Interview zur »Zeitgeist«-Bewegung

Nikola Winter, Pflanzengenetikerin, lebt in Wien und ist zur Zeit ein aktives Mitglied in der »Zeitgeist«-Bewegung. Das folgende Interview wurde per E-Mail geführt.

Was ist »Zeitgeist«?

Wikipedia weiß: »Zeitgeist ist das generelle kulturelle, intellektuelle, ethische, spirituelle und weltanschauliche Klima innerhalb einer Gesellschaft. Zeitgeist beschreibt die Atmosphäre, die Moral, die soziokulturelle Ausrichtung und die Stimmung einer Epoche.«

Der Zeitgeist ist etwas alle Facetten des menschlichen Handeln Prägendes und bleibt zugleich selbst schwer zu fassen und flüchtig. Der Begriff verweist auf die Dynamik und Wandelbarkeit des kollektiven Bewusstseins einer Gesellschaft.

Wie bist du zur »Zeitgeist«-Bewegung gekommen?

Begonnen hat es im Herbst 2009 im Flugzeug. Mein Sitznachbar hat mir eher nebenbei den Film »Zeitgeist« empfohlen. Wochen später erinnerte ich mich daran, und Youtube stellte mich vor die Auswahl mir »Zeitgeist: The Movie« oder »Zeitgeist: Addendum« anzusehen. »Addendum« machte mich neugierig: Ich wollte wissen, warum ein ganzer zweistündiger Film als Nachsatz – als Addendum – nötig sein sollte. Hätte ich zuerst »Zeitgeist: The Movie« gesehen, wäre ich jetzt vielleicht nicht bei der Bewegung, weil mich Verschwörungstheorien oder das Debunking von Religion nicht interessieren. Der Film »Zeitgeist: Addendum« erschütterte mich, erst der Teil über das Geld, und dann bewegte mich vor allem die Vision der Ressourcenbasierten Wirtschaft.

Dass das ganze Geldsystem mittlerweile zum Pyramidenspiel verkommen ist, war nur die Bestätigung eines lang gehegten Verdachts. Den hatte ich aber bisher unterdrückt, weil ich davon ausgegangen war, dass man Wirtschaft studieren müsste, um zu verstehen, wie diese Sache mit dem Geld doch ihre Ordnung und Richtigkeit haben kann.

Noch viel wichtiger: Ich war schon lange auf der Suche nach einer Möglichkeit, mein Leben so zu gestalten, dass ich nicht arbeite, um Geld zu verdienen, sondern arbeite, weil ich Sinn sehe in dem was ich tue. Ich wollte nie meine Lebenszeit verkaufen müssen – jede Lohnarbeitsstunde (auch wenn ich in dieser Zeit etwas tue, das ich eigentlich gern mache) hat eine ganz andere Qualität als Zeit, die ich einer Tätigkeit widme, die ich aus freiem Willen und ohne jedes Gegenrechnen und Mitzählen verrichte.

Dafür ist in unserem System kein Platz, wir definieren uns gesellschaftlich durch unseren Job (wer hat heute noch einen »Beruf«?). Ohne den sind wir wertlos und ungewollt, weil wir als Arbeitslose im Sozialstaat den Mit-Bürgern »auf der Tasche liegen«. Überall herrscht Angst, dass man zu kurz kommt, dass man übervorteilt wird, oder dass man seinen Platz in der Gesellschaft verliert, wenn man nicht weiterkämpft. Es herrscht Feindseligkeit und Missgunst jedem gegenüber, der mehr bekommt als man selbst. Wie kommt es, dass gerade wir in einer so reichen Gesellschaft so sehr von diesem Mangeldenken beherrscht werden?

Die scheinbare existentielle Bedrohung lauert überall und allzeit: Der Arbeitsplatzverlust droht ständig durch befristete Anstellungen, Rationalisierungsmaßnahmen wie Personalkürzung, Auslagerung von Produktion oder Automatisierung. Uns gehen die Arbeitsplätze aus – und statt dass wir unsere Befreiung feiern, fürchten wir um den Verlust der Legitimation unserer Existenz in dieser Gesellschaft.

