Open Source Jahrbuch: Das erste Kapitel

Der Untertitel des aktuellen Open Source Jahrbuch ist mir erst beim Ansehen der Print-Version aufgefallen: Zwischen freier Software und Gesellschaftsmodell. „Gesellschaftsmodell“ klingt ja viel versprechend 🙂 — leider allerdings ist im Buch außer dem Artikel von Franz Nahrada und vielleicht dem von Gundolf S. Freyermuth (dazu je unten mehr) nicht viel zu finden, was diesem Anspruch gerecht werden könnte.

Überhaupt kann ich allen, die das Buch nicht bestellen wollen oder können, nur den Download der PDF-Version empfehlen, da die inhaltliche Gliederung des Buchs in der Online-Übersichtsseite völlig verloren geht. Insgesamt hat das Buch 7 Kapitel, die für uns interessantesten Artikel dürften wohl v.a. in Kapitel 1 („Das Prinzip Open Source“) und 2 („Open-Source-Ökonomie“) zu finden.

Vorangestellt gibt es noch Stallmans „Warum ‚Open Source‘ das Wesentliche von ‚Freier Software‘ verdeckt“ (leider nur das übliche, wie erwartet) und eine Replik von Matthias Bärwolff, einem der Herausgeber des Jahrbuchs. Bärwolffs Artikel über „Die ökonomischen Grenzen freier Software“ (S. 9) beginnt mit Worten:

Wenn die Freiheit des Einzelnen und die prinzipielle Unverletzlichkeit des Eigentums das Fundament unserer Gesellschaft bilden sollen, so gehört dazu zweifellos auch die Freiheit, anderen sein Eigentum oder Rechte daran in freundlicher Absicht weiterzugeben. Die Freiheit, von der Richard Stallman in seinem Artikel „Warum ‘Open Source’ das Wesentliche von ‘Freier Software’ verdeckt“ spricht, hat also wahrlich nichts mit Kommunismus zu tun, sondern mit genau den bürgerlichen Freiheiten, die wir auch den Ackermanns dieser Welt zubilligen.

Hehe — eine explizitere Bestätigung für Sabine Nuss‘ Thesen ist wohl kaum vorstellbar 😉 Der Artikel endet dann auch, wenig überraschend, mit dem Fazit dass „die [kommerziell] erfolgreichsten Modelle in der Softwareindustrie Hybriden aus Freiheit und Nicht-Freiheit sind“.

Eine ähnlich beschränkt innerkapitalistische Fragestellung (wie kann man mit Open Source/offener Innovation am besten Geld verdienen?) hat auch der Artikel „Interaktive Wertschöpfung — Produktion nach Open-Source-Prinzipien“ (S. 87) von Frank Piller, Ralf Reichwald und Christopher Ihl. Wobei bei solchen „gemischten“ Ansätzen sowohl die Beitragenden als auch die Nutzer/innen letztlich „die Dummen“ sind, weil die Rechte für eine Innovation doch wieder bei der Firma landen. Aber dass einige Leute eine Idee haben, wie sie reich werden wollen, heißt ja glücklicherweise noch nicht, dass der Rest der Menschheit sie dabei unterstützen müsste 😉

Sehr viel spannender ist Gundolf S. Freyermuths umfangreicher Essay „Offene Geheimnisse — Die Ausbildung der Open-Source-Praxis im 20. Jahrhundert“ (S. 17). Freyermuth liefert eine interessante Interpretation der Geschichte des PCs und des Internets, in der er klar macht, dass es eben meist nicht kommerzielle Interessen waren, die diese Entwicklungen vorangetrieben haben, sondern Bastler und Technikbegeisterte, denen es zunächst um den Gebrauchs- und nicht um den Tauschwert ihrer Innovationen ging. Die kommerziellen Player, so dominant sie später auch erscheinen mögen, sind erst im Nachhinein auf den Zug aufgesprungen, oder die Bastler haben im Lauf der Zeit bemerkt, dass sie mit ihren Ideen eben auch Geld verdienen können, und dadurch veränderte sich ihre Perspektive.

Freyermuth vertritt auch eine beschränkte Form der Keimform-These, denn er weist darauf hin, dass neue Produktionsmethoden, die zunächst in den jeweils neuartigsten Branchen entwickelt und erprobt werden (wie eben heute die Open-Source-Praktiken in der Softwareentwicklung) später oft zur insgesamt dominierenden Produktionsweise aufsteigen. Zudem charakterisiert er sechs Innovationen, die er in den Praktiken der Freien Softwareentwickler und „Hacker“ sieht:

  1. Selbstermächtigung der Nutzer
  2. Nutzergetriebene Evolution offener Standards
  3. Produktionsgemeinschaft der Gleichen
  4. Geistiges Gemeineigentum
  5. Vernetztes Wissensarbeiten
  6. Konkurrierende Kollaboration

Während sich Freyermuth mit der Vergangenheit beschäftigt, geht es Franz Nahrada um die Zukunft. In seinem Artikel „Piazze telematiche, Video Bridges, Open Coops — der mühsame Weg zu den Globalen Dörfern“ (S. 103) stellt er die Frage, wie die Produktionsweise freier Software auf materielle Güter ausgedehnt werden kann. Seine Antwort, die „Idee der Globalen Dörfer“ finde ich allerdings nach wie vor nicht so ganz überzeugend. In dem Text wirft er noch alle möglichen Zutaten — wie Telelearning, Handwerk in vernetzten Kleinbetrieben, Produktion in niedrigen Stückzahlen, intelligentes öko-logisches Design — in den Pott. Ob aus diesem Mischmasch ein schmackhafter Eintopf werden kann? Ich habe da so meine Zweifel… Aber dass dank Franz diese Frage in dem Jahrbuch überhaupt gestellt wird, ist schon mal erfreulich 🙂

Ein weiterer interessanter Artikel aus dem 1. Kapitel ist „Pharmaforschung mit Open-Source-Methoden“ (S. 73) von Janet Hope, in dem die Autorin Ansätze zur Entwicklung von Arzneimitteln gemäß Open-Source-Prinzipien beschreibt und diskutiert. Ein immens wichtiger Bereich, wo das Versagen der kapitalistischen Produktionsweise besonders deutlich ist, weil Armutskrankheiten, die v.a. in der Dritten Welt auftreten, in der heutigen Pharmaforschung — mangels zahlungskräftiger Patienten — weitgehend vernachlässigt werden. Hopes Artikel macht allerdings klar, wie schwierig die Integration offener Modelle sein kann, wenn man die Pharmagiganten trotzdem ins Boot holen will.

Soweit für heute zum Kapitel 1 („Das Prinzip Open Source“). Demnächst will ich mir noch Kapitel 2 („Open-Source-Ökonomie“) vornehmen…

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