Wir basteln uns ein Vorurteilssystem
Vor über 11 Jahren gab es mal auf einem CCC einen sehr interessanten Vortrag in dem eine Idee vorgeschlagen wurde, die ich schon damals bestechend fand, die aber in dieser Form immer noch nicht umgesetzt wurde. Das Kind wurde damals „Vorurteilssystem“ genannt. Schon damals erschien die Infoflut uns alle zu überrollen und es wurde nach Wegen gesucht, wie man sich in dem ja noch recht frisch explodierten Dschungel namens Internet zurechtfindet und vor allem die Sachen findet, die einen interessieren.
Die Idee der Vourteilssysteme basiert darauf, dass Menschen schon immer und überall in der Lage waren gigantische Informationsmengen zu bewältigen, so lange sie nur genügend Urteile an der Hand haben, die die Welt für sie vorsortieren, ohne sich alles im Detail angucken zu müssen – Vorurteile eben. Das Problem heute ist also demnach nicht so sehr die Menge an Information, sondern vielmehr das Fehlen eines gesellschaftlichen Konsenses darüber, was wichtig ist und was nicht. Heutzutage hat man halt gerne seine eigenen Vorurteile oder die der eigenen Subkultur oder Peergroup. Aus meiner Perspektive geht es dabei nicht nur darum individuell informiert zu sein, sondern auch und vor allem darum kollektiv handlungsfähig zu bleiben, obwohl oder vielleicht sogar gerade weil die alten gemeinsamen Vorurteile nicht mehr existieren.
Technisch sollte diese Idee so umgesetzt werden, dass jeder beim Lesen seiner täglichen Infokost durch sehr wenige Aktionen, die nicht groß aufhalten, sein Urteil über einen Artikel oder einen Kommentar deutlich machen kann. Dieser Teil ist heute im Netz schon an vielen Stellen umgesetzt von Foren wie Slashdot oder Heise bis hin zu den großen oder kleinen Social-News-Portalen wie digg oder yigg.
In der Ursprünglichen Idee zu den Vorurteilssystemen kam aber noch mehr dazu. Man sollte Leuten Kompetenzen in bestimmten Fragen zubilligen können, ihnen also zu einem bestimmten Thema vertrauen und zu anderen nicht. So würden sich dann sich überlappende Vertrauensringe bilden ganz ähnlich zu dem von PGP bekannten Web-of-Trust und auch abgesichert durch die selbe digitale Signatur wie dort.
Ein solches System gibt es heute im vielgelobten Web-2.0-Zeitalter immer noch nicht, aber es gibt immerhin schon ein paar Tools, die in die richtige Richtung gehen. Die ganze Blogosphäre funktioniert ja ganz ähnlich und auch bei der technischen Unterstützung tut sich einiges. Bei yigg z.B. gibt es immerhin schon thematische „Gruppen“ und vertrauenswürdige „Freunde“. Beides kombiniert zu kriegen ist schon etwas schwieriger. Mir ist es nicht gelungen und soweit ich weiss, ist es auch nicht vorgesehen und vor allem muss man zum „yiggen“ wieder extra buttons installieren oder halt manuell „yiggen“ (Die yigg-cracks unter euch mögen mich korrigieren).
Wir haben deshalb nun einen anderen Ansatz gewählt um mit einigen wenigen neuen Webservices etwas zusammenzuschustern mit dem man sich zumindestens für den eigenen Bedarf schon mal aushelfen kann. Hier also eine kleine Bastelanleitung für euer eigenes Vorurteilssystem. Heutzutage baut man sowas natürlich auf der Basis von Feeds (RSS oder Atom), die gab es damals ja noch gar nicht.
Die größte Hürde gilt es gleich am Anfang zu nehmen. Alle, die sich am Vorurteilssystem beteiligen wollen, müssen einen Feedreader verwenden, der mit wenigen Mausklicks bewerten kann und diese Bewertungen wieder als Feed veröffentlichen kann. Mir ist nur der Google-Reader bekannt, der sowas kann. Für andere Optionen wäre ich dankbar.
Zusätzlich kann man dann noch Quellen ohne Feed auf einem Zwischenschritt über ein Social-Bookmarking-Tool wie del.icio.us einbinden oder automatisch generieren mit einem der neuen mächtigen Webfilter ala openkapow oder dappit.
Thematisch vorfiltern kann man durch taggen und veröffentlichen der Feeds pro Tag. Beim Google-Reader geht das über Settings -> Tags -> Public.
Jetzt haben wir also schon die Urteile der Beteiligten vorliegen und müssen die nur mit einem Mashup-Tool wie z.B. yahoo-pipes in Vorurteile für den Leser verwandeln. Bei keineren Gruppen reicht es wahrscheinlich schon einfach doppelte Einträge rauszuwerfen. Bei größeren Gruppen muß man vielleicht noch eine Zwischenstufe einschalten. Erst wenn eine bestimmte Anzahl von Leuten eine Empfehlung bestätigt, wird sie wirklich übernommen. Thematisch muss man sich dann auf die von den Filterern vorgegebenen Tagfeeds verlassen.