Ich hatte mich bisher bei keiner zivilgesellschaftlichen aktivistischen Organisation engagiert, weil ich den Eindruck hatte, dass diese auch nur Teil des Systems sind. So revolutionär ihr Anspruch anfangs sein mag – das System stellt auch für sie eine Nische bereit, in der sie zwar sicher einiges Gutes tun können (z.B. Aufklärungsarbeit), aber trotzdem werden sie nie für das System an sich gefährlich. Ihre Struktur entspricht der aller anderen Organisationen innerhalb des Systems, deswegen unterliegen sie denselben Zwängen: Auch sie verfangen sich in der Geldlogik (Spenden sammeln), im Wachstumszwang (Mitglieder werben), in der internen Organisation (Hierarchie oder große Schwerfälligkeit bei Entscheidungsfindung wenn bewusst Hierarchie vermieden wird), dem Formzwang (definierter Rechtsstatus), dem Leistungszwang, dem Konkurrenzzwang, dem Vermarktungszwang (PR) usw. Ihre Handlungen beschränken sich meist auf Aufklärung und Agitation – was ändert das schon? Proteste, Demonstrationen, Petitionen, Aktionen werden – wenn überhaupt – von der Medienmaschinerie verwertet und verkommen in der Flut an täglichen Informationen in der Alle überfordernden Unterhaltungswelt zur Randnotiz.

Politisches Engagement ist für mich auch nicht in Frage gekommen, weil ich sehe, wie Wirtschaft und Politik miteinander verwoben sind, und dass innerhalb dieses Rahmens keine Perspektive gegeben ist, um eine radikale Änderung der Gesellschaft zu bewirken.

»Zeitgeist: Addendum« zu sehen war der Moment, in dem ich entschied, dass ich alles hinterfragen und auf meinen Verstand vertrauen darf, und dass ich etwas tun muss, wenn stimmt, was in diesem Film gesagt wurde. Und die Zeitgeist Bewegung hat mich durch ihre offene Organisation neugierig gemacht: Ich habe begonnen mich umzusehen, wie ich meine Handlungsmöglichkeiten von dieser Bewegung ausgehend frei erweitern kann.

Der neue Film »Zeitgeist: Moving Forward« startete zeitgleich in 60 Ländern. Du hast die Premiere für Österreich mitorganisiert. Wie schätzt du die Reaktion ein bei eurer Premiere und weltweit?

Die gleichzeitige Veröffentlichung in 60 Ländern und 30 Sprachen mit Filmvorführungen in 295 Städten und weltweit mehr als 50000 Premiere-Zuschauern ohne die Hilfe einer Vertriebsfirma – alle Übersetzungen z.B. haben wir innerhalb von 3 Wochen über Weihnachten nur mit der freiwilligen Beteiligung von Mitgliedern der Bewegung bewältigt – ist einzigartig. In vielen Städten, auch in Wien, waren die dezentral und je von der lokalen Gruppe bzw. von Individuen organisierten Veranstaltungen ausgebucht: Menschenschlangen vor dem Einlass, überfüllte Kinosäle, vielfach mussten zusätzliche Screenings organisiert werden, um dem Ansturm der Zuseher gerecht zu werden.

Der Film hat wie seine Vorgänger binnen kürzester Zeit eine hohe Zahl von Aufrufen im Internet erreicht: Innerhalb der ersten 50 Stunden online auf Youtube wurde der Film ca. 694000-mal angeklickt, mittlerweile sind es knapp 4.5 Millionen Aufrufe (http://www.youtube.com/watch?v=4Z9WVZddH9w).

Trotzdem führt der Film inhaltlich nicht über »Addendum« hinaus, bezeichnend in Bezug auf die vorhergegangenen Filme ist jedoch die Stelle, an der Peter Joseph sich endlich von jeder Verschwörungstheorie distanziert:

»Die größte Bedrohung der Ökologie, die größte Quelle für Abfall, Ausbeutung und Verschmutzung, die Hauptursache für Gewalt, Krieg, Verbrechen, Armut, Tierquälerei und Verschmutzung, der größte Grund für die Entstehung sozialer Neurosen, psychischer Störungen, von Depression, Angststörungen, nicht zu erwähnen die größte Quelle sozialer Lähmung, die uns davon abhält, neue Methoden für Gesundheit, die globale Nachhaltigkeit und für den Fortschritt auf diesem Planeten zu nutzen ist nicht irgendeine korrupte Regierung oder ein Schurkenunternehmen oder Bankenkartell. Es ist kein Fehler in der Natur des Menschen und keine geheime Verschwörung, die die Welt kontrolliert. Es ist: Das sozio-ökonomische System selbst.«

»Zeitgeist: Moving Forward« reformuliert die Analyse dessen, was in der globalen Marktwirtschaft schief läuft (Wachstumszwang, Profitzwang, Konkurrenz), argumentiert gegen Fatalismus (genetischen Determinismus, »menschliche Natur«), eröffnet den Blick auf neue Möglichkeiten, die uns durch technologische Entwicklungen in Hinsicht auf Produktion und gesellschaftliche Organisation zur Verfügung stehen und präsentiert die »Ressourcenbasierte Wirtschaft« als Alternative.

