Warum die Kopplung von Geben und Nehmen aufhören muss
[Erschienen bei Telepolis]
Corona zeigt uns die Verrücktheit unserer gesellschaftlichen Organisation. Und wie wir uns damit buchstäblich um unsere Existenz bringen
Wir halten Tauschen für eine der natürlichsten Sachen der Welt. Ist es aber nicht. Tauschen koppelt Geben und Nehmen aneinander. Du kriegst nur was, wenn du auch was gibst. In modern: Lege Geld auf den Tisch und du bekommst das Begehrte. Oder umgekehrt: Hier ist mein Geld, jetzt gib es mir. Das ist der Kern dessen, was wir als Marktwirtschaft kennen. Ist doch natürlich, oder? Tausch gibt es doch schon ewig? Geld ist eine tolle Erfindung zur Vereinfachung des Tausches? Markt ist eine Errungenschaft? Und überhaupt: Was soll daran schlimm sein? Schauen wir hin, was wir von Corona lernen können.
Erstens ist die Kopplung von Geben nicht natürlich, sondern sozial gemacht. Nun ist es zwar richtig, dass wir auf gesellschaftlicher Ebene für einen Ausgleich von Produktion („Geben“) und Konsum („Nehmen“) sorgen sollten – aber muss das auch individuell gelten? Und, nur am Rande, es ist ja nicht so, dass die perfekte Geben-Nehmen-Kopplungsgesellschaft, der Kapitalismus, eine Balance hinbekäme. Alle wissen mehr oder weniger, dass der Kapitalismus effizient dabei ist, unsere Zukunft und die unserer Kinder zu zerstören.
Zweitens gibt es den Tausch mitnichten schon ewig. Sicherlich gibt es das Bestreben, das Herbeischaffen von Gütern und das Konsumieren dieser Güter in eine Balance zu bringen, schon so lange wie es Menschen gibt. Eigentlich muss jede Gesellschaft das hinbekommen, siehe oben. Doch getauscht haben die Menschen deswegen noch lange nicht, zumindest nicht in dem harten Sinne wie wir es heute kennen.
Tausch als unbedingte Kopplung – man könnte auch sagen: als wechselseitige Erpressung – ist eine moderne Erfindung. Die gute Nachricht: Auch in unser harten Tausch-Gesellschaft läuft nicht alles darüber. Man stelle sich vor, wir würden von Babys eine Gegenleistung verlangen, wenn wir sie füttern. Oder unserer betagten Nachbarin Geld dafür abknöpfen, dass wir in Coronazeiten für sie das Rezept in der Apotheke einlösen. Und schließlich springt hierzulande auch der Staat ein, wenn Menschen beim harten Tausch nicht mithalten können.
Drittens ist das moderne Geld nicht als Erfindung zur Vereinfachung des Tausches entstanden. Alle kennen die Geschichten von der Kuh und den Schuhen, die sich nicht gut tauschen lassen. Zur Erleichterung sei das Geld erfunden worden. Auch wenn dieser Mythos vermutlich immer noch gelehrt wird, ist es eben das: ein Mythos. Wie wir heute wissen, ist Geld als Schuld auf die Welt gekommen. Modern gesagt: Geld sind Schulden. Historisch waren Macht und Gewalt im Spiel. Früher wurde den Bauern der Zehnte direkt abgepresst – das waren ihre „Schulden“, weil die Fürsten es ihnen aufdrückten. Heute bürden wir uns die Schulden gleichseitig auf: „Sie schulden mir zehn Euro für das Essen“ wie auch „Sie schulden mir ein Essen für die zehn Euro“.
Viertens ist der Markt zwar eine Errungenschaft, aber nur, wenn man großzügig die koloniale Vorgeschichte und die negativen Schlagseiten ausblendet. Das Argument, dass Kolonialismus und Klimazerstörung – um nur diese beiden Beispiele zu nehmen – ja gerade die Unperfektheit des Marktes zeigten, ist ein weiterer Mythos. Denn was heißt „Unperfektheit“? Es ist die unperfekte wechselseitige Erpressung, die der Markt in der Tat perfektioniert. Unter die Räder kommt allerdings, wer im Tausch nicht mithalten kann. Und irgendwer oder irgendwas kommt immer unter die Räder, seien es andere Menschen oder eben das Klima. Markt inkludiert und exkludiert. Er inkludiert die, die im Tausch was zu bieten haben, und exkludiert die, die das nicht können.
Der Tausch-Geld-Markt-Aufwand ist ein riesiger Umweg
So, jetzt zum Punkt. Was zeigt uns Corona?
Das Virus zeigt uns, wie die Kopplung von Geben und Nehmen die Kopplung von Gesundheit und Existenzsicherung zerreißt. Die gesundheitliche Sicherung von Leben verlangt, die Wirtschaft runterzufahren, weil wir die physischen Kontakte minimieren müssen. Nur wenn die Ansteckungsrate niedrig ist, kann das Gesundheitssystem die Flut der schweren Erkrankungen bewältigen und Leben retten. Das haben wir in der Pandemie gelernt.
Gleichzeitig gefährdet genau das die Existenz von Millionen – weltweit gesehen von Milliarden – Menschen, weil sie ihre Geldeinnahmen verlieren. Eben weil die Wirtschaft in vielen Bereichen nicht mehr läuft. Die UNO spricht von drohenden Hungersnöten „biblischen Ausmaßes“ in Ländern des Südens, weil die Menschen sich ihr Essen nicht mehr kaufen können.
Warum ist das so? Die Kopplung von Geben und Nehmen hat noch einen weiteren Seiteneffekt: Sie trennt die Herstellung in den Betrieben (und durch das Heer von Selbstständigen) und die Verteilung, die über den Markt läuft. Die Herstellung hat die Bedürfnisse im Auge, und eigentlich wäre es doch recht einfach, den Bedürftigen, also letztlich allen, das Hergestellte zu geben. Es ist ja da. Doch so geht das nicht, denn es verletzt die Kopplung von Geben und Nehmen.
