Produktive Schweine und unproduktive Kinder
In unser wirtschaftsdominierten Gesellschaft gilt es als selbstverständlich, dass es im wesentlichen „die Wirtschaft“ sei, die die gesellschaftlich notwendigen Güter produziere. Dem ist jedoch nicht so. Durch einen Blick in die offiziellen Statistiken können wir uns davon eindrucksvoll überzeugen.
Das Statistische Bundesamt hat 1991/92 und 2001/02 jeweils eine Zeitbudgetstudie durchgeführt, in der ermittelt wurde, welche Zeit Menschen für welche Tätigkeit verwenden. Im Vorwort einer Broschüre zu den Ergebnissen der letzten Studie schreibt die seinerzeit zuständige Ministerin:
Dass zur Lebensqualität in unserer Gesellschaft gerade diejenigen Arbeiten gehören, die nicht bezahlt werden und somit nicht in die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen eingehen – also Arbeiten im Haushalt, die Kindererziehung, das bürgerschaftliche Engagement und Ehrenamt – das führt diese Untersuchung plastisch und unübersehbar vor Augen.
Bevor ich – im Gegensatz zur Ministerin, die mit dem zitierten Satz ihr Vorwort beendet – die Studie bewerten will, seien zunächst einmal einige Ergebnisse vorgestellt. Ich beschränke mich auf die Daten zur bezahlten und unbezahlten Arbeit. Als unbezahlte Arbeit gelten alle Tätigkeiten im Haushalt (die sog. Haushaltsproduktion), Pflege- und Betreuungs- sowie ehrenamtliche Tätigkeiten.
Die oben dargestellte Grafik (Klicken zum vergrößern) zeigt das Jahresvolumen der unbezahlten und bezahlten Arbeit jeweils für den Zeitraum der ersten und zweiten Studie. Berechnet man die jeweiligen Anteile an der insgesamt notwendigen Arbeit, so ergibt sich für beide Zeiträume ein Anteil von ca. 63% unbezahlter und 37% bezahlter Arbeit (mit minimaler Verschiebung in Richtung bezahlter Arbeit).
Die Wegezeiten zur Erwerbsarbeit wurden allerdings extra ausgewiesen. Rechnet man diese zur unbezahlten Arbeit (was in der Regel der Fall sein dürfte: obwohl für die Erwerbsarbeit erforderlich, gibt‘s dafür kein Geld), dann ergibt sich ein Anteil von ca. 65,5% unbezahlter und 34,5% bezahlter Arbeit. Insgesamt kann man also von einem Verhältnis von zwei Dritteln unbezahlter Arbeit und einem Drittel bezahlter Arbeit ausgehen.
Denkt man darüber hinaus an die Erkenntnis von Karl Marx, nach der sich der Wert der Ware Arbeitskraft durch die Kosten zu ihrer Wieder-/Herstellung bestimmt, dann wären die in der Studie separierten Bereiche der Regeneration (Freizeit, Erholung, Mediennutzung) und der Weiter-/Bildung ebenfalls mit einzubeziehen. Da es sich bei der Studie um eine Zeituntersuchung handelt, lassen sich jedoch insgesamt die monetären Kosten nicht bestimmen.
Auch die Betreuungszeiten bei pflegebedürftigen Personen sind eher unterschätzt, da „der ständige Bereitschaftsdienst“ (Schäfer) nicht mit berücksichtigt ist. Etc. Weitere Punkte ließen sich anführen, die jedoch immer mehr dazu führen, dass die Behandlung von Lebenstätigkeiten als „Arbeit“ generell fragwürdig wird und nicht nur die Tatsache, ob sie bezahlt sind oder nicht.
In der Studie wird dann lustiger Weise der Versuch unternommen, den „Wert“ der unbezahlten Arbeit auszurechnen. Angenommen wird eine Netto-Vergütung von 6 Euro (1991/92) bzw. 7 Euro (2001/02), rechnet man übliche Sozialleistungen hinzu, verdoppeln sich die Beträge. Ist man schon beim Rechnen, dann muss man auch die durchlaufenden vernutzten und die langlebigen Gebrauchsgüter einbeziehen. Am Ende landet man schließlich beim „Haushaltsunternehmen“, das man mit „normalen“ Wirtschaftsunternehmen vergleichen könne. Ihr Anteil am BIP (Bruttoinlandsprodukt) beträgt 43% bzw. 40%. Berechnungsbasis ist die o.g. Netto-Vergütung für das „Haushaltsunternehmen“. Setzt man hier Bruttolöhne oder etwa durchschnittliche Produktionslöhne ein, ergäben sich ganz andere Zahlen – womit die Zahlenspielerei auf Basis monetärer Werte generell witzlos wird.
