Wiederaneignung des Gemeinsamen im Kommunismus

[Translation of »Reclaim the common in communism« by Michael Hardt]

Kapitalismus und Sozialismus zeigen die Welt als privates oder öffentliches Eigentum. Die gemeinsame immaterielle Schöpfung bietet eine Aternative.

Die Finanzkrise, die im Herbst 2008 erplodierte, hat die vorherrschenden Sichten auf Kapitalismus und Sozialismus umgeordnet. Bis vor Kurzem wurde jede Kritik neoliberaler Strategien der Deregulation, Privatisierung und Abbau von Wohlfahrtstrukturen — geschweige denn des Kapitals selbst — in den dominanten Medien als aberwitzig ausgegeben. Im Frühjahr 2009 jedoch verkündete Newsweek auf der Titelseite, nur teilweise ironisch: »Wir sind nun alle Sozialisten«. Die Herrschaft des Kapital stand plötzlich offen in Frage, von links bis rechts, zumindest für einige Zeit schien eine gewisse Form sozialistischer oder Keynsianistischer Staatsregulation und -Verwaltung unvermeidlich.

Wir müssen uns jedoch außerhalb dieser Alternative umsehen. Zu oft schien es so, als ob unsere einzige Wahl die zwischen Kapitalismus oder Sozialismus ist, zwischen der Herrschaft des Privateigentums und der des öffentlichen Eigentums, so dass das einzge Heilmittel für die Krankheiten der Staatskontrolle die Privatisierung und für die Krankheiten des Kapitals die Verstaatlichung, die Staatsregulation, ist. Wir müssen eine andere Alternative untersuchen: weder das Privateigentum des Kapitalismus, noch das öffentliche Eigentum des Sozialismus, sondern das Gemeinsame des Kommunismus.

Viele zentrale Konzepte unseres politischen Vokabulars, einschließlich Kommunismus wie auch Demokratie und Freiheit, wurden so korrumpiert, dass sie weitgehend unbrauchbar sind. In der üblichen Verwendung bedeutet Kommunismus tatsächlich inzwischen sein Gegenteil, nämlich die totale Kontrolle des ökonomischen und sozialen Lebens. Sicherlich könnten wir diese Begriffe aufgeben und neue einführen, aber wir würden auch die lange Geschichte der Kämpfe, Träume und Sehnsüchte zurücklassen, die damit verbunden sind. Ich denke, es ist besser um diese Konzepte selbst zu kampfen, um sie wiederherzustellen oder ihre Bedeutung zu erneuern.

Einer der Gründe, warum die kommunistischen Hypothesen der vorherigen Epochen nicht länger gültig sind, ist die Veränderung der Zusammensetzung des Kapitals — sowohl hinsichtlich der Bedingungen wie auch der Produkte der kapitalistischen Produktion. Wie produzieren die Menschen innerhalb und außerhalb des Arbeitsplatzes? Was produzieren sie und unter welchen Bedingungen? Wie ist die produktive Kooperation organisiert? Und wie ist die Teilung von Arbeit und Macht beschaffen, die die Menschen entlang von Gender- und ethnischen Linien und in lokale, regionale und globale Kontexte trennt?

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hat die große Industrie die hegemoniale Postion innerhalb der Gesellschaft inne — nicht in dem Sinne, dass die meisten Menschen in Fabriken arbeiten (tatsächlich tat dies nur ein kleiner Prozentsatz, auch in den dominierenden Ländern), sondern eher darin, dass die Eigenschaften der Industrie zunehmend auf die anderen ökonomischen Sektoren und letztlich die Gesellschaft selbst ausgedehnt wurden. Heute jedoch ist klar, dass die Industrie eine solche hegemoniale Position nicht mehr inne hat. Das bedeutet nicht, dass heute weniger Menschen in Fabriken arbeiten als vor 10 oder 20 oder 50 Jahren — obwohl sich ihre Orte zur anderen Seite der globalen Teilungen von Arbeit und Macht verschoben haben. Noch einmal: Die Behauptung ist nicht primär eine quantitative, sondern eine qualitalitive. Die Industrie stülpt nicht länger den anderen Sektoren der Ökonomie und allgemein den sozialen Verhältnissen ihre Eigenschaften über. Das scheint mir eine relativ unstrittige Feststellung zu sein.

