Anarchokommunistische Klassiker: Errico Malatesta (1)

Errico Malatesta (gemeinfrei, Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:ErricoMalatesta.gif) Ein Kommentar von Justin hat mich dazu gebracht, mich intensiver mit den Gesellschaftsvorstellungen des Anarchokommunismus zu beschäftigen. Das lohnt sich, da es in der Tat große Ähnlichkeiten zu unseren Keimform-Perspektiven gibt. Ich beginne mit Errico Malatesta, einem italienischen Anarchisten, der von den 1870er Jahren an fast 60 Jahre lang aktiv war.

Gegen politische und wirtschaftliche Unterdrückung

Malatesta (1891) zufolge gibt es zwei Arten von Unterdrückung, politische und wirtschaftliche. Politische Unterdrückung basiert auf Gewalt oder deren Androhung: wer nicht tut, was ich sage, oder wer gegen meine Gesetze verstößt, der oder dem drohen Verhaftung und Gefängnis (oder Schlimmeres).

Wirtschaftliche Unterdrückung ergibt sich aus der exklusiven Kontrolle von Land und anderen zum Leben benötigten Mitteln durch Einzelne oder Gruppen. Wer selbst nicht zu diesen privilegierten Gruppen gehört, ist gezwungen, ihnen die eigene Arbeitskraft (oder deren Produkte) zu verkaufen, um überleben zu können.

Anarchistinnen (ich verwende weibliche und männliche Formen zufällig im Wechsel) stellen sich gegen beide Formen von Unterdrückung, die politische (die auf Macht und der Drohung mit Gewalt basiert) ebenso wie die wirtschaftliche (die auf Eigentum basiert). Darin unterscheiden sich die „eigentlichen“ oder „linken“ Anarchisten von den heute insbesondere in den USA verbreiteten Marktanarchistinnen oder „Libertären“, die mit ungleichen Eigentumsverhältnissen und der daraus folgenden wirtschaftlichen Unterdrückung und Ausbeutung keine Probleme haben.

Kritik der parlamentarischen Demokratie

Was ist gegen Regierungen einzuwenden, wenn sie demokratisch bestimmt werden, durch allgemeine Wahlen? Malatesta (1891) weist darauf hin, dass wirtschaftliche Ungleichheit zwangsläufig auch zu Ungleichheit im politischen Prozess führt. Wer genug Geld hat, hat viel mehr Möglichkeiten, die öffentliche Meinung und die Regierung in seinem Sinne zu beeinflussen als diejenigen, die den ganzen Tag damit beschäftigt sind, ihr Überleben zu sichern. Auch unterschiedliche Bildungsniveaus spielen eine Rolle und diese hängen wiederum eng mit der persönlichen wirtschaftlichen Ausgangsposition zusammen. Allgemeines Wahlrecht ermöglicht also keineswegs die allgemeine und gleiche Beteiligung aller.

Zudem wird eine Regierung, an die eben der Anspruch gestellt wird, die Gesellschaft zu „regieren“ und alle eventuell auftretenden Probleme „in den Griff zu kriegen“, zwangsläufig die entsprechende Geisteshaltung entfalten. Sie wird alle gesellschaftlichen Entwicklungen von polizeilichen Standpunkt aus betrachten und sich fragen, ob und wie sie eingreifen kann und muss und wie sie durch Gesetze und andere Zwangsmaßnahmen für „Ordnung“ sorgen kann. Eine gesellschaftliche Selbstorganisation, bei der die Menschen selbst herausfinden, was für sie gut ist, und sich bei eventuellen Konflikten zusammensetzen, um nach für alle annehmbaren Lösungen zu suchen, wird so erschwert bis unmöglich gemacht.

Ergänzend wäre noch anzumerken, dass gemäß Malatestas Anspruch, keine politische oder wirtschaftliche Unterdrückung zuzulassen, die politische Unterdrückung von Minderheiten durch die Mehrheit ebenso wenig akzeptabel ist wie die Unterdrückung der Mehrheit durch eine Minderheit. Dass Gesetze demokratisch beschlossen wurden, also direkt oder indirekt dem Mehrheitswillen entsprechen, bedeutet somit noch lange nicht, dass sie alle – auch die, die nicht einverstanden sind – binden.

