Was ist eigentlich eine „Keimform“?
Ok, das zu beantworten ist ja unter anderem gerade Sinn und Zweck dieses Blogs. Es wäre also sehr vermessen, wenn ich das jetzt mal eben hier und jetzt beantworten würde. Aber ich will mal einen eigentlich ziemlich simplen Gedankengang darlegen, wie ich mir das zur Zeit vorstelle. Und unter uns: Nach über 100 Beiträgen sollten wir langsam mal anfangen 😉 Widerspruch natürlich sehr willkommen.
Um sich klar zu machen, was eine Keimform ist, sollte man sich drei Dinge klar machen:
- Was ist ein Keim?
- Was ist eine Form?
- Was verbindet beide in dem Begriff Keimform?
Was ist ein Keim?
Ein Keim im übertragenen Sinne – jenseits der ursprünglichen biologischen Bedeutung und in unserem Kontext der gesellschaftlichen Suche nach dem Neuen im Alten – ist etwas, aus dem das Neue hervorgeht. Ein Keim ist also noch nicht selbst das Neue, aber er enthält bereits alle wesentlichen Fähigkeiten des Neuen ohne deswegen genauso auszusehen. Darin also ganz analog zum biologischen Keim, der ja auch bereits alle genetische Information des späteren voll entfalteten Lebewesens enthält aber gänzlich anders aussieht.
Es dürfte klar sein, dass ein solcher Keim bisher noch nicht gesichtet wurde, weder bei Freier Software, noch sonstwo.
Was ist eine Form?
Ich zitiere mal Frauke (völlig aus dem Zusammenhang gerissen):
Die Form ist um den Inhalt und der Inhalt ist in der Form. Um das zu lernen, leeren kleine Kinder mit Vorliebe Gefäße aus und füllen sie um.
Damit ist das Wesentliche gesagt.
Was ist eine Keimform?
Zu klären ist jetzt also noch, wie sich „Keim“ und „Form“ im Begriff „Keimform“ verbinden. Nach der oben angeführten Definition von Form gibt es ja prinzipiell erstmal drei Möglichkeiten:
- „Keim“ könnte der zur Form gehörige Inhalt sein.
- „Keim“ ist selber eine Form mit einem noch unbestimmten Inhalt.
- „Keim“ ist das die Form umgebende Medium in dem Form und Inhalt beide noch unbestimmt sind.
Ich behaupte jetzt nicht zu wissen, welche der drei Möglichkeiten die für uns relevante sein könnte (oder ob es vielleicht noch ganz viele andere geben könnte), aber ich plädiere mit Occams Rasor dafür zunächst mal die einfachste Variante auszuprobieren, dass wäre also diejenige, die am meisten schon mitliefert, weil sie nichts unbestimmt lässt, also Variante 1.
Als Ergebnis erhält man etwas, dass man die Blumentopfthese nennen könnte. Natürlich ist das nur eine Analogie, aber ich finde eigentlich eine ganz brauchbare.
Blumentöpfe sind dafür da in eigentlich unwirtlicher Umgebung Lebensbedingungen für ortsfremdes Leben zu ermöglichen. Dabei sind die Blumen in den Töpfen auf das Gießen der Balkonbesitzer angewiesen um nicht zu verdorren. Wenn die Balkonbesitzer nicht mehr gießen, werden die allermeisten Blumen eingehen, nur einige wenige, besonders widerstandsfähige bleiben vielleicht am Leben und werden schließlich – möglicherweise – den ganzen Balkon überwuchern und weiterleben auch wenn die Balkonbesitzer längst umgezogen sind.
Man ersetze nun „Blumentopf“ mit „Keimform“, „Blume“ mit „Keim“, „Balkon“ mit „Gesellschaft“, „Balkonbesitzer“ mit „Kapitalismus“ und „überwucherter Balkon“ mit „befreiter Gesellschaft“ und es kommt ein ganz gute Beschreibung dafür hinaus, zum einen, was wir anstreben (bzw. wonach wir suchen) und zum anderen, wieso das so schwierig ist.