Mehr Widerspruch kommt auf, wenn man eine andere Form der Produktion als Nachfolger der Industrie als Dominante vorschlägt. Toni Negri und ich argumentieren, dass sich die immaterielle oder biopolitische Produktion in diese hegemoniale Position hinein entwickelt — die Produktion von Ideen, Informationen, Bildern, Wissen, Code, Sprachen, sozialen Beziehungen, Affekten und dergleichen. Das bestimmt die Berufe durch die Ökonomie hindurch, von den Spitzen bis nach unten, von Beschäftigten im Gesundheitswesen, Flugbegleitern und Ausbildern bis zu Software-Entwicklern, und von Fastfood- und Callcenter-Arbeitern bis zu Designern und Werbefachleuten. Die meisten Formen dieser Produktion sind sicherlich nicht neu, aber die Kohärenz zwischen ihnen ist vielleicht eher wahrnehmbar und, noch wichtiger, ihre Eigenschaften werden tendenziell über die anderen Sektoren der Ökonomie und über die Gesellschaft als Ganzer ausgedehnt. Die Industrie wurde informationalisiert: Wissen, Code und Bilder werden durch alle traditionellen Sektoren der Produktion hindurch immer wichtiger, und die Produktion von Affekten und Zuwendung wird im Verwertungsprozess zunehmend entscheidend.

Marx beobachtete parallel zum Aufstieg zur Dominanz der industriellen Produktion einen Kampf zwischen zwei Formen des Eigentums: immobiles Eigentum (wie Land) und bewegliches Eigentum (wie materielle Waren). Mit dem Aufstieg der biopolitischen Ökonomie verläuft der Kampf heute zwischen dem materiellen Eigentum und dem immateriellen Eigentum. Oder um es anders auszudrücken: Während Marx aich auf die Mobilität des Eigentums konzentrierte, geht es heute um Knappheit und Reproduzierbarkeit, so dass der Kampf zwischen exklusivem und geteiltem Eigentum verläuft. Nehmen wir zum Beispiel die Debatten über Patente, Coppyrights, indigenes Wissen, genetischen Code und die Information im Keimplasma der Saaten. Genauso wie Marx sah, dass Beweglichkeit notwendigerweise über Unbeweglichkeit triumphierte, so sehen wir heute den immateriellen Triumpf über das Materielle, das Reproduzierbare über das Unreproduzierbare und das Geteilte über das Exklusive.

Die entstehende Dominanz der Eigentumsform ist signifikant, teilweise, weil es den zentralen Konflikt zwischen dem Gemeinamen und dem Eigentum als solchem zeigt und zu ihm zurückkehrt. Ideen, Bilder, Wissen, Code, Sprachen und auch Affekte können privatisiert und als Eigentum kontrolliert werden, aber es ist viel schwieriger das Eigentum zu überwachen, da es so einfach geteilt und reproduziert werden kann. Es gibt einen konstanten Druck dieser Güter den Grenzen des Eigentum zu entkommen und zum Gemeinsamen zu werden. Wenn du eine Idee hast, dann reduziert das Teilen die Nützlichkeit für dich nicht, sondern meist erhöht es sie. Tatsächlich müssen Ideen, Bilder und Affelte Gemeinsames sein und geteilt werden, damit sie ihre maximale Produktivität entfalten. Wenn sie privatisiert werden, dann reduziert sich ihre Produktivität dramatisch — und, so möchte ich hinzufügen, die Umwandlung des Gemeinsamen in öffentliches Eigentum, das der staatlichen Kontrolle und Verwaltung unterworfen ist, reduziert die Produktivität in ähnlicher Weise. Eigentum wird zu einer Fessel der kapitalistischen Produktionsweise. Hier liegt ein sich entfaltender Widerspruch innerhalb des Kapitals: Je mehr das Gemeinsame als Eigentum eingesperrt wird, umso stärker reduziert sich seine Produktivität, und dennoch untergräbt das Gemeinsame die Eigentumsverhältnisse.

Neoliberalismus wurde definiert durch den Kampf des privaten Eigentums nicht nur gegen das öffentliche Eigentum, sondern auch und vielleicht noch wichtiger als Kampf gegen das Gemeinsame. Zwei Arten des Gemeinsamen wurden Objekt neoliberaler Kapital-Strategien. Auf der einen Seite benennt das Gemeinsame die Erde und alle mit ihr verbundenen Ressourcen: das Land, die Wälder, das Wasser, die Luft, Mineralien und so weiter. Auf der anderen Seite bezieht sich das Gemeinsame, wie ich bereits sagte, auf die Ergebnisse menschlicher Arbeit und Kreativität wie Ideen, Sprache, Affekte und so weiter. Ein Hauptfeld der Privatisierung wurden die Rohstoffindustrien, die transnationalen Konzernen den Zugriff  auf Diamanten in Sierra Leone oder Öl in Uganda oder Lithiumvorräte und Wasserrechte in Bolivien bietet. Viele Autor_innen, einschließlich David Harvey and Naomi Klein, beschrieben dies in Begriffen, die die neue Bedeutung der ursprünglichen Akkumulation oder Akkumulation durch Enteignung hervorhebt.