Also gibt es zusätzlich zum Hergestellten noch etwas, dass es eigentlich nicht braucht, um Bedürfnisse zu befriedigen: einen Preis. Den braucht es nämlich, damit das Hergestellte in die Verteilung kommt, sprich: auf dem Tausch-, also Kaufweg erworben werden kann. Dazu brauche ich Geld, denn ohne Geld kein Tausch. Das Mittel dazu, das Geld, bekomme ich, wenn ich anderen etwas verkaufe, und sei es mich selbst als Arbeitskraft. Was für ein Aufwand, nur weil wir Geben und Nehmen strikt aneinander koppeln! Der ganze Tausch-Geld-Markt-Aufwand ist ein riesiger Umweg. Nur wer erfolgreich verkauft, darf mitmachen und seine Existenz erhalten. Alle anderen müssen auf Wohltäter hoffen, auf den Staat oder milde Gaben. Oder sie verhungern eben.
Wir fahren also zum Schutz des Lebens die Wirtschaft teilweise runter und bedrohen damit die Existenz von Menschen, also am Ende auch das Leben. Leben gegen Leben, und die ersten fangen schon an, in utilitaristischer Manier die Leben gegeneinander aufzurechnen. Können wir das Tauschen nicht einfach sein und uns alle gut leben lassen? Verrückter Gedanke?
Nun, nicht der Gedanke ist verrückt, sondern die Sache, die er ausspricht. Es ist verrückt, dass eigentlich alles da ist, was wir brauchen, wir nur nicht rankommen, weil wir es aus Geldmangel nicht kaufen können. Weil wir ohne Geld aus dem Erpressungsdrama des Tausches rausfallen. Wir haben alles und beginnen uns zu fragen, wen wir zuerst opfern, die Kranken und Schwachen oder die aus der niederliegenden Wirtschaft Herausgefallenen? Dass wir zu dieser Frage gezwungen sind, das ist verrückt.
Der Kern von Ökonomie ist der Tausch
Spielen wir mal kurz durch, was wäre, wenn wir das Tauschen sein ließen, wenn wir aufhörten, uns gegenseitig zu erpressen – und Corona wäre da. Wir würden vermutlich genauso Schutzmaßnahmen ergreifen, wir würden Teile der Produktion stilllegen, würden Hygienemaßnahmen vorsehen. Und wir würden dafür sorgen, dass die lebensrelevanten Bereiche weiterlaufen, die Krankenhäuser wie die Nahrungsmittelherstellung und wichtige Infrastrukturen. Wir könnten Corona ohne die Angst, am Ende vor dem Nichts zustehen, aussitzen. Nicht schön, weil vieles nicht mehr geht, aber von der Entscheidung, was nicht mehr geht, hängt die grundsätzliche Existenzsicherung nicht ab. Denn niemand muss mehr einen Umweg gehen, um die lebensrelevanten Dinge zu bekommen.
Das Großartige ist: Das gibt es heute schon. Nicht alles ist in die Kopplung gezwungen, sondern Menschen nehmen sich gerade in der Krise die Freiheit, nichts zu verlangen. Wir singen vom Balkon und erwarten keine Münzen, wir kaufen für unsere Nachbarin ein und finden das selbstverständlich, wir nähen Schutzmasken und geben sie weiter. Und sind es nicht diese Akte der Menschlichkeit, die unser Herz mit Freude erfüllen? Warum kann das nicht immer so sein? Weil wir nicht frei sind. Sondern weil uns die Kopplung von Geben und Nehmen diktiert, dass wir nicht menschlich, sondern ökonomisch handeln sollen. Und der Kern von Ökonomie ist nun mal der Tausch.
Nun gibt es das Argument, dass die Dinge, die verteilt werden wollen, auch von irgendwem hergestellt werden müssen. Bekämen die Herstellenden kein Geld mehr, würden sie es nicht mehr tun.
Tatsächlich, so funktioniert wechselseitige Erpressung: Fällt sie weg, ließen alle den Hammer, die Nähnadel und das Kind stehen und liegen. Wirklich? Warum sollten Menschen für etwas, das sinnlos geworden ist – das Geld als Tauschmittel – weiterarbeiten, wenn sie alles Nötige auch ohne Geld bekommen würden? Wenn sie es für den Konsum nicht mehr brauchen, warum sollten sie es in der Produktion haben wollen?
Fällt die Erpressung weg, ist die Frage jedoch: Würden die Menschen das, was wir alle brauchen, freiwillig herstellen? Könnten wir uns vorstellen, dass die Verantwortung, die wir jetzt in Corona-Zeiten verstärkt füreinander empfinden, zum Grundzug unseres Handelns wird? Dass wir nicht nur in Ausnahmezeiten, die notwendigen Dinge tun? Ja, dass wir sie sogar gerne tun, weil sie uns gegenseitig zu Gute kommen?
Gewiss, die gesellschaftliche Organisation müsste sich gewaltig ändern. Aber das ist ohnehin nötig, denn wir können auch aus anderen Gründen nicht so weitermachen wie bisher. Würden wir Tausch, Geld und Markt sein lassen, gäbe es eine Reihe von positiven Nebeneffekten. Der Wachstumszwang würde entfallen, weil der Treiber des Geldes weg wäre. Das würde dem Klima gut tun, die Umweltzerstörung reduzieren und die Artenvielfalt bewahren. Wir könnten den Kapitalismus ziehen lassen und uns vom Stress erholen, den er uns schon so lange bereitet.
