Dialektik im Neoliberalismus

Der BdWi – Bund demokratischer WissenschaftlerInnen – lud zur »Herbstakademie« ein, um sich 5 Tage lang in netter Umgebung mit einem alten, aber selten explizit verhandelten Thema zu befassen. Was aber ist eigentlich »Dialektik«? Wer zunächst einmal Aufklärung über diese Frage erwartete, um sich dann gut gerüstet den Gemeinheiten des Neoliberalismus zuzuwenden, sah sich enttäuscht.

Eingeleitet wurde die Tagung vom philosophischen Altmeister und Marx-Spezialisten Wolfgang Fritz Haug (WFH). Der Vortrag war ein Genuß, denn WFH kann Geschichte in Geschichten erzählen. Als Hauptziel nahm er sich vor, Flausen und Illusionen über »Dialektik« gründlich zu verbannen. Immer wieder beschwor er eine »Großmacht«, die dämonengleich über allem zu schweben schien. Wer ist diese »Großmacht«? Na, Hegel natürlich, an den viele immer noch zuerst denken, wenn sie das Stichwort »Dialektik« hören. Dumm war nur, dass WFH nichts darüber sagte, was denn diese Großmacht so an »Un/Dialektischem« verbrochen hat. Nur eins wäre klar: So wie bei Hegel ginge es nicht. Unterm Strich sei »Dialektik« eine Kunst. Eine Kunst könne man nicht in starre Sätze verpacken, die nur zu lernen wären (so sei es in der DDR gewesen). Eine Kunst erlerne man durch Nachmachen, und dazu brauche es Meister, die es einem vormachten.

Einem anderen Philosophen, Frieder Otto Wolf (FOW), war es vorbehalten, hier etwas mehr »Butter bei die Fische« zu packen. FOW plädierte für die Rückgewinnung einer materialistischen Dialektik. Zentraler Begriff ist der der »Vermittlung«, deren Entstehung er aus der Aristotelischen Syllogistik rekonstruierte. Folgende Vermittlung »M« kommt vielen sicher bekannt vor: »alle A sind M« und »alle M sind B«, woraus folgt »alle A sind B«. FOW sieht die formale Logik in der Dialektik aufgehoben, was häufig als unvereinbarer Gegensatz konstruiert werde. Er betonte, dass Widersprüche jedoch stets mit mehreren Vermittlungsmöglichkeiten zu denken seien, um einen Schematismus (Haupt- und Nebenwidersprüche) zu vermeiden. Für die Nutzung der Dialektik forderte er die Einhaltung von fünf Prinzipien: Jedermenschprinzip (prinzipiell jeder muss die Erklärung verstehen können), Argumentprinzip (Zusammenhänge müssen ausargumentiert statt nur behauptet werden), Untersuchungsprinzip (der Sachverhalt ist zu untersuchen), Eigenfleischprinzip (Dialektik ist mit eigenen sprachlichen Mittel zu betreiben, es gibt keine spezielle »dialektische Sprache«), Methodenprinzip (verwendete Methoden sind auszuweisen).

Weiteren Schwung in das Seminar kam durch Alex Demirovic (AD), ein an Adorno orientierter Demokratie- und Staatstheoretiker aus Frankfurt/M. Nachdem im Seminarverlauf das alte Modell der »Interessenvertretungspolitik« vorherrschend war, wirkte die antipolitische Stoßrichtung von AD erfrischend. Politik sei der institutionalisierte Ausdruck einer an den Staat delegierten »Allgemeinheit«, die der Kapitalismus selbst nicht zustande bringe. Für ihn gäbe es nur eine Rechtfertigung von »Politik«, nämlich ihre Abschaffung. Es sei ferner wichtig, das unausgesprochene »Bilderverbot« zu überwinden, um endlich wieder über Perspektiven jenseits des Kapitalismus nachdenken zu können.