Leider sind es die Bilder von Jacque Frescos kreisrunden Städten, die nach diesem überlangen, streckenweise langatmigen Film scheinbar vielen Zusehern in Erinnerung bleiben. Er erzeugt völlig falsche Assoziationen, beschwört Horrorphantasien einer technokratischen, zentralistisch organisierten Planwirtschaft, in der die Maschinen das Sagen haben und Menschen nicht die Entscheidungsfreiheit haben, ihr Leben individuell zu gestalten. Nur die Menschen, die mit der Thematik vertraut sind, lassen sich nicht auf diese falschen Fährten locken und erkennen die Tiefe der Analyse und die radikale emanzipatorische Perspektive, die hinter der Vision »Ressourcenbasierte Wirtschaft« steckt.

Das war deutlich sowohl bei der Podiumsdiskussion nach der Premiere in Wien zu sehen wie auch an den Reaktionen in anderen Ländern – Peter Joseph sagte in seiner Radioshow, dass ihn die Reaktionen durchwegs enttäuschten, weil sie die wahre Absicht des Films gar nicht berührten (»they just don´t pay attention to the relevant points” BlogTalkRadio, 26.1.2011 ab Minute 22: http://www.blogtalkradio.com/peter-joseph). Also hat der Film großteils sein hochgestecktes Ziel durch die unglückliche Wahl der Darstellung der Inhalte verpasst.

Entgegen ihrer eigenen Ideologie hat die Marktwirtschaft nicht Wohlstand für alle, sondern eine extreme Spaltung in wenige Reiche und eine Masse von »Opfern« erzeugt. Die »Ökonomie« sei gar keine, sagt »Zeitgeist«, sondern eigentlich eine »Anti-Ökonomie«. Wie ist das gemeint?

Peter Joseph definiert im Film Ökonomie folgendermaßen: Die effiziente und schonende Anwendung der Mittel zur Produktion und Verteilung lebensnotwendiger Güter. (Efficiently and conservatively orient the materials for production and distribution of life supporting goods.)

Wir leben auf einem begrenzen Planeten mit endlichen Ressourcen. Demgegenüber verlangt das gegenwärtige System die Beschleunigung von Konsum, um das Wirtschaftswachstum zu gewährleisten. Die der Geldlogik folgende Forderung nach kontinuierlichem Wachstum in Produktion und Verbrauch kann nur erfüllt werden, indem sie eine nie abreißende – und am besten noch wachsende! – Nachfrage nach neuen Gütern erzeugt.

Das kann nur funktionieren, wenn die Gebrauchsdauer von Gütern möglichst herabgesetzt wird, entweder durch bewusst kalkulierte Reduktion der Lebensdauer (z.B. Glühbirnen, Nylonstrümpfe) oder durch Neuerungen in kleinen Schritten, die zur Inkompatibilität mit Vorläuferprodukten (z.B. bei Zubehör und Ersatzteilen, z.B. Akku des iPod) führen, oder durch psychologische Manipulation über die Werbung (z.B. Mode, Jahresmodelle bei Autos, oder neue Modelle im Monatstakt bei Handys & Co). Das nennt man geplante Obsoleszenz.

Hinzu kommt noch die intrinsische Obsoleszenz: Der ständige Wettbewerb um den Marktvorteil im Kampf um den Profit zwingt die Unternehmen die Ausgaben für die Produktion so gering wie möglich zu halten, um im Preiswettbewerb zu bestehen. Die günstige Produktion geht auf Kosten der Qualität der produzierten Güter – ganz zu schweigen von den Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen für Angestellte oder die Folgen der Produktion für die Umwelt.

Effizient wären geschlossene Kreisläufe. In unserem System hingegen wachsen die Müllberge ständig: Die kostbarsten Rohstoffe, deren Gewinnung teilweise gravierende negative Auswirkungen auf die Umwelt hat, und deren Handel immer noch kolonialen Mustern entspricht, landen nach immer kürzerer Verwendungsdauer im Müll.