Was bedeutet es, wenn doppelt so viele gesellschaftlich notwendige Tätigkeiten unbezahlt wie bezahlt erledigt werden?
Zunächst einmal sollte man sich die Tatsache klar machen, dass dem so ist. Die „Wirtschaft“ ist – zeitlich gesehen – nicht der wichtigste Bereich der gesellschaftlich-notwendigen Tätigkeiten. Gleichzeitig ist ihre Logik total dominant: Nur was sich rechnet, wird auch wirtschaftlich gemacht, sprich: verwertet. Keine Verwertung bedeutet Unglück, Armut, Ausgrenzung, Absturz.
Die „Nicht-Wirtschaft“ ist in doppelter Hinsicht die andere Seite der „Wirtschaft“: Ohne sie ginge „Wirtschaft“ nicht. Sie fängt all jene Tätigkeiten auf, die erledigt werden müssen, sich aber nicht verwerten lassen. Gleichzeitig ist sie Pool des potenziell „in Wert“ zu setzenden „Wertlosen“: Immer mehr Tätigkeiten werden von der Verwertungslogik erfasst und nach ihrem Bild formiert (vgl. die Pflegetätigkeiten, die nach Minuten skaliert werden, in der menschliche Zuwendung hingegen ein Fremdwort sein muss).
Es verwundert schließlich nicht, dass die beiden Bereiche geschlechtlich strukturiert sind (der Bereich der „Nicht-Wirtschaft“ wird in der Studie auf ihre Geschlechtsspezifik untersucht): Die „weibliche Nicht-Wirtschaft“ steht der „männlichen Wirtschaft“ gegenüber. Doch auch hier verhält es sich wie mit dem generellen Verhältnis von Verwertung und noch nicht Verwertetem: Was nicht ist, kann noch werden. Und andersherum: Wessen Arbeitskraft als nicht mehr verwertbar gilt, darf im abgespaltenen „Nicht-Bereich“ die physischen und psychischen Aufräumarbeiten erledigen.
Schon der Ökonom Friedrich List wusste:
Wer Schweine erzieht ist ein produktives, wer Kinder erzieht ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft.
Exakt dort stehen wir heute noch.
Literatur
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.), Wo bleibt die Zeit? Die Zeitverwendung der Bevölkerung in Deutschland 2001/02
D. Schäfer, Unbezahlte Arbeit und Haushaltsproduktion im Zeitvergleich, in: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Alltag in Deutschland. Analyse zur Zeitverwendung, Forum der Bundesstatistik, Band 43, 2004, S. 247-273.
Quellen online: Zeitbudgeterhebung
[Update: 2012/13 sollte die nächste Studie durchgeführt werden, Ergebnisse werden für 2015 erwartet]
Danke für die Quellenangabe, die Einschatzung und die knackige Überschrift. Den link werde ich wohl öfter anklicken müssen.
Wirtschaft ist alles ist, wo man mit Knappheit umzugehen hat. Auch ein Pensionär, der nur ehrenamtlich arbeitet, muß mit seiner Zeit von max. 24 Stunden/Tag wirtschaften. Für StefanMz ist aber Wirtschaft offensichtlich nur der Bereich des Handelns, der monetär entlohnt wird. Das ist natürlich Unsinn, weil die Entlohnung durch Dankbarkeit oder Anerkennung sehr wohl einen entscheidungsrelevanten Marktwert für die Beteiligten hat. Wer schon mal ein Ehrenamt aufgegeben hat, weil die Vereinskameraden undankbar waren, wird das verstehen.
Wieso StefanMZ lustig findet, daß vom statistischen Bundesamt der „Wert“ freiwilliger Arbeit ausgerechnet werden sollte, erschließt sich mir nicht, weil die AWT Arbeit ja stets einen objektiven „Wert“ zuweist.
Aus meiner Sicht ist es in der Tat lustig. In der politischen Logik ist es aber nachvollziehbar: Ist freiwilliger Arbeit ein „Wert“ zuweisbar, dann eröffnet das herrschende Leistungsfähigkeitsprinzip der Besteuerung dem Staat die Möglichkeit, irgendwann auch ehrenamtliche Tätigkeit zu besteuern. Wieso soll der Staat untätig zuschauen, wenn Microsoft weniger verkauft und weniger Steuern zahlen kann, weil bessere Software ehrenamtlich geschrieben wird? Da Nichtzahlung von Steuern in ihrer Logik Diebstahl ist, sind alle OpenSource-Anhänger ja letztlich Sünder. Mal sehen, was kommt.