Bilder: pixelquelle.de
Netter Ansatz und als Illustration funktioniert das auch:-)
Aber! (wenn ich schon so fortsetze…)
Mal aus dem Ärmel, was mir dazu einfällt. Worum geht es eigentlich beim Nachdenken über den Begriff der Keimform? Es geht doch darum, einen qualitativen Übergang zu verstehen. In in unserem Fall in der menschlich-gesellschaftlichen Entwicklung.
Ein Keim in der von dir vorgestellten biologischen Analogie enthält eigentlich schon alles. Alle Anlagen sind schon da, er muss nur noch wachsen. Das provoziert die Frage, woher denn diese eigentlich schon fertigen Anlagen herkommen, wer den Keim „gepflanzt“ hat. Weil das dem Henne-Ei-Problem gleicht, verwende ich explizit nicht den Begriff „Keim“. „Keim“ ist zu sehr schon auf der Seite des Neuen, darin fehlt das Alte.
Denn wo kommt der Ansatz des Neuen her? Es kann nur aus dem Alten kommen und muss als Potenz dort schon angelegt sein. Das ist übrigens einer der Kerngedanken von Mattis Artikel. Das Alte erzeugt also — ob notwendig oder nicht — in der alten Logik den Ansatz eines Neuen, dass gleichzeitig kompatibel zur alten Logik ist und die Potenz zur Entfaltung einer neuen, zum alten inkompatiblen Logik enthält. Kurz: Das Alte bringt etwas hervor, was ihm eigentlich widerspricht.
Der von dir vorgeschlagene resp. übernommene Begriff der Form stellt Inhalt und Form relativ zusammenhangslos nebeneinander. Das Leeren und nahezu beliebige Umfüllen deutet das an. Bei der Keimform geht es IMHO aber um den Zusammenhang: Der Inhalt ist nicht in irgendeiner Form, sondern bringt eine bestimmte Form hervor bzw. erfordert sie. Die Form ist nicht um irgendeinen Inhalt, sondern kleidet einen bestimmten Inhalt diesem gemäß. Inhalt und Form sind also Momente einer Einheit.
Bei deinen angebotenen Varianten zu Keimform kommt aus meiner Sicht nur die erste überhaupt in Frage, wobei ich das — wie geschrieben — ohnehin nur als Einheit für sinnvoll denkbar halte, die beide Aspekte also nicht im Nachhinein zusammenkommen (oder umgetopft werden können), sondern genuin Momemte eines Ganzen sind. Ok, ich wiederhole mich.
Das war jetzt nur Kritik. Sorry. Am geeignetsten finde ich immer noch den Erklärungskontext des Fünfschrittes.
Also Vorschlag mit Problemverschiebung: Eine Keimform ist eine „innovative Grundform“ als erstem Schritt innerhalb eines qualitativen Übergangs nach dem „Fünfschritt“.
Die Formulierung „innovative Grundform“ finde ich nicht optimal (Innovation ist eine Bezeichnung für einen menschliche Aktivität), aber hilfsweise ist das ok. Es ist ein Vorschlag von Helmut Leitner.
@Stefan: Das dachte ich mir, dass Du jetzt wieder mit dem Fünfschritt kommst 😉
Das Problem damit ist aber, dass ich z.B. damit nix anfangen kann. Mir ist das zu „streng“. Das Leben funktioniert nicht so simpel und es legt ausserdem nahe, dass es das eine bestimmende Prinzip gäbe, was sich durch diesen Fünfschritt „durcharbeitet“, was ich auch nicht teile.
Ich versuche halt nach dem zu suchen, was uns gemeinsam ist. Irgendwas muss es ja geben, sonst hätten wir uns hier nicht gefunden. Und ich denke es ist in unserer aller Interesse das zu finden…
Das Inhalt und Form irgendwie enger zusammen gehören müssen, ist schon klar. Ich wollte nur mal einen anschaulichen Anfang versuchen.