An den Satz würde ich gerne Wikipedia-mäßig ein „Citation needed“ (bzw. in der deutschen Variante: „Belege fehlen“) kleben. Behaupten kann man ja vieles, aber kannst du das auch belegen? Sicherlich spielte das Tauschen bzw. Kaufen und Verkaufen in vielleicht keiner früheren Gesellschaft so eine große Rolle wie heute – aber das heißt doch nicht, dass es nicht vorkam! Egal wie man die „Moderne“ genau definiert – da gehen die Ansichten auseinander – klar ist, dass die Antike nicht dazugehört, und auch dir dürfte klar sein, dass in den antiken Gesellschaften das „unbedingte“ Kaufen und Verkaufen (der Akt kommt nicht zustande, wenn sich nicht beide Seiten handelseinig werden) sehr wohl und auch durchaus häufig vorkamen. Tatsächlich gilt das wohl für nahezu jede Gesellschaft, deren Komplexität über die von Jäger-und-Sammler-Gesellschaften hinausgeht – und auch letztere haben bisweilen getauscht, wenn auch nicht innerhalb des jeweiligen Gruppenverbands, sondern an seinen „Grenzen“.
Darüber hinaus halte ich es auch für problematisch, den Akt des Tauschens (der nur zustande kommt, wenn sich beide Seiten auf einen gemeinsamen Preis einigen) mit dem deutlich allgemeineren Begriff der „Kopplung von Geben und Nehmen“ so einfach in eins zu setzen. Eine Kopplung von Geben und Nehmen gab es ja etwa auch innerhalb der einzelnen Jäger-und-Sammler-Verbände, wo es ganz selbstverständlich war, dass alle vorsorgt wurden UND dass alle, die konnten, auch beigetragen haben.
Ich muss Christian zustimmen: Die Vorstellung Tausch, und damit Märkte, wären eine moderne „Erfindung“, ist empirisch schlicht falsch. Damit ist aber auch die Möglichkeit einer „tauschfreien“ (Massen-)Gesellschaft eben nur das: Eine Möglichkeit. Weiter heißt es im Text:
„Könnten wir uns vorstellen, dass die Verantwortung, die wir jetzt in
Corona-Zeiten verstärkt füreinander empfinden, zum Grundzug unseres
Handelns wird? Dass wir nicht nur in Ausnahmezeiten, die notwendigen
Dinge tun? Ja, dass wir sie sogar gerne tun, weil sie uns gegenseitig zu
Gute kommen?“
Vorstellen können wir uns vieles, aber das heißt nicht, dass die Menschen auch so handeln würden/werden, wie es einer wie auch immer gearteten Utopie vorschwebt, nur weil es „in sich logisch“ klingt und für alle Beteiligten doch vernünftig sein müsste. Jedenfalls wenn es um Überlegungen geht die über eine überschaubare Gruppe von Menschen (siehe Dunbar-Zahl) hinausgehen.
Genau an dieser selbstkritischen Skepsis mangelt es zahlreichen linken Utopien, weshalb sie selten überzeugend sind. Denn was auf dem Papier gut aussieht und in sich stimmig erscheint, muss es in der Praxis keineswegs sein.
Mir scheint es so, dass die Verfechter/innen des „Commonismus“ viele komplexe Fragen bezüglich einer nachkapitalistischen Wirtschaft überhaupt nicht bekannt sind oder die Auffassung vertreten, diese ließen sich „schon irgendwie lösen, wenn es soweit ist“.
Dabei stellen sich viele radikale Linke eine komplexe, industrielle Massengesellschaft wie eine Wohngemeinschaft vor, wo irgendwie alles von allen besprochen werden kann und wer keine Lust hat, der steigt eben aus und macht woanders sein (Industrie-, und/oder Dienstleistungs-)Projekt auf.
Aus meiner Sicht ist das Utopismus im naivsten Sinne. Wenn der „Commonismus“ mehr sein will als nur eine nette Idee, müssen viel handfestere Probleme bezüglich einer gesellschaftlichen Alternative zum Kapitalismus diskutiert und entsprechende Antworten modelliert werden.
Aber selbst dann bleibt es eben nur ein Modell, das in der realen Anwendung keineswegs wie gewünscht aufgehen muss. Gerade umso entfernter die Alternativ-Entwürfe im Verhältnis zum Ist-Zustand sind.
Ich finde den Text gut. Er zeigt den Widersinn der Absolutierung des Tauschprinzipes gut auf.
Zu den Kritkpunkten der beiden anderen Kommentatoren:
„Die Vorstellung Tausch, und damit Märkte, wären eine moderne „Erfindung“, ist empirisch schlicht falsch.“
citation needed 😉
Außerdem schreibt der Autor das so gar nicht:
„Doch getauscht haben die Menschen deswegen noch lange nicht, zumindest nicht in dem harten Sinne wie wir es heute kennen.
Tausch als unbedingte Kopplung – man könnte auch sagen: als wechselseitige Erpressung – ist eine moderne Erfindung. “
Modern ist, dass die Existenz daran hängt, etwas geben zu können, um etwas zu bekommen. Das ist modern und neu. Ohne Beleg (happy about citations), nehme ich an, dass vorher die Menschen unabhängig von einem Geldkreislauf waren, und einfach produziert und bekommen haben innerhalb ihrer Wirtschaftsgruppe, also innerhalb ihres Landgutes im Mittelalter, oder bis vor kurzem innerhalb ihrer Großfamilie in Arabien (Vorsicht: Großes geschätzte Annahme / Vorurteil).
Eigentlich wissen wir zu wenig von der Wirtschaft in anderen Zeiten und an anderen Orten.
Mich würden Belege interessieren.
Die Commons-Mustererkennung auf die Vergangenheit erweitern!
@Christian: Im einem Essay schreibe ich gerne ohne Belege, in einem wissenschaftlichen Artikel würde ich solche weitreichenden Aussagen belegen.
Anyway, du stellst zwei interessante Fragen: Ist jede Kopplung von Geben und Nehmen Tausch? Ist Tausch was Modernes?