Das System erlaubt es nicht, dauerhafte, hochqualitative Güter zu produzieren: Effizienz, Nachhaltigkeit und Schonung der Ressourcen laufen dem ökonomischen Wachstumsparadigma zuwider.

Und das gilt nicht nur für Güter, sondern genauso im Dienstleistungssektor: Das Lösen von Problemen hat keinen finanziellen Nutzen. Das gilt für den Gesundheitssektor (medizinische Dienstleistungen Hand in Hand mit der pharmazeutischen Industrie), für den Sicherheitssektor (privatisierte Gefängnisse in den USA, Sicherheitsdienste), die Kriegsindustrie (»blow things up and then go and re-build them«), etc.

Auf den Punkt gebracht: Der Anstieg des BIP spiegelt sowohl wachsende Bedürfnisse wider wie gleichzeitig die wachsende Ineffizienz, diese Bedürfnisse auch tatsächlich zu befriedigen. Die Maschine läuft heiß.

Aus dem Versagen der Marktwirtschaft folgt logisch die Konsequenz, dass eine Gesellschaft, die ein gutes Leben für alle Menschen auf der Welt bieten will, nicht mit den Mitteln der Marktwirtschaft operieren kann. Tausch, Markt, Geld, Staat seien nicht zu gebrauchen. Warum glaubt die »Zeitgeist«-Bewegung nicht an eine Reformierbarkeit des alten Systems?

Reformversuche hat es doch schon genug gegeben. Vom Realsozialismus bis zum Neoliberalismus ist das Spektrum abgedeckt – was bleibt noch innerhalb des Systems auszuprobieren?

Tausch bringt unter dem Deckmantel der Gerechtigkeit das wertende Denken, er impliziert das gegeneinander Aufrechnen, und erzeugt die Angst vor dem Übervorteiltwerden.

Markt, der Ort an dem Handel (basierend auf Tausch und Geld) stattfindet, führt zur Produktion um des Profits Willen und nicht für die Bedürfnisse.

Geld, das Mittel, das alle Güter und Leistungen zueinander in Bezug setzt, schafft einen Tunnelblick: Wert wird zur abstrakten quantitativen Größe, die als nackte Zahl losgelöst von jeglichen realen Gegebenheiten das Streben nach immer mehr auslöst – Zahlen, die für die Phantasie des potentiell unendlich erweiterbaren Handlungsspielraums stehen.

Der Staat ist eine willkürliche Einheit gesellschaftlicher Organisation, innerhalb derer Herrschaft über ein räumlich umschriebenes Gebiet und die darin befindlichen Menschen, sowie über alles andere auf diesem Gebiet befindliche Lebendige und Nichtlebendige ausgeübt wird. Staatszugehörigkeit verlangt Identifikation mit weniger als mit dem Ganzen, sie ist eine künstliche Identität, die zum ein- und ausschließenden Denken, also zu künstlicher Trennung führt.

Solange diese Kategorien unser Denken prägen, werden trotz aller reformistischen Versuche immer wieder dieselben Probleme – Ungerechtigkeit, künstliche Knappheit, Ressourcenverschwendung, Umweltverschmutzung, Krieg – auftauchen.

Menschen können sich tatsächlich ein gutes Leben ohne Markt, Geld und Co aufbauen, so dass für alles Nötige für alle zur Verfügung steht. Wenn man die Menschen aber nicht mehr zwingt, sie nicht mehr knechtet, sie nicht mehr mit Geld besticht — werden sie dann nicht aber auf der faulen Haut liegen?

Die Anpassung an die neuen Verhältnisse würde einen Entwicklungsprozess im Bewusstsein mit sich bringen.

Würden wir morgen in einer Welt ohne Markt, Geld, Lohnarbeit und Co aufwachen, in der für alles gesorgt wäre, dann würden die meisten wahrscheinlich mal Pause machen. Klar! Wir sind so erschöpft. Wir haben genug vom äußeren Zwang, der über die ständige latente oder offene Bedrohung unserer gesellschaftlichen und physischen Existenz ausgeübt wird. Wir haben gegen diesen Zwang einen enormen inneren Gegendruck aufgebaut, der sich bestenfalls als »Faulheit« und schlimmstenfalls als Aggression manifestiert.