Frage an euch beide, Benni + Stefan: mir ist nicht so ganz klar, worin ihr jeweils die Bedeutung des „Alten“ seht. Freie Software ist doch völlig unabhängig von dem Alten – d.h. der Warenproduktion – entstanden, und wurde von Stallman auch schon
explizitals radikaler Bruch mit der Warenform beschrieben – nämlich der totalen Ablehnung der Warenform für Software.Dasselbe gilt für große Freie-Inhalts-Projekte wie die Wikipedia, die ebenfalls nicht als Geschäftsmodell entstanden ist oder betrieben wird.
In beiden Fällen sind dann natürlich Geschäftsmodelle „drumherum“ entstanden (z.B. Verkauf von Services oder „Packaging“). Diese kamen aber jeweils später, sie sind dem Neuen gefolgt statt es (wie ihr nahelegt) hervergebracht zu haben. Das Alte bedient sich, so gut es kann, des Neuen – das ist völlig klar und entspricht ja auch perfekt der Logik des Alten. Umgekehrt ist diese Unterstützung durch das Alte für die rasche Ausbreitung des Neuen natürlich durchaus hilfreich – aber sie ist eben nur hilfreich, nicht notwendig, jedenfalls sehe ich keinerlei Anzeichen dafür, dass die Freie Software wieder eingegangen wäre, wenn diese Geschäftsmodelle nicht entstanden wären.
Worin also seht ihr die Rolle des Alten?
@benni: Ja, dachte ich mir, dass du das dachtest;-)
Ich verstehe allerdings nicht, was am Fünfschritt „streng“ oder „simpel“ ist. Es ist ein allgemeiner Rahmen, wie qualitative Entwicklungsschritte geschehen können. Weder ist gesagt, was geschieht, noch ob überhaupt, das Scheitern ist eine Option. — Ok, kriegen wir nicht gelöst. Umgekehrt sind mir deine „Wirbel“ zu beliebig, ist wahrscheinlich das spiegelbildliche Problem.
Steckt das Gemeinsame nicht in der Unterzeile unseres Blogs?
@Stefan: Der Fünfschritt sagt zwar nix über was und ob, aber eben über wie und das ist eine sehr starke Einschränkung.
Zur Unterzeile: Ich fänds halt schön wenns nicht dabei bliebe.
@Christian: Die Rolle des Alten steckt im „Gießen“, auch Stallman wird gegossen, so wie wir alle.
@Christian: Also wo Stallman die Freie Software als Bruch mit der Warenform beschrieben hat, müsstest du mir mal zeigen. Sowas kann der doch gar nicht denken. „Software should not have Owners“, weil die der Nachbarschaftshilfe im Wege stehen ist doch das Maximum.
Und freie Software (mit kleinem „f“) gab es vor der proprietären Software. Die Freie Software (mit großem „F“) ist quasi aus dem Motiv der Verteidigung der akademischen Freiheit entstanden. Und Linus Torvalds hat dem erst danach eine neue Produktionsweise hinzugefügt, die da eigentlich interessante ist (wie du selbst ja nochmals betont hast).
Aber das ist alles nicht so der Punkt, wie das exakt historisch gelaufen ist. Für viel entscheidender halte ich den Blick darauf, ob (1.) der Kapitalismus die stofflichen Voraussetzungen geschaffen und (2.) aus seiner eigenen Logik heraus so etwas wie Freie Software generieren und inkorporieren kann.
Punkt 1. dürfte unstrittig sein (PCs als Produktionsmittel auf dem Schreibtisch, Internet zur globalen Vergesellschaftung etc.).
Punkt 2. ist der eigentlich interessante Punkt. IMHO ist Freie Software Teil des grundlegenden Entwertungsprozesses, der sich auf Grundlage der mikroelektronischen Produktivkraftentwicklung vollzieht. Diese Entwertung ist funktional, weil sie einzelnen Unternehmen einen Konkurrenzvorteil verschafft. Das gilt auf jeden Fall für solche Unternehmen, die Software einsetzen, aber auch für solche, die Software entwickeln und die die Potenzen des Inklusionsmodells nutzen wollen (eigene Software entwerten, dafür mehr Kunden gewinnen und am Service verdienen etc.). Alle propagierten Kommerzmodelle laufen auf die Kombination von Entwertung-hier plus Abkassieren-dort hinaus.