Die erste Frage würde ich mit Nein beantworten. Im Text steht es auch für die Ebene der Gesellschaft explizit, dass dort aus Nachhaltigkeitsgründen mindestens mittelfristig Nehmen und Geben aneinander gekoppelt sein müssen. Für die kollektive Ebene gilt das sicherlich auch für J&S-Gesellschaften. Dennoch bedeuten diese Kopplungen nicht, dass dort getauscht wird oder werden muss.
Die zweite Frage ist, so allgemein gestellt, sicherlich auch zu Verneinen. Deswegen nenne ich es enger gefasst „Tausch als unbedingte Kopplung“. Dieser ist zusammen mit einem allgemeinen Eigentums- und Vertragsbegriff sowieso dem Geld als allgemeines Äquivalent eine moderne Form, die die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt. Das schließt ein, dass es Vorformen gab, die jedoch für die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht bestimmend waren. Dort waren eher völlig anders gestaltete Verpflichtungsverhältnisse maßgeblich. Häufig werden solche Vorformen aber durch unsere Brille der modernen Begriffe von Tausch, Vertrag und Geld falsch verallgemeinernd missinterpretiert (bis hin zur Ontologisierung). Dies zeigt Eske Bockelmann in seinem neuen Buch „Das Geld“ anschaulich und überzeugend, wie ich finde.
Ich hege also den Verdacht, dass eine solche unzulässige Interpretation vorliegt, wenn du schreibst: „Tatsächlich gilt das [Tausch] wohl für nahezu jede Gesellschaft, deren Komplexität über die von Jäger-und-Sammler-Gesellschaften hinausgeht – und auch letztere haben bisweilen [an den Rändern] getauscht“.
@Perikles: Wenn du schreibst „Die Vorstellung Tausch, und damit Märkte, wären eine moderne „Erfindung“, ist empirisch schlicht falsch“, dann wirst du dich vielleicht wundern, dass ich dem zustimmen kann. Das liegt schlicht daran, dass es Vorformen gegeben haben muss. Tausch, Märkte und Geld sind nicht vom Himmel gefallen. Es sind jedoch Vorformen der entwickelten allgemeinen oder modernen Form, wie wir sie heute kennen und wie sie – und das ist für mich entscheidend – für alle die gültigen Formen sind, derer wir uns bedienen müssen, um unsere Existenz zu sichern. Und welche Verrücktheiten das zeitigt, war Thema meines Essays.
Weiter schreibst du: „Genau an dieser selbstkritischen Skepsis mangelt es zahlreichen linken Utopien, weshalb sie selten überzeugend sind. Denn was auf dem Papier gut aussieht und in sich stimmig erscheint, muss es in der Praxis keineswegs sein.“ — Letzterer Aussage stimme ich zu, ersterer jedoch was unsere kategoriale Utopie angeht nicht. Gerade hier (auf keimform.de) ist doch ein Ort, wo diese Skepsis diskutiert wird. Und das ist gut so. Wir haben in unserem Buch „Kapitalismus aufheben“ genau dazu eingeladen.
Weiter: „Mir scheint es so, dass die Verfechter/innen des „Commonismus“ viele komplexe Fragen bezüglich einer nachkapitalistischen Wirtschaft überhaupt nicht bekannt sind oder die Auffassung vertreten, diese ließen sich „schon irgendwie lösen, wenn es soweit ist““. Wenn dir Fragen einfallen, dann stelle sie gerne – kann ja sein, dass uns viele Fragen nicht bekannt sind. Etliche (aus meiner Sicht wesentliche) Fragen haben wir jedoch schon gestellt und sind damit weit über das hinaus gegangen, was es dazu bislang gibt. Und zwar gerade deswegen, weil wir nicht der Meinung sind, dass sie sich „schon irgendwie lösen, wenn es soweit ist“. Wir stimmen also überein, nur wäre es hilfreich, wenn du es nicht bei einer allgemeinen Kritik belässt, sondern konkreter wirst: An welcher Stelle der von uns vorgelegten kategorialen Utopie siehst du solche ungestellten Fragen?
Wenn du schreibst „Dabei stellen sich viele radikale Linke eine komplexe, industrielle Massengesellschaft wie eine Wohngemeinschaft vor“, dann frage ich mich, ob du unser Buch überhaupt gelesen hast. Denn genau das diskutieren wir dort.
Weiter: „Wenn der „Commonismus“ mehr sein will als nur eine nette Idee, müssen viel handfestere Probleme bezüglich einer gesellschaftlichen Alternative zum Kapitalismus diskutiert und entsprechende Antworten modelliert werden.“ Gerne, hau raus, die Probleme.
@Stefan: Das Problem ist halt, dass du immer zwischen verschiedenen Argumentationsansätzen hin- und herspringt. Im Text redest du von „Tausch als unbedingte Kopplung“, ohne zu erklären, was du damit meinst. Wenn man versucht, das zu interpretieren (so wie ich), erklärst du dann, das du eigentlich ja nur eine ganz bestimmte Form des Tauschens meinst, die mit „einem allgemeinen Eigentums- und Vertragsbegriff sowieso dem Geld als allgemeines Äquivalent“ einhergeht. Aus dem Text selbst geht das nicht hervor. Und logisch folgern könnte man aus der Kritik an diesem Tauschkonzept dann auch nur, dass halt diese Form von Tausch aufhören muss – was dann aber logischerweise auch darauf hinauslaufen könnte, dass sich eben etwas am „Eigentums- und Vertragsbegriff“ ändern müsste.