Eine solche »Zukunftsorientierung« politischer Theorie war jedoch nicht die Sache der Mehrheit der Teilnehmenden. Sie Konzentrierten sich mehr auf die Analyse der Fiesheiten des Neoliberalismus, um aus dem Begreifen und dem Entwickeln von neuen Handlungsmöglichkeiten und Widerständigkeit voran zu kommen – wohin auch immer. Das war im Einzelnen durchaus sehr spannend. So zeigten viele ReferentInnen sehr schön auf, warum der Neoliberalismus »gesiegt« hat: Schlicht, weil er frühere linke Forderungen und Versprechungen erfüllte. Natürlich wurden die ursprünglichen »linken Ziele« ihres gesellschaftlichen Kontextes und damit der emanzipatorischen Stoßrichtung beraubt und an das einzelne, voll verantwortliche Subjekt delegiert. Aus paternalistischer Unterordung im Objektstatus zu Zeiten Fordismus wurde so das sich »selbst verwirklichende« und also freiwillig unterordnende Marktsubjekt im Neoliberalismus. Aus kommunikativen sozialen Beziehungen zwischen Menschen unter dem Schirm des Sozialstaates wurden allgemeine »Vertragsbeziehungen«, die nun die soziale Struktur bestimmen. Karl Marx nannte solche Verhältnisse Fetischverhältnisse – der Neoliberalismus zieht also die »Falten« glatt und entkleidet die »Marktwirtschaft« ihres sozialen Scheins.

Was folgt daraus? Zunächst wurde einmütig konstatiert, dass es ein Zurück zu einem wie auch immer gestrickten »Sozialstaat« nicht geben können. Linke Politik müsse an den Sorgen und Nöten »der Menschen« ansetzen, Widersprüche auch mal »aushalten« und für eine Aufklärung sorgen. – Hallo? Hatten wir das nicht schon mal, genau genommen die ganze Zeit? Ein Zurück zu den Inhalten früherer »linker Politik« solle es nicht geben, aber eben jene Formen der »linken Politik« dürfen bleiben? Gleichsam kokett wurde hin und wieder davon gesprochen, dass man ja eigentlich selber zu den »Prekären« gehöre, von denen man in dritter Person (»die Leute«) immer rede. Auch weise Ratschläge wie etwa der von Benjamin, nur der ins Extreme gesteigerte Individualismus führe in den Kommunismus, verhallten ungehört. Niemand kam auf die Idee, radikal die eigene Situation zum Ausgangspunkt von Analyse und Kritik zu machen, sondern es wurden stets allgemeine Situationen und die von »Leuten« untersucht.

Diese Erfahrung des Redens vom Drittstandpunkt verwundert umso mehr, betonten doch viele ebenfalls ihren Bezug zur Kritischen Psychologie, die die Trennung von »Forschenden« und »Beforschten« kritisiert. Eine der wesentlichen Einsichten der Kritischen Psychologie ist doch gerade der paradigmatische Perspektivwechsel vom Standpunkt dritter (»die Leute«) zu dem erster Person (»ich«). Der Schritt der Möglichkeitsverallgemeinerung, also der Beantwortung der Frage, was denn den »ichs« gemeinsam ist, zu einem allgemeinen »ich«, zu einem »je ich«, kann nur von jenem verallgemeinerten Standpunkt erster Person vollzogen werden – und nicht von einem äußeren »ExpertInnen-Standpunkt«.

Auch Hinweise auf die Rolle der Konstitution neuer gesellschaftlicher Beziehungen im theoretischen Denken blieben – obwohl abstrakt eingefordert – unaufgenommen. Das ist insofern verständlich, als das viele doch eher einen »sozial-therapeutischen Blick« auf eine bestimmte »Klientel« haben, deren Situation zu verbessern sie sich berufen fühlen. Doch auch SozialarbeiterInnen und -wissenschaftlerInnen könnten wenigstens gedanklich den Schritt aus einer unmittelbar konfliktreichen und widersprüchlichen Situation hinaus machen, denn aus dem »Sumpf des Alltags« gelingt die Befreiung nicht.

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