»Auf der faulen Haut liegen« – wenn das bedeutet, wirklich absolut nichts zu tun, dann würden die wenigsten das lange aushalten. Wie lange würdest Du freiwillig nur im Bett – oder von mir aus am Strand – liegen, bevor es langweilig oder gar zur Qual werden würde? Wann würdest Du beginnen die Wolken zu betrachten oder würdest Dir ein Buch nehmen oder ein Surfbrett schnappen oder einen Erkundungsspaziergang machen oder mit jemandem ein Gespräch beginnen? Und selbst wenn Du nur da säßest und atmetest und spürtest – wäre das Faulheit, sobald es keinen Appell und keinen Zwang mehr zum Arbeiten gäbe? Es wäre Deine freie Entscheidung wie Du Deine begrenzte Lebenszeit verbringst.

Wenn mit Faulheit Nichtstun gemeint ist, dann werden die Menschen nicht lange faul sein. Aber die Art der Tätigkeit wird sich verändern, sie werden ihre Zeit vielleicht eher mit Tätigkeiten verbringen, die heute geächtet werden, weil sie »unproduktiv« sind oder nicht verwertbar sind.

Anfangs wären viele sogar unglücklich und unzufrieden, weil sie mit sich nichts mehr anzufangen wissen: So sehr mussten sie sich Gewalt antun und ihre Träume und Fantasie beschneiden, weil sie sonst dauernd ihre Beschränkung und Ohnmacht im System gespürt hätten.

Von den Vertretern des Grundeinkommens gibt es Umfragen, die ergeben, dass viele Menschen einfach weiterarbeiten würden, selbst wenn sie nicht mehr gezwungen wären zu arbeiten. Sie arbeiteten vielleicht nicht mehr so oft oder so regelmäßig, aber viele würden nicht einfach alles hinschmeißen. Der Grund dafür könnte Freude am Tun sein, oder aber eine Folge der Verformung unserer Psyche durch das herrschende System: Wir haben gelernt uns über unseren Job zu definieren. Fiele er plötzlich weg, dann käme das einem Identitätsverlust gleich.

Dazu kommt, dass unsere Fantasie im Bezug auf Handlungsalternativen stark eingeschränkt ist. Wenn wir uns was Gutes tun wollen (und das würden wir wohl), dann denken wir oft erst an Konsum (materiellen oder immateriellen). Vielleicht weil wir uns so sehr verausgaben und/oder so außer uns sind, haben wir dieses Bedürfnis nach Einverleibung und Aneignung. Die Leere im Inneren muss gefüllt werden – das geht an den Kern: Unsere Identität konstituiert sich stark über Konsum.

Unsere Identität setzt sich zusammen aus Haben und Sein – Eigentum und Stellung in der Gesellschaft. So sehr uns beides beschränkt, wir werden es trotzdem mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen, weil wir sonst unsere Identität verlieren.

Trotzdem könnten wir Haben und Sein umdefinieren: Haben könnte statt Eigentum bedeuten: über etwas verfügen können, an etwas teilhaben; Sein könnte statt sich nach außen gerichtet über die Stellung in der Gesellschaft zu definieren einem nach innen gerichteten Bezug entspringen, einem gefestigten Selbst, einer in sich ruhenden selbst-bewussten Persönlichkeit.

Eine Identität über diese anderen Aspekte von Haben und Sein aufzubauen braucht Zeit und die entsprechende Umgebung. Wir würden also schrittweise hineinwachsen in ein neues Selbst- und Weltbild.

Die Alternative lautet »Resourcenbasierte Wirtschaft«. Was ist der Grundgedanke dahinter?

Alle Menschen sind Teil des einen Ökosystems Erde. Unsere Existenz hängt davon ab, dass dieses Ökosystem intakt bleibt. Dementsprechend gestalten sich unsere Beziehungen zur Umwelt, zu den Mitmenschen und zu uns selbst. Wir als Menschheit bringen unseren Lebensstil auf den neuesten Stand unseres Wissens und unserer Erkenntnis: alle Menschen haben das gleiche Anrecht auf ein gutes Leben, wir müssen sorgsam mit den begrenzten Ressourcen umgehen, wenn wir unsere durch Technologie erreichte Produktivkraft nutzen, können wir für ein reiches Leben aller Menschen sorgen.