Aber ohne Begriffe, die du anderen nicht immer unter den Fingern wegziehst, wirst du nicht mit andern diskutieren können. Ich würde gerne von dir wissen, wie du am einzelnen Tauschakt festmachst, ob es sich bei diesem um eine „Vorform“ oder um einen Tausch im eigentlichen (modernen?) Sinne handelt. Nur wenn du das schon am einzelnen Akt klar trennen kannst, könnte man untersuchen, ob es Tausch schon in früheren Gesellschaften gab und welche Rolle er für diese spielte. So wie du es machst, läuft es auf eine Tautologie heraus: du will den Akt erst dann Tausch nennen, wenn er „für die gesellschaftlichen Verhältnisse [so] bestimmend“ geworden ist, wie das im Kapitalismus der Fall ist, und nennst das vorige „Vorformen“, ohne aber präzise die Unterschiede benennen zu können oder zu wollen. Damit ist dann „bewiesen“, dass es vor dem Kapitalismus keinen Tausch gab. Aber tatsächlich präsentierst du da nur als Erkenntnis, was du vorher als terminologische Vorentscheidung hineingelegt hast. Gleichzeitig ist es eine ziemliche Unverschämtheit gegenüber allen früheren Gesellschaften, in denen solche „Vorformen“ vorkamen, weil du ihnen unterstellst, quasi nur auf den Kapitalismus hingearbeitet zu haben und gesellschaftliche Formen verwendet zu haben, die ohne die fertig entwickelte kapitalistische Form gar nicht verständlich sind.
Und „warum die Kopplung von Geben und Nehmen“ so ganz pauschal „aufhören muss“ – wie der Titel deines Essays erklärt – bleibt unklar, weil sich deine konkrete Kritik ja nur auf eine spezifische Form einer spezifischen Form dieser Kopplung bezieht (nämlich den Tausch in seiner modern-kapitalistischen Form) und du gleichzeitig auch noch erklärst, dass die Kopplung gesamtgesellschaftlich betrachtet gar nicht aufhören kann. „Wir sollten aufhören, Menschen zu benachteiligen und auszugrenzen, bloß weil sie gerade nichts beitragen können“ und „Wir sollten es allen, die beitragen können, viel leichter machen, das zu tun“, wären konkrete Kritiken, die eher aus deinen Argumenten folgen würden als diese starke These, und mit denen ich im Übrigen mitgehen würde.
@Tobias:
Ja, so pauschal ist das halt ein Vorurteil, wie dir ja selbst schon schwant. Im Sinne von „unabhängigER“ (als heute) stimmt es sicherlich für viele, insbesondere für die auf dem Land lebenden Menschen, wo oft Subsistenzlandwirtschaft eine wichtige Rolle spielte. Aber auch da wurde gelegentlich Geld gebraucht bzw. geschätzt, wenn es um spezielle Werkzeuge, Dienstleistungen, Luxusgüter etc. ging – Subsistenzwirtschaft war keine totale Autarkie. Und in den Städten war Geld immer wichtig, Subsistenzwirtschaft war dort nicht im großen Stile möglich und eine „geldfreie“ Stadt gab es nie. (Falls jemand Gegenbeispiele weiß, immer her damit! Würde mich aber ernsthaft wundern…)
SO wenig nun auch wieder nicht, nur dass sich die meisten Menschen halt wenig mit dem Thema beschäftigen und gerade unter linken Kapitalismuskritiker:innen seltsame Mythen zirkulieren, wie etwa die von dir geäußerten Vorstellungen. Ich selbst bin da auch kein Experte und weiß nicht so viel wie gut wäre, habe aber vieles aus allerlei Quellen aufgeschnappt, meist ohne detaillierte Referenzen geben zu können. Ein informatives mir bekanntes Buch ist Jacques Le Goff: Geld im Mittelalter (Stuttgart: Klett-Cotta, 2011) – siehe dazu auch meinen gleichnamigen Artikel. Zwei andere Bücher, die ich selbst noch nicht kenne, die aber wahrscheinlich auch helfen würden, sind Hans-Jörg Gilomen: Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters (C.H. Beck, München 2014) und Hans-Joachim Drexhage, Heinrich Clemens Konen, Kai Ruffing: Die Wirtschaft des Römischen Reiches (Akademie-Verlag, Berlin 2002).
@Christian:aus Deinem Artikel:
Der gerechte Preis war auch eng mit der für das mittelalterliche Christentum zentralen Idee der Caritas,
der Nächstenliebe und Mildtätigkeit verbunden (Le Goff 2011, 236).
Kapitalistisches Denken, das systematisch Profite maximiert und aus
jeder Interaktion ohne Rücksicht auf das Gegenüber das für die eigene
Seite mögliche Maximum herauszuholen sucht, steht zu dieser gerechten
Preisvorstellung im diametralen Widerspruch.
Da kommen wir zusammen: Es war ein anderer Tausch als Kapitalismus:
– es gab kaum Erpressungspotential, weil es noch genügend Subsitenzwirtschaft und Teile von Autarkie gab,
– der Preis orientierte sich auch an den Bedürfnissen der Tauschpartner wg. „Caritas“.
Auch heute gibt es im halb-privaten Umfeld Handel, bei denen der Preis von dem Gegenüber abhängt („Für Freunde mache ich einen guten Preis.“).
Auch sind Menschen ehrlich beleidigt, wenn man ihnen Geld für eine getahene Leistung/Gefälligkeit geben möchte.
Ich glaube, es gibt Zwischenformen von Tausch und Nicht-Tausch. Vielleicht sollte man diese mit in den Entwurf einer Theorie, die hoffentlich realisierbar ist, einer commonsbasierten Wirtschaft aufnehmen.
@Tobias:
Genau. Gleichzeitig war es aber zweifellos eine Form des Tauschens, was da stattfand. Ich glaube auch nicht, dass man an diese mittelalterlichen Formen ohne Weiteres wieder anknüpfen kann (oder sollte), aber das macht schon klar, dass ein allgemeines Bashing des „Tausches“ oder gar der „Kopplung“ keinen Sinn macht, weil es eben den gesellschaftlichen Kontext nicht mit einbezieht.
@christian
Da sind wir auseinander:
Ein allgemeines Bashing des Tauschens kommt der Lösung und der Idee der Commons schon ziemlich nah.