So dürften die meisten Menschen in westlichen Ländern zustimmen, dass die gesetzliche Sanktionierung homosexueller Handlungen – heute noch in vielen Ländern Realität – illegitim ist, und zwar auch dann, wenn eine Mehrheit in dem entsprechenden Staat sie gutheißt. Die Mehrheit hat kein Recht, Minderheiten nach Belieben den eigenen Vorstellungen zu unterwerfen. Richard Stallman (1994) drückt dies so aus:

Es ist von fundamentaler Bedeutung, dass nicht Gesetze entscheiden, was richtig und was falsch ist. Jeder Amerikaner sollte wissen, dass es in den 1950ern in vielen US-Staaten für eine schwarze Person gegen das Gesetz war, im vorderen Teil des Busses zu sitzen; aber nur Rassisten würden sagen, dort zu sitzen, war falsch.

Solidarische Selbstorganisation

In Malatestas (1891) Vision einer anarchistischen Gesellschaft gibt es weder eine Regierung, deren Wille für alle bindend ist und notfalls gewaltsam durchgesetzt werden kann, noch gibt es die Notwendigkeit, sich selbst – die eigene Arbeitskraft oder deren Ergebnisse – zu verkaufen, um überleben zu können. Es gibt also keinen Staat, der „das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht“ (Max Weber, zitiert nach Wikipedia 2014) – Anarchistinnen lehnen das staatliche Gewaltmonopol ab, da ihrer Meinung nach überhaupt niemand Gewalt ausüben darf, außer in Notwehr. Es gibt aber auch keinen Markt, auf dem mit Arbeitskraft und deren Produkten gehandelt wird, und keine Firmen, die Menschen beschäftigen und ausbeuten, um Profite zu machen.

Stattdessen besteht die Gesellschaft aus einem Netzwerk selbstorganisierter Vereinigungen (Assoziationen), mittels deren die Beteiligten ihre Existenz, ihre Entfaltungsmöglichkeiten und ihr Wohlbefinden sichern. Grund für diese freiwillige Kooperation und gegenseitige Hilfe ist die Einsicht, dass man durch Zusammenarbeit besser und eher zum Ziel kommt, während sich ein vereinzeltes Individuum schwertut und ein allgemeiner Konkurrenzkampf gegen andere allen schadet – nicht nur den Verlierern, sondern auch den (momentanen) Gewinnerinnen, die immer damit rechnen müssen, in der nächsten Runde ihrerseits auf der Strecke zu bleiben.

Malatesta sieht die Entwicklung der Kooperationsfähigkeit sogar als entscheidenden Schritt in der Evolution des Menschen: nur in der Gruppe, durch Kooperation und Absprachen, konnten die frühen Menschen gedeihen. Die Sprache mit ihrer potenziell unbegrenzten Ausdrucksfähigkeit – das Merkmal, das den Menschen wohl am deutlichsten von anderen Tierarten unterscheidet – hat sich seiner Ansicht nach als Kooperationsmittel entwickelt.

Solidarische Selbstorganisation bedeutet für Malatesta, dass die Produktionsmittel – Land und andere Rohstoffe sowie Arbeitsmittel – allen gehören und gemeinsam genutzt werden. Er bezeichnet dies als „Abschaffung des Privateigentums“ (ohne dabei auf Privateigentum, das nicht als Produktionsmittel angesehen werden kann, weiter einzugehen). Eine effektive Abschaffung des Privateigentums setzt für ihn auch die Abschaffung von Regierungen voraus, da diese sonst immer wieder private Eigentums-Vorrechte oder andere Privilegien einführen und durchsetzen würden (siehe weiter unten für eine Diskussion dieses Punkts).

Das Verschwinden von Privateigentum und Herrschaft würde aber keineswegs ein Ende der gesellschaftlichen Kooperation bedeuten, ganz im Gegenteil. Wo die Kooperation heute unter Zwang erfolgt (man muss die eigene Arbeitskraft verkaufen, um überleben zu können) und in erster Linie privilegierten Gruppen zugute kommt (man arbeitet für den Profit der Aktionärinnen oder sonstigen Kapitalgeber), wäre sie dann freiwillig und ungezwungen und würde allen zugute kommen.

