Die Keimformen in der Pandemie
Seit zwei Wochen leben wir in Deutschland nun in einem Ausnahmezustand, in Ländern, in denen die Pandemie schon früher ausgebrochen ist, noch länger. Das öffentliche Leben ist weitgehend heruntergefahren, um die Ausbreitung von Covid19 zu verhindern. Einiges ist dazu bereits auch aus linker Perspektive geschrieben worden, einen guten Überblick bietet der Blog Solidarisch gegen Corona. Aus „unserer“ Sichtweise, der der Commons und der Keimformtheorie ist es bisher allerdings noch relativ ruhig, lediglich auf dem CommonsBlog ist ein Text von Jacques Paysan erschienen, der vor allem die biologisch-virologischen Grundlagen erklärt und erläutert warum es sinnvoll ist, sich an die Hygienerichtlinien zu halten. Zudem sind die Auswirkungen zu spüren, es müssen Treffen ausfallen oder auf Videochat verlegt werden, aber offenbar haben einige Leute auch mehr Zeit und schreiben und kommentieren jetzt häufiger hier auf Keimform. Mit diesem Beitrag will ich versuchen, mit ein paar vorläufigen Gedanken auf die gesellschaftlichen Dimensionen der Pandemie einzugehen bzw. vor allem auf die Spielräume transformatorischer Bestrebungen, in der Hoffnung dass darüber noch mehr debattiert wird.
Krise mit eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten
In den Diskussionen um die Ausbreitung und Verallgemeinerung des Commonings spielen Krisen eine wichtige Rolle. Und tatsächlich ist es so, dass sich in Zeiten von Wirtschaftskrisen Praxen des Commonings oftmals aus einer Notwendigkeit heraus ausbreiten, wie dies etwa in Argentinien oder Griechenland der Fall war. Krisen führen zwar nicht automatisch dazu und gehen oftmals auch mit einem Erstarken autoritärer Kräfte einher, aber zumindest eröffnen sie ein Möglichkeitsfenster. Die aktuelle Corona-Pandemie ist nicht nur eine gesundheitliche Krise, sondern löste auch ein rasantes Abfallen der Aktienkurse aus und wir stehen wohl am Beginn eines wirtschaftlichen Krisenschubs, der noch heftiger ausfallen könnte als der von 2008. Dieser erscheint zwar als Effekt der Pandemie, tatsächlich ist diese nur der Auslöser eines Phänomens, das sich sowieso bereits angekündigt hatte – und krisenfrei wird dieser Kapitalismus sowieso nie.
Was diese Krise jedoch von anderen unterscheidet ist, dass unsere Möglichkeiten extrem eingeschränkt sind: