirkt sich nur auf die Kosten eines Gutes aus (die Beiträge, die nötig sind, um es zu nutzen), es ändert nichts an dem tatsächlich notwendigen Produktionsaufwand. Es ist aber dieser Produktionsaufwand, den die Produzent/innen aufbringen und den sie als Beitrag zu dem Projekt anerkannt bekommen. Gäbe es Austausch, würden die höheren Kosten ganz oder teilweise an die Produzent/innen „ausgezahlt“, aber das ist nicht der Fall (für die Produzent/innen ändert sich durch die Auktion gar nichts).
Das oben diskutierte Modell der gewichteten Arbeit und diese flexiblen Allokationsmodelle sorgen gemeinsam dafür, dass sich jede/r gemäß den eigenen Vorlieben frei entfalten kann. Man wird zwar kaum alles umsonst („frei“ wie in „Freibier“) bekommen, da vermutlich auch Projekte, die ihre Güter per Flatrate-Modell verteilen, selten darum herum kommen werden, Beiträge einzufordern, um den entstehenden Aufwand aufzuteilen. Aber Dank Aufgabengewichtung und Präferenzgewichtung könnten sich alle frei entscheiden, ob sie Luxus vorziehen (und welchen Luxus) oder ob sie lieber faul sind; ob sie lieber mehr Zeit dafür aufwenden, um Aufgaben zu erledigen die sie gerne machen oder um Dinge zu bekommen die ihnen wichtig sind, oder ob sie sich mit einfacherem Lebensstil oder der raschen Erledigung von weniger beliebten Aufgaben zufrieden geben, um so mehr Zeit für andere, vom Produktionsprozess losgelöste Aktivitäten zu haben.
Referenzen
- Heylighen, Francis (2007). Warum ist Open-Access-Entwicklung so erfolgreich? Stigmergische Organisation und die Ökonomie der Information. In B. Lutterbeck, M. Bärwolff und R. A. Gehring (Hg.), Open Source Jahrbuch 2007. Lehmanns Media, Berlin. Web: http://www.opensourcejahrbuch.de/portal/articles/pdfs/osjb2007-02-04-heylighen.pdf. Lizenz: Creative Commons BY.
- Siefkes, Christian (2007). From Exchange to Contributions. Generalizing Peer Production into the Physical World. Edition C. Siefkes, Berlin. Web: http://www.peerconomy.org/. Lizenz: Creative Commons BY-NC-SA. Eine deutsche Ausgabe wird im Sommer 2008 im Verlag AG SPAK Bücher, Neu-Ulm, erscheinen (Lizenz: Creative Commons BY-SA).
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