Zugespitzt formuliert: Konkurrenzvorteile sind nur noch durch partielle Entwertung zu haben. Aus meiner Sicht ist das Hochkommen Freier Software auch Ausdruck der globalen Verwertungskrise des Warengesellschaft. Das ändert nichts an der langfristig grundsätzlichen Unverträglichkeit Freier Software mit der Warengesellschaft — was wegen der fehlenden Wertgrundlage klar sein dürfte.
@Stefan: ok, das mit Stallman hab ich tatsächlich nicht ganz richtig ausgedrückt. Er bricht nicht explizit, sondern nur implizit mit der Warenform für Software – und zwar eben nur, weil sie der Nachbarschaftshilfe nicht im Weg stehen dürfe, nicht aus tiefer gehenden Überlegungen. Und natürlich (das hatte ich schon erwähnt) vollzieht er diesen (impliziten, aber immerhin) Bruch nur für Software und keineswegs generell (im Gegenteil!) – diese Einschränkung ist ja auch ein wesentlicher Kritikpunkt von Sabine Nuss. Trotzdem ist Stallmans Entscheidung, die Nachbarschaftshilfe hier so ohne weiteres über die Eigentumsrechte zu stellen (und ohne Eigentümer gibt es keine Waren, auch wenn Stallman sich dessen vermutlich nicht bewusst ist) eine, die der kapitalistischen Logik nicht entspingt, sondern ihr widerspricht. Das ist IMHO etwas, das man anerkennen sollte, und darauf wollte ich eigentlich heraus.
Deswegen leuchtet mir deine Aussage, dass schon der „Ansatz des Neuen […] nur aus dem Alten kommen“ kann, nicht so ganz ein (außer in der trivialen Lesart, dass Stallman natürlich in der kapitalistischen Gesellschaft aufgewachsen und durch sie sozialisiert worden ist). Ein entscheidendes Moment des Ansatzes besteht eben IMHO gerade in diesem Bruch mit der Logik des Alten – auch wenn der Bruch zunächst nur unbewusst und und sehr unvollständig vollzogen wird (was vermutlich auch gar nicht anders geht, eben wegen dieser Sozialisierung durch das Alte, die ja jeden von uns prägt).
Ansonsten sind wir uns einig darin, dass Freie Software & Co. auf den durch den Kapitalismus geschaffenen stofflichen und sozialen Voraussetzungen aufbauen und ohne diese nicht hätten entstehen können (jedenfalls nicht in der Form, in der wir sie beobachten können).
Was deinen Pt. 2 betrifft, ist es natürlich richtig, dass jeder kapitalistische Unternehmen daran interessiert sein muss, seine Produktionskosten möglichst weit zu senken, oder seinen Kunden ohne nennenswerte zusätzliche Produktionskosten mehr Gebrauchswert liefern zu können, um sich so von der Konkurrenz abzusetzen. Das ergibt sich einfach aus dem normalen Funktionieren des Kapitalismus und ist kein Zeichen einer „Krise“.
Dementsprechend ist es logisch, dass es für Unternehmer heute oft günstiger ist, Freie Software zu fördern als sehr viel mehr Geld für die Entwicklung proprietärer Software auszugeben. Dass dem Neuen diese Unterstützung durch das Alte zugute kommt (genau wie umgekehrt die Unternehmen profitieren), ist unbestritten. Nur war da ja schon oben mein Argument, dass diese Unterstützung hilfreich, aber nicht absolut notwendig, nicht essenziell ist. Dass Essenzielle würde ich nach wie vor im dem (zunächst nur ansatzweise vollzogenen) Bruch mit der alten Logik sehen.