Z.B. von der Wirtschaft der Altsachsen bis ca. 800 n.Chr. wissen wir wenig, wie dort die Verteilung der Produkte geschah. Von den Altsachsen ist nicht einmal die Religion überliefert, lt. wikipedia.
Ich behaupte weiterhin: Gegenseitiges Schenken gemäß Bedürfnissen kommt der Wirtschaftsform der Menschen bis zum Kapitalismius näher, als das perverse Tauschsystem mit G-W-G‘ von heute.
@christian:
„eine „geldfreie“ Stadt gab es nie“
Das stimmt wohl kaum. Die ältesten Städte sind schon aus der Neusteinzeit, das älteste Münzgeld erst aus der späten Eisenzeit. Da liegen 8 bis 9 tausend Jahre dazwischen. Es gab dreimal so lange Städte ohne Geld wie mit.
Und selbst wenn man einen breiteren Geldbegriff verwendet stimmt es nicht. Die ersten Schuldsysteme stammen auch erst aus der Bronzezeit.
@Tobias:
Kennst du Elinor Ostroms Design-Prinzipien für Commons-Institutionen?
Da ist sie also wieder, die berüchtigte (?) Kopplung von Geben und Nehmen bzw. von Kosten und Nutzen. Ob auch getauscht wird, wenn Kosten sowie Nutzen proportional aufgeteilt werden, darüber kann man sicher streiten. Früher hätte ich da wahrscheinlich Nein gesagt (vgl. mein Buch Beitragen STATT tauschen), inzwischen erscheint mir das als ein sinnloser Kampf darum, eine kontraintuitive Sprachverwendung durchsetzen zu wollen. Inzwischen würde ich eher sagen, dass der Tausch (über den man streiten kann) bzw. die Kopplung (die bei Commons jenseits der digitalen Sphäre in aller Regel da ist) halt einer ganz anderen Logik entspricht als bei der kapitalistischen Profitmacherei. Und das ist das Entscheidende.
Klar, wenn es funktioniert… Aber welche Bedingungen sind dafür nötig und was kann man sinnvollerweise machen, wenn diese Bedingungen eben nicht erfüllt sind? Da kann man schon einigen Gehirnschmalz reinstecken. Und woher diese traurige Fantasielosigkeit, als ob es zwischen bedingungslosem Schenken und kapitalistischem G-W-G‘ nicht noch viele andere Formen geben könnte?
@Benni:
Fragt sich, ab wann man tatsächlich sinnvoll von „Stadt“ reden kann – waren diese Ansiedlungen so groß, dass dort keine Subsistenzproduktion mehr möglich war? (Das war ja das Kriterium, das ich genannt hatte.) Wenn ja, wie funktionierte die Wirtschaft dort – weiß man das?
Den Fund von Münzen würde ich übrigens nicht unbedingt als notwendiges Kriterium für die Existenz eines Geldsystems ansehen – oft wurden ja auch andere Dinge als frühe „Geldwaren“ genutzt, etwa Muschelgeld.
@Christian, eine Bitte: Könntest du solche Sätze wie „Das Problem ist halt, dass du immer zwischen verschiedenen Argumentationsansätzen hin- und herspring[s]t“ sein lassen? Du nimmst es so wahr, das kann sein, aber aus meiner Sicht ist es nicht so. Im Gegenteil, ich versuche auf deine Punkte einzugehen. Wenn du da was nicht verstehst, dann frag doch einfach oder drücke aus, was dir unklar ist oder widersprüchlich erscheint, als mir etwas zu unterstellen. Danke.
Ausgangspunkt war meine Behauptung, „Tausch als unbedingte Kopplung… (sei) eine moderne Erfindung“. Du schreibst, dass „Tauschen bzw. Kaufen und Verkaufen“ auch in früheren Gesellschaften vorkam. Ich stimmte dir zu, und schrieb dass es Vorformen gab, dass jedoch der „Tausch als unbedingte Kopplung“, um den es hier ja geht, „zusammen mit einem allgemeinen Eigentums- und Vertragsbegriff [und] sowieso dem Geld als allgemeines Äquivalent eine moderne Form (ist), die die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt“. Du wirfst mir dann vor, dass ich damit ja „eigentlich ja nur eine ganz bestimmte Form des Tauschens“ meine. Hä?? Davon schreib ich doch die ganze Zeit: „Tausch als unbedingte Kopplung ist eine moderne Erfindung“. Ich springe nicht hin und her, sondern versuche dir zu erklären, was ich von Anfang an meinte. Es kann natürlich sein, dass ich dich dich missverstehe.
Du fragst nun: „Ich würde gerne von dir wissen, wie du am einzelnen Tauschakt festmachst, ob es sich bei diesem um eine „Vorform“ oder um einen Tausch im eigentlichen (modernen?) Sinne handelt.“ Das kannst du am einzelnen Tauschakt nicht festmachen. Du kannst eine einzelne Handlung nicht aus ihren gesellschaftlichen Zusammenhang reissen, in dem sie erst ihre Bedeutung bekommt. Erkenntnistheoretisch gesprochen steckt darin ein methodischer Individualismus (das Element erzeugt die Totalität). Damit befasst sich Eske Bockelmann in seinem Buch, das ich schon erwähnte. Er zeigt, dass aus den Kontext genommene Einzelhandlungen interpretiert mit unserem modernen Verständnis, also dem, was wir für wahr und deswegen allgemeingültig halten, etwa, was allgemein „Geld“ sei, häufig zu Fehlschlüssen führt. Ein Beispiel ist das von dir in #13 erwähnte „Muschelgeld“.
Dann schreibst du: „Gleichzeitig ist es eine ziemliche Unverschämtheit gegenüber allen früheren Gesellschaften, in denen solche „Vorformen“ vorkamen, weil du ihnen unterstellst, quasi nur auf den Kapitalismus hingearbeitet zu haben und gesellschaftliche Formen verwendet zu haben, die ohne die fertig entwickelte kapitalistische Form gar nicht verständlich sind.“ – Du zeigst in deinem eigenen Satz, dass ich etwas unterstelle, was ich aber gar nicht unterstellen kann? Was soll ich darauf antworten? „Ja, stimmt, hab ich ja auch gar nicht getan“?