Die Arbeiterbewegung hatte früher einmal ganz ähnliche Vorstellungen einer freien Gesellschaft. Ihre realen Versuche — sei es im Osten oder im Westen — gingen ziemlich in die Hose. Was unterscheidet die »Zeitgeist«-Bewegung von der traditionellen »Linken«?

Die Arbeiterbewegung arbeitet stark mit Begriffen wie Aneignung, Kampf, Rebellion, Tod des Kapitals, Rückeroberung… das ist ein martialisches Vokabular. Es wird ein Gegner konstruiert, den es zu bekämpfen gilt.

Die Arbeiterbewegung hat zwar Schichtenbildung und Eigentum kritisiert, aber sie hat gleichzeitig nicht zur Überwindung der Klassen geführt, sondern ein falsches Selbstbewusstsein der Arbeiterklasse propagiert. Statt dass die industrielle Produktion, die Lohnarbeit, Geld, Wert, Ware, Markt und Staat kritisiert wurden, haben sie sich positiv auf diese Instanzen bezogen – und mussten scheitern, weil die Kritik den Systemzusammenhang selbst nicht erfasste.

In einigen Kritiken wird dem »Zeitgeist«-Ansatz eine männlich zentrierte Technologie- und Wissenschaftsgläubigkeit vorgeworfen. Wie sieht du das?

Das sind eigentlich zwei verschiedene Vorwürfe: erstens, dass es hier um eine kulturell eindeutig geprägte Vision handelt (weiß, westlich, männlich), die den Anspruch erhebt eine Lösung für die ganze Menschheit zu sein; zweitens der blinde Fleck, dass mit der Betonung auf Technologie und Wissenschaft gerade eine Objektivität garantiert werden soll, die aber ihrerseits auf dem Glauben an die Objektivität dieser Herangehensweise basiert.

Zum ersten Punkt: Jacque Fresco, der geistige Vater der »Ressourcenbasierten Wirtschaft«, ist weiß und männlich und lebt in den USA. Wenn diese Vision für andere Kulturkreise nicht erstrebenswert ist, dann wird sie sich schlicht nicht durchsetzen, und das ist dann gut so – alles andere würde in Totalitarismus ausarten. Aber vielleicht kann sie ein Anstoß sein für eine Neugestaltung der Welt, an der alle Kulturen beteiligt sind. Die Grundidee scheint mir tragfähig und auch kulturübergreifend gültig zu sein: Wir alle wollen auf diesem Planeten gut miteinander leben.

Zum zweiten Punkt: Neolithische Revolution – Industrielle Revolution – Informationszeitalter … diese Sprünge haben zur immer weiter reichenden und sich selbst verstärkenden Einflussmöglichkeit des Menschen gegenüber dem Ausgeliefertsein an äußere Bedingungen geführt. Sie basierten immer auf technologischen Entwicklungen, die wiederum durch die parallel entwickelten Methoden der Naturwissenschaften vorangetrieben wurden.

Sucht man nach absoluter Erkenntnis, dann ist man besser mit der Philosophie oder der Theologie beraten. Sucht man nach praktischen Lösungen, dann leistet die Naturwissenschaft mit ihrer analytischen Herangehensweise und der Möglichkeit der Falsifizierbarkeit von Hypothesen – also einer systemimmanenten Lernfähigkeit – verlässlich gute Dienste.

Die Forderung, technische Lösungen für gesellschaftliche Probleme heranzuziehen und zur Entscheidungsfindung über die wissenschaftliche Methodik zu gelangen, sehe auch ich selbst problematisch. Immer gilt es hier die Freiheit des Einzelnen im Auge zu behalten – wobei wir vielleicht auch unsere Begriffe von Freiheit überdenken müssen. Vieles, was uns heute als Freiheit verkauft wird, ist eigentlich keine oder dient zur Ablenkung von der überwältigenden Unfreiheit, der wir allenthalben ausgeliefert sind.

Ob die wissenschaftliche Methodik ein angemessenes Werkzeug für gesellschaftliche Entscheidungsfindung ist, gilt es auszuprobieren. Ich persönlich zweifle daran, weil die Naturwissenschaft gerade dort an ihre methodischen Grenzen zu kommen scheint (z.B. in der Quantenphysik oder in der Neurobiologie), wo die klassische Logik nicht greift, sondern wo Zusammenhänge dialektischer Natur sind, wo es um emergente Eigenschaften von Systemen geht, bei denen das analytische Zerlegen in Einzelteile keine Einsicht in das Funktionieren dieser komplexen Zusammenhänge bringt, oder wo es um Selbstbezüglichkeit geht. All diese Merkmale – unauflösbare Widersprüche, hohe Komplexität bzw. Übersummativität und Selbstbezüglichkeit – sind Merkmale unserer gesellschaftlichen Zusammenhänge.