Die Gesellschaft würde sich durch die freie und freiwillige Beteiligung aller spontan selbst organisieren. Die gesellschaftliche Organisation würde dezentral, von unten nach oben, erfolgen. Sie würde sich zuerst den dringendsten Bedürfnissen widmen, aber dann immer weiter um sich greifen, bis sie auch exotische Sonderwünsche erfüllen kann.

Malatesta bezweifelt nicht, dass auch komplexe Angelegenheiten wie Post und Eisenbahnen – die zu seiner Zeit Staatsbetriebe waren – in freiwilliger Selbstorganisation betrieben werden können. Je mehr Menschen solche Dienste nutzen wollen und je dringender ihr Bedürfnis danach ist, desto eher werden sich Freiwillige finden, die sich darum kümmern. Und die Freiwilligen sind selbst in der Lage, praktische Lösungen für alle sich ergebenden Probleme zu finden. Sie brauchen keinen Staat, der ihnen Vorschriften macht, sondern ihre Kontrolleure sind die Nutzerinnen selbst, die ihnen schon erzählen werden, wenn sie unzufrieden sind. Auch das sind Gedankengänge, die uns bei Keimform vertraut sind.

Malatesta betont, dass Arbeitsteilung und Kooperations- und Verwaltungsaufgaben dadurch nicht verschwinden würden. An die Stelle von Regierungsvorschriften oder hierarchischen Kommandostrukturen würden freie Vereinbarungen zwischen den Menschen treten, die als Nutznießer oder Freiwillige an bestimmten Diensten oder Produkten interessiert sind. Dabei wären alle gleichberechtigt, es gäbe niemand mehr, der aufgrund seines Amtes oder seiner Stellung im Produktionsprozess besonders privilegiert ist.

Egoismus und Altruismus

Kein anderer gesellschaftlicher Modus kann Malatesta zufolge des Wohlergehen der Menschen so gut sicherstellen wie die solidarische Selbstorganisation. Wer dies verstanden hat, wird die anarchistische Gesellschaft schon aus rein egoistischen Gründen befürworten. Egoismus und Altruismus (Sorge um das Wohlergehen der anderen) sind also keine Gegensätze, sondern fallen bei richtiger gesellschaftlicher Organisation zusammen. Auch diese Idee ist uns bei Keimform schon begegnet.

Beispiele für Selbstorganisation

Als Beispiele für mehr oder weniger anarchistische Selbstorganisation, die weder von der Regierung angeordnet noch durch Profitinteressen motiviert ist, nennt Malatesta wissenschaftliche Organisationen und Kongresse, Hilfsorganisation wie die Wasserrettungsorganisationen und das Rote Kreuz und Arbeiterorganisationen. Zweifellos würde er heute Freie-Software-Projekte und andere Peer-Projekte als weitere Beispiele ansehen.

Eine „gute“ Regierung?

Können Regierungen nicht doch uneigennützig und zum Wohle aller handeln? Malatesta bezweifelt das. Er weist darauf hin, dass die Regierenden selbst ja schon notwendigerweise gewisse Privilegien haben – andernfalls wären sie keine Regierung, sondern ein ganz normaler Teil der Bevölkerung. Regierung und Gesellschaft ohne Privilegien schließen sich also gegenseitig aus.

Zur Frage, ob Regierungen nicht übergangsweise eine gewisse Rolle spielen könnten, bis sie schließlich überflüssig werden und verschwinden – entsprechend der marxistischen Vorstellung vom allmählichen „Absterben des Staates“ im Sozialismus – verweist Malatesta auf ein Phänomen, das man als Variante des Parkinsonschen Gesetzes ansehen kann:

Jede Institution wird immer darauf hinwirken, dass sie in Zukunft mindestens ebenso sehr gebraucht wird wie heute.

Eine sich selbst überflüssig machende Regierung ist also eine Illusion.

Eine Regierung kann zudem niemals alle zufriedenstellen. In jeder strittigen Position muss sie sich Verbündete suchen, um sich durchzusetzen, und diese Verbündeten müssen umworben und belohnt werden. Auch deshalb kann selbst eine gutwillige Regierung nicht auf die Zusicherung und Durchsetzung gewisser Privilegien – ob Privateigentum, Macht oder anderes – verzichten.

Literatur

(Wird fortgesetzt.)

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