Man sieht hierin, daß die „Verwertungslogik“ ausschließlich vom Staat ausgeht. Das staatlich verordnete Punktesystem in der Pflege, das keinen Platz für Liebe und Zuwendung kennt, ist nur ein Beispiel davon. Es ist die staatliche Version, mit knapper Pflegeleistung zu wirtschaften. Wollen die Menschen nicht doppelt zahlen –für das staatliche Pflegesystem muß bezahlt werden, auch wenn es nicht gebraucht wird, für das, was sie wirklich brauchen, bleibt dann nur wenig übrig– dann dürfen sie nicht auf dem Markt für ausgewogene Pflegeleistungen nachfragen.
@politbuerokrat: na ja, mäßig lustig. Ich fürchte, das meiste meinst du auch noch ernst.
Danke, dass nun bei Euch auch das Thema Sozialkapital und soziale Gemeingüter angesprochen wird! In der Schweiz wird alle 3-4 Jahre an 40.000 ausgewählten Befragten „informelle“ und „formelle“ Freiwilligenarbeit im Modul „unbezahlte Arbeit“ quantitativ gemessen:
http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/20/04.html
Die informelle besteht in Haushalt, Kinder- und Altenpflege, die formelle in organisierten Vereinen etc.
Sarkozy hat sich von Stiglitz und Sen errechnen lassen, dass so das BIP von Frankreich und den USA steigt:
http://commons.ch/wp-content/uploads/EU-report_beyond_GDP_20_08_2009.pdf
Damit könnten beide Staaten aufgrund ihrer hohen Geburtenraten kräftig neue Schulden machen.
Wir haben im Frühjahr in der Schweiz 300 Anbieter von Freiwilligenarbeit befragt. Ergebnis: 80,7% wollten ihre Arbeit gar nicht als Freiwilligenarbeit eingestuft wissen, sondern als „ideelle Tätigkeit“.:
http://www.entwicklung.bs.ch/goldene-stunden_2010.pdf
Da sowohl in der deutschen wie in der schweizer Statistik dem „Haushaltsunternehmen“ der Erhalt der Familie selbst zugeordnet wird (informelle Freiwilligentätigkeit), ist m.E. kein Vergleich mit den Geldleistungen der Wirtschaft möglich. Diese werden nämlich überwiegend von Fremden für Fremde erbracht.
Wir gehen deshalb bei unseren Ansätzen, Sozialkapital zu messen, ganz davon ab, die Familie zu betrachten, denn gerade familienorientierte Stammesgesellschaften weisen in der Regel das niedrigste Sozialkapital auf, d.h., dort sorgen nur Sippen für ihr Auskommen.
Je mehr aber außerhalb der Familie kostenlos geleistet und geschenkt wird, desto stabiler ist die Gesellschaft, desto niedriger sind die Opportunitätskosten für Kriminalität, Bildung, Gesundheit, Umweltschutz.
Der Vergleich dieser Geschenkökonomie mit der normalen Wirtschaft wird sicher nicht 63% zu 37% ergeben. Aber ihre Wertigkeit könnte aufgrund ihrer Stabilität ungleich höher sein, d.h.: bereits ein Anteil von 10% ehrenamtlicher Arbeit an der bezahlten Gesamtarbeit (Schweiz 1900 Stunden pro Jahr, Deutschland 1650 Stunden pro Jahr) kann so wie Stefan Mz hier zurecht schreibt, als „Nicht-Wirtschaft“ die Bedingung der Möglichkeit von erfolgreicher Erwerbsarbeit sein. Das ist allerdings keine Neuigkeit, denn Max Weber hat das bereits als „protestantische Ethik“ in die Kapitalismuserklärung eingeführt.
Durch Pendlertum und Müllrunterbringen, Einkauf und Babywickeln entsteht jedenfalls nicht unbedingt außerfamiliäres Sozialkapital. Dieses beginnt erst dort, wo ich den Nachbarn im Auto mitnehme und dessen Kind tagelang bei uns mitwohnen lasse.
Das ist bisher noch völlig unerforscht und entzieht sich auch der Zeitbudgetforschung. Fährt er nun zur Arbeit oder hilft er dem Nachbarn?
Das Schema Schlafen-Haushalt-Arbeit-Freizeit hilft da in keiner Weise weiter, sondern dreht weiter die alte Gebetsmühle von Stress&Erholung, Leistung und Gegenleistung.
Sozialkapital in seiner erfolgreichsten Form beruht aber auf Leistung ohne Anspruch auf Gegenleistung, in kommunistischen Kreise einst „Solidarität“, in christlichen Kreisen „Caritas“ genannt.