Die neoliberalen Strategien für die Privatisierung des »künstlichen« Gemeinsamen sind viel komplexer und widersprüchlicher. Je mehr das Gemeinsame Eigentumsverhältnissen unterworfen ist, wie ich sagte, desto weniger produktiv ist es; und dennoch erfordert der kapitalistische Verwertungsprozess private Akkumulation. In vielen Bereichen gehen die kapitalistischen Strategien der Privatisierung des Gemeinsamen durch Mechanismen wie Patente und Copyrights weiter (oft mit Schwierigkeiten), trotz der Widersprüche. Die Musikindustrie und die Computerindustrie sind voll von Beispielen. Dies ist auch bei der sogenannten Biopiraterie der Fall, also Prozessen, mit denen transnationale Konzerne das Gemeinsame in der Form indigenen Wissens oder genetischer Informationen von Pflanzen, Tieren und Menschen enteignen — gewöhnlich durch die Nutzung von Patenten. Traditionelles Wissen über den Einsatz von Erdsamen als natürliches Pestizid, zum Beispiel, oder die Heil-Eigenschaften einer bestimmten Pflanze werden durch die Konzerne mittels Patentierung in privates Eigentum umgewandelt. (Piraterie ist eigentlich eine Fehlbezeichnung für solche Aktivitäten. Piraten haben eine viel noblere Berufung: Sie stehlen Eigentum. Die Konzerne stehlen stattdessen das Gemeinsame und verwandeln es in Eigentum.)

Die Entwicklung des Kapitals ist eindeutig als solches nicht gut, und die tendenzielle Dominanz der immateriellen oder biopolitischen Produktion bringt eine Reihe von neuen und heftigen Formen der Ausbeutung und Kontrolle mit sich. Aber wir sollten aiuch wahrnehmen, wie die biopolitische Produktion — besonders die Weisen, wie sie Grenzen kapitalistischer Verhältnisse überschreitet und sich fortwährend auf das Gemeinsame bezieht — der Arbeit ein größeres Maß an Autonomie einräumt und Werkzeuge oder Waffen bietet, die in einem Projekt der Befreiung angewendet werden können.

Dieser Begriff des Gemeinsamen kann uns helfen zu verstehen, was Kommunismus bedeutet — oder was er bedeuten könnte. Marx argumentiert in seinen frühen Schriften gegen jede Konzeption des Kommunismus, die die Abschaffung des Privateigentums nur enthält, um die Güter zum Eigentum einer Gemeinschaft zu machen. Stattdessen ist Kommunismus richtig verstanden nicht nur die Abschaffung des Privateigentums, sondern des Eigentums als solchem. Es ist allerdings schwierig für uns, sich unsere Welt und uns selbst außerhalb von Eigentumsverhältnissen vorzustellen. »Privateigentum hat uns so dumm und einseitig gemacht«, schreibt er, »dass ein Objekt nur dann unseres ist, wenn wir es haben«. Was würde es bedeuten, dass etwas unseres ist, wenn wir es nicht besitzen? Was würde es bedeuten, uns selbst und unsere Welt nicht als Eigentum zu betrachten? Hat Privateigentum uns so verdummt, dass wir das nicht sehen können? Marx versucht den Kommunismus — eher unbeholfen und romantisch — in Begriffen der Erzeugung einer neuen Art des Sehens, eines neues Hörens, eines neuen Denkens, eines neuen Liebens zu fassen, kurz, der Produktion einer neuen Humanität.

Marx sucht hier nach dem Gemeinsamen, oder wahrlich einer Form der biopolitischen Produktion in den Händen des Gemeinsamen. Der offene Zugang und das Teilen, das die Nutzung des Gemeinsamen charakterisiert, sind außerhalb der und feindlich gegen Eigentumsverhältnisse. Wir wurden so verdummt, dass wir die Welt nur als privat oder öffentlich wahrnehmen können. Kommunismus sollte nicht nur durch die Abschaffung des Eigentums definiert werden, sondern auch durch die Affirmation des Gemeinsamen — die Bejahung offener und autonomer Produktion von Subjektivität, sozialer Verhältnisse und Formen des Lebens; die selbstbestimmte Schaffung einer neuen Humanität. In zugespitzten Worten: Was Privateigentum für den Kapitalismus und was Staatseigentum für den Sozialismus ist, ist das Gemeinsame für den Kommunismus.

* Dies ist eine bearbeitete Version eines Essays von Michael Hardt in The Idea of Communism, herausgegeben von Verso Books.

[Übersetzung Stefan Meretz, Fehler sind mein Fehler]

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