In #12 schreibst du: „Da ist sie also wieder, die berüchtigte (?) Kopplung von Geben und Nehmen“ und meinst damit Ostroms Punkt 2. Ja, und? Ich schrieb gar in meinem Essay, „dass wir auf gesellschaftlicher Ebene für einen Ausgleich von Produktion („Geben“) und Konsum („Nehmen“) sorgen sollten“. Auch eine Kopplung, keine berüchtigte, sondern eine notwendige. Bei beidem geht es nicht um die individuelle (oder einzelne) Ebene, sondern um die kollektive (Ostrom) oder gesellschaftliche Ebene (Meretz). Eine Kopplung auf diesen Ebenen muss keinen Tausch implizieren.
Mein Eindruck ist, dass du den Tausch retten und gerne zwischen gutem (oder weniger schlechtem) und schlechtem Tausch unterscheiden möchtest, um was zu Guten zu verändern. Ist ein Ansatz, jedoch nicht meiner. Ich versuche zu begreifen, wie es zu den entwickelten Formen des Tausches in der modernen Gesellschaft kam, welche gesellschaftliche Funktionen sie erfüllen (denn das tun sie), und wie diese Funktionen auch anders realisiert werden können, ohne dass der eine Teil der Menschen sich auf Kosten eines anderes Teils durchsetzen muss (aka Exklusionslogik). Und da komme ich zu dem Schluss, dass dies weder über eine Modifikation der modernen Form des Tausches, noch über Rückgriff auf vormoderne Formen realisierbar ist. Deswegen halte ich den Tausch – auch so allgemein gesagt – für nicht nur aufhebungsnötig, sondern auch für aufhebungsfähig.
@Stefan:
Ich gehe ja gerade NICHT davon aus, dass das einzelne Element zwingend die Totalität erzeugt – nur deshalb kann ich ja davon ausgehen, dass es Tausch auch in nichtkapitalistischen Gesellschaft gab. Bei dir hingegen scheint mir die Idee zum Ausdruck zu kommen, dass sich Element und Totalität zwingend gegenseitig bedingen. Nur wenn die Totalität im Wesentlichen so ist, wie sie heute eben ist (spricht: kapitalistisch), kann das Element („Tausch“ bzw. wahrscheinlich eher „Tausch als unbedingte Kopplung“) überhaupt vorhanden sein – vorher bzw. in anderen Gesellschaften kann es vielleicht Elemente geben, die so ähnlich aussehen wie das fragliche Element, sich wesensmäßig aber dennoch vom ihm unterscheiden und deshalb höchstens als „Vorformen“ gelten können. Oder?
Mit so einer Philosophie ist es dann logisch, dass man die Totalität (Kapitalismus) nur dann überwinden kann, wenn man das Element (Tausch als unbedingte Kopplung) ebenfalls hinter sich lässt. Den Gedankengang kann ich nachvollziehen, allerdings leuchtet mir die Philosophie nicht unbedingt ein.
Später schreibst du dann:
Zusammen mit obigem klingt das für mich nach: „Tausch“ gab es also schon vor dem Kapitalismus, nur fehlte ihm damals das für diesen charakteristische Element, nämlich die „unbedingte Kopplung“. So weit so gut, aber nochmal zur Klärung: Was genau meinst du mit der „unbedingten Kopplung“? Wie unterscheidet sich der Tausch ohne unbedingte Kopplung von demjenigen mit?
Zur Kopplung von Geben und Nehmen:
Was heißt „kollektiv“? Ostroms Design-Prinzipien beziehen sich ja auf einzelne Commons-Institutionen, deren Mitglieder im Regelfall Individuen oder Familien sind. (Im Falle der „verschachtelten“ Institutionen aus ihrem 8. Prinzip mögen die Mitglieder selbst Commons-Institutionen sein, aber das ist ja nicht der Normalfall und jedenfalls nicht der einzige Fall, auf den sich ihr 2. Prinzip bezieht.) Insofern ist die Kopplung zwischen der „Verteilung der Kosten“ und der „Verteilung des Nutzens“ im typischen Fall schon individuell (bezogen auf das einzelne Mitglied, ob Person oder Familie).
Ich lese deinen Text, insbesondere aufgrund des Titels („Warum die Kopplung von Geben und Nehmen aufhören muss“) so, dass du auch diese für Commons jenseits der digitalen Sphäre sehr charakteristische Kopplung für zwingend zu überwinden erklärst. Sollte ich dich da missverstanden haben, dann stimmt es, dass wir weniger weit einander sind als ich dachte. (Allerdings würde ich dann immer noch festhalten wollen, dass dein Text bzw. Titel sehr missverständlich formuliert ist.)
Ich glaube, die ganze Debatte leidet darunter, dass hinter den Formen des Tausches nicht nach den spezifischen Eigentums- und Klassenverhältnissen gefragt wird. Oft wird der spezifisch kapialistische Tausch als „dominierend“ oder „unbedingt“ genannt, aber damit er diese Eigenschaft annimmt, müssen bestimmte Bedingungen vorherrrschen: bestimmte Eigentums- und Klassenbeziehungen (und entsprechende Kräfteverhältnisse) (in der Geschichtsdebatte werden so z.B. typische Unterschiede in England und Frankreich im 16. Jhd. erklärt).
Ich weiß, dass ich damit von der hier häufig vertretenen wertkritischen Interpretation des „Kapitals“ abweiche, aber das habe ich schon mehrfach begründet: siehe u.a. https://philosophenstuebchen.wordpress.com/2018/10/07/3-2-1-reduzierte-kapitalismuskritik/ und folgende dort verlinkte Seiten.