Das ist noch immer nicht das, was man sich wünscht. Signiert oder sowas ist dabei natürlich nix, aber ich glaube das ist erstmal auch nicht so entscheidend. Aber man würde sich natürlich wünschen beim Lesen nicht so eingeschränkt zu sein, manuell taggen ist auch etwas mühsam und für jede Überlappung von Vorurteilsringen muss man sich wieder ein neues Mashup bauen. Aber ich hab jetzt elf Jahre gewartet auf ein funktionierendes Vorurteilssystem, da bin ich inzwischen auch mit Krücken zufrieden.
Das wars auch schon, keine große Magie. Ich hoffe, wir verwenden hier demnächst genau ein solches Tool um euch mit allen keimformrelevanten Infos versorgen zu können, wir sind noch am basteln und verhandeln, wie genau das aussehen könnte. Stay tuned.
Vorurteilssystem funktionieren IMO dadurch, dass Menschen die Aufmerksamkeit anderer in ihre eigene Aufmerksamkeit aufnehmen, und dann die entsprechenden Informationen weiterleiten.
Technik hilft dabei, dies unaufwendig zu praktizieren.
Unter Freunden und Bekannten schickt man sich ja Hinweise per Mail,
jedoch mit viel mehr Aufwand, als per „ein-Click“ Lösung.
Der Vorteil eines „offenen Vorurteilssystems“ ala feed ist, dass jeder
aufspringen kann.
Ich persönlich wünsche mir zum Beispiel, dass Menschen die mich kennen,
Seiten über die sie stolpern und als zu meiner Aufmerksamkeit passend erkennen, diese explizit für mich taggen.
Für Feeds ist dazu der Google-Reader ein passendes Werkzeug,
für Websiten delicious (mit seinen for:…. tags) oder andere Social Bookmarking tools.
Steht als ein nächster Schritt die klassifizierte Veröffentlichung von individuellen
feeds an ? hier ein User-Beispiel dafür
@Thomas: Interessant finde ich, dass Du schreibst:
Mir geht es eigentlich eher umgekehrt. Ich freue mich darüber, wenn Leute sharen, was sie interessiert. Wenn ich die Leute interessant finde, dann interessiert mich tendenziell auch, was sie interessiert. Nur so kann man ja auch gewährleisten nicht komplett immer nur in seinem eigenen Sumpf zu kochen und sich auch mal mit neuen Themen inspirieren zu lassen.
Wo ich es eher so sehe, wie Du, ist auf der Ebene von thematischen Projekten. Also zB über Feeds mit dem Tag „for_keimform“, wie wir sie ja gerade versuchen zusammenzubasteln.
UPDATE: Nach einigem Rumgewürge mit Yahoo-Pipes musste ich irgendwann feststellen, dass die (noch) nicht in der Lage sind mit den Google-Reader-Feeds umzugehen ohne sie zu zerfleddern. Irgendwann ist mir dann auch aufgegangen, dass wir unser Minisystem genausogut nur mit Googlereader bauen können. Ich hab einfach die Feeds der anderen bei mir in einen Folder kopiert und den veröffentlicht und selber dazugetagged. Wirklich extrem einfach. Jetzt müssen wir nur noch überlegen, wie wir mit dem Urheberrecht klarkommen …
Hi Benni,
das Projekt klingt spannend – aber sollte man es nicht lieber anders nennen? Ein „Vorurteil“ ist für mich immer noch etwas Negatives, da es (im Gegensatz zu einem Urteil) ja nicht nach sachlicher Überlegung gefällt wird. Zahlreiche Menschen hatten und haben unter Vorurteilen zu leiden.– Warum ein so negativ konnotiertes Wort für eine doch ganz anders gemeinte Sache?
@Martin: Aus Provokation? Ich denke mal dass war ein gut Teil der ursprünglichen Intention Hat damals auch gut funktioniert, der Vortrag war gut besucht. Das Wort ist ja nicht von mir, auch wenn ich es treffend finde. Und darauf hinzuweisen, dass Vorurteile immer nötig und immer vorhanden sind, finde ich erstmal auch ziemlich sinnvoll. Aber es kann ja auch jeder nennen, wie er will. Wie wärs z.B. mit „Empfehlungsnetzwerk“?
War nur ein Vorschlag, ich selbst habe ja momentan nichts damit zu tun. Aber „Empfehlungsnetzwerk“ klingt gut, finde ich.
Ich würde sagen, solche Auswahlschemata sind immer nötig, aber mit Vorurteilen möchte ich die nicht gleichsetzen. Warum nicht? – Naja, ich will Leute, die Vorurteile gegen irgendwas (z.B. Menschen aus bestimmten Ländern) haben, darauf aufmerksam machen können, dass das falsch ist. Wenn die mir dann antworten: „Du hast ja auch Vorurteile, du hast dieses oder jenes [rechtslastige] Buch nicht gelesen“, dann würde ich diese Gleichsetzung trotzdem nicht akzeptieren..Denn die erste Art von Vorurteilen basiert auf keiner rationalen Basis, die zweite schon: Ich übertrage einfach mein Urteil auf andere, von denen ich weiß, dass ich ihrem Urteil vertrauen kann.