Aber die Lösung muss ja keine binäre sein. Die Demokratie in ihrer heutigen Form leistet denkbar unbefriedigende Dienste bei der Vermittlung des gesellschaftlichen Zusammenhangs.

Aber wenn wir uns durch Technologie von vielen langweiligen, gefährlichen und sonst menschenunwürdigen Tätigkeiten befreit haben werden, dann können wir das frei gewordene menschliche Potential verwenden, um neue Methoden in der Gestaltung von Politik und Gesellschaft zu entwickeln und auszuprobieren (spannend finde ich z.B. Konzepte wie Liquid Democracy oder Excuisite Synergy).

In »Moving Forward« schmeissen die Menschen am Ende ihr Geld weg. Ein schönes Bild, aber kann das ein Weg aus der Misere sein?

Das ist eine künstlerische symbolische Geste von Peter Joseph. Solange sich in unserem Bewusstsein nichts ändert, wird sich sofort wieder der Geldmechanismus reaktivieren. Das gilt m.E. genauso für alternative oder komplementäre Währungen.

Was habe ich dich nicht gefragt, was dir aber noch wichtig wäre zu beantworten?

Was ist die Zeitgeist-Bewegung? Wer steckt dahinter? Was sind die Pläne?

Ganz kurz: Die Zeitgeist-Bewegung ist 2008 aus dem Aufruf am Ende des Films »Zeitgeist: Addendum« sich über die Website www.thezeitgeistmovement.com zusammenzuschließen entstanden. Die Bewegung versteht sich als der »aktivistische Arm« des Venus Projects. Es gibt keine geplante Organisation oder Strukturierung der Bewegung, sie entwickelt sich regional und emergent. Zur Bewegung gehört, wer sich mit den auf der Website formulierten Sichtweisen identifiziert und aktiv beitragen möchte.

Nikola, vielen Dank für das Interview!

Aus einer Broschüre: Kurzbeschreibung der Zeitgeist Bewegung

The Zeitgeist Movement (die Zeitgeist Bewegung) ist eine Basisbewegung, die dezentral und autonom von ihren Mitgliedern organisiert wird. Als Reaktion auf die herrschenden sozioökonomischen Probleme weltweit möchte die Bewegung ein neues Gesellschaftsmodell präsentieren, weiterentwickeln und letztlich umsetzen.

Als Ursache für viele Probleme werden überkommene Traditionen, gesellschaftliche und wirtschaftliche Konventionen und Mechanismen gesehen, die aufgrund der beschleunigten Entwicklung ihre ursprüngliche Funktion nicht mehr erfüllen können; sie sollen aufgespurt und adaptiert oder durch adäquatere, neue Lösungsstrategien ersetzt werden.

Ressourcenbasierte Wirtschaft (resource-based economy, RBE) ist der Name für eine solche Lösungsstrategie. Sie ist ein gesellschaftliches und wirtschaftliches Gesamtkonzept. Der Begriff wurde von Jacque Fresco geprägt, einem heute 94-jährigen Industriedesigner und selbsternannten «Sozialingenieur”, der sich seit der Großen Depression mit der Frage nach einem neuen systemischen Lösungsansatz für gesellschaftliche und wirtschaftliche Probleme befasst hat. Seine gesamte Arbeit zu dem Thema nennt er nach dem Standort seiner Forschungs- und Bildungsstation in Venus, Florida: »Venus Project« (offizielle Website: www.thevenusproject.com).

Anlass für die Gründung der Zeitgeist Bewegung war der 2008 veröffentlichte, von Jacque Frescos Ideen inspirierte Dokumentarfilm »Zeitgeist: Addendum« des US- amerikanischen Filmemachers Peter Joseph. Auf der internationalen Website (www.thezeitgeistmovement.com) haben sich seit 2008 uber 500.000 Mitglieder registriert. In 45 Ländern wurden bisher lokale Gruppen gegrundet. Die Community im deutschsprachigen Raum ist mit ca. 1100 Mitgliedern (Stand: November 2010) noch relativ klein.

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