@Christian: In deiner Zusammenfassung des Verhältnisses von Element und Totalität fühle ich mich im wesentlichen verstanden. Danke. Sofern es nicht um Element-Totalitätsverhältnisse geht, spreche ich von Vorformen oder Keimformen (und nicht von Elementen oder Momenten), wobei „Vorformen“ als solche nur aus heutiger Sicht rückblickend so bestimmbar sind – das ist das ganze Thema mit dem retrospektiven Blicks des Fünfschritts (erst im Rückblick können wir das Gewordensein der entfaltetenen Formen begrifflich rekonstruieren).
Weil die Vorformen in einem anderen Systemzusammenhang stehen (einer andereren Totalität), nehmen sie dort eine andere Funktion ein und sind auch oft mit anderen Aspekten verbunden. Für den Tausch wären das etwa traditionelle Beziehungen, die die Weisen des Tauschs regulierten und dafür sorgten, dass die Kopplung von Geben und Nehmen nicht so „unbedingt“ war wie heute in der entfalteten Form. Das ist meine Antwort auf deine Frage, was den „Tausch ohne unbedingte Kopplung von demjenigen mit“ unterscheide. Ich verwende das Adjektiv „unbedingt“ (da hänge ich nicht am Wort, lies: „Du musst dem folgen, willst du deine Existenz in der Form sichern“) dafür, dass es heute wenige nur andere Aspekte gibt, die den Tausch in seiner Kopplung aufweichen. Btw, die Commons versuchen ja genau das. In anderen Worten: Die unbedingte Kopplung ist die dominante Form, was vor dem Kapitalismus nicht so war.
Dieses grob skizzierte Verhältnis von entfalteter Form und Vorform sehe ich für zahlreiche Kateorien des Kapitalismus: Ware, Markt, Eigentum etc. Aus meiner Sicht ist diese Unterscheidung wesentlich. Deswegen finde ich die sehr verbreiteten lapidaren Aussagen: „XY ab es doch auch schon bei AB“ in der Vergangenheit nicht sehr erkenntnisträchtig, sondern oft irreführend – mit aus meiner Sicht völlig abwegigen Schlüssen wie der Annahme, es könne eine Marktwirtschaft ohne Kapitalismus geben etc.
Ich weiß nicht, ob dir „die Philosophie“ (die Erkenntnistheorie) jetzt mehr einleuchtet, vermutlich nicht, denn dazu wäre mehr auszuführen. Hab ich im wesentlich mit meiner Hegel- und Marx-Rezeption so gelernt. Völlig klar, dass andere da anderes rausziehen.
Kopplung auf kollektiver Ebene heißt, dass sie für das Individuum nicht gilt oder aufgeweicht ist. Etwa der Beitrag in vielen Solawis kann vom Richtwert abweichen, aber Null wird nicht erlaubt oder gern gesehen. Genauso bei der Verteilung der Ernte: Es gibt Listen mit Anteilen oder gepackte Kisten, aber Umverteilung ist möglich. Auf der Kollktivebene muss es dennoch „aufgehen“.
Ja, „diese für Commons jenseits der digitalen Sphäre sehr charakteristische Kopplung [halte ich] für zwingend zu überwinden“ – aufzuheben, würde ich sagen, denn wie gesagt, völlig überwindbar ist sie (auf gesellschaftlicher Ebene) nicht. Ich habe den Titel bewusst (für die essayistische Form) so provokativ gewählt. Ich wollte zum Gedankenspiel anregen, wie wir Corona ohne die Kopplung durchgestanden hätten – nämlich ohne die existenzielle Krise, die das „Runterfahren“ der Ökonomie für Milliarden Menschen heute bedeutet. Letztlich ist das nur ein Versuch, über einen kleinen (in der Darstellung) isolierten Aspekt, das große Ganze zu thematisieren: ein Faden, an dem du ziehst, und es hängt alles dran. Ziehst du an einem anderen Faden, ist es genauso. Kann sein, dass es für dich so nicht funktionierte – du hast da wohl auch „höhere“ Ansprüche als ich mit dem Essay befriedigen konnte.
@Annette#16: Ja, ich habe nicht die Moment-Totalitätsverhältnisse rekonstruiert. Exakt: Es müssen bestimmte Bedingungen vorherrschen, damit sich ein solches historisch-spezifisches Verhältnis durchsetzt. Du nennst Eigentums- und Klassen-/Kräfteverhältnisse als Bedingung. Kein Widerspruch hier, auch wenn ich die traditionalistische Klassendiktion nicht (mehr) teile. Die Frage ist hier (noch) nicht, ob es bestimmte Klassen-/Kräfteverhältnisse gab/gibt, sondern welche Rolle sie für die Aufhebung/Transformation spielen.
@Stefan#18: „Die Frage ist hier (noch) nicht, ob es bestimmte
Klassen-/Kräfteverhältnisse gab/gibt, sondern welche Rolle sie für die
Aufhebung/Transformation spielen.“
Da alle gesellschaftlichen Veränderungen nur durch das Handeln der Menschen vor sich gehen, spielen sie die entscheidende Rolle. Du magst das vielleicht nicht „klassenbezogenes“ Handeln nennen, aber wenn die einen (nicht als individuelle Menschen aber vom wesentlichen Teil der Gründe ausgehend, die jemanden zum Handeln in diese oder jene Richtung bringen) strukturell die alten Eigentumbedingungen (Privateigentum an Produktionsmitteln und Lebensgrundlagen) aufrecht erhalten wollen und alles dafür tun und die anderen dagegen sind und auch was dafür tun, dann hast Du klassenbezogenes Handeln. Viele von uns haben viele Gründe, das nicht mehr so nennen zu wollen, die anderen dagegen sind ehrlicher, so z.B. Warren Buffet. „There’s class warfare, all right, but it’s my class, the rich class, that’s making war, and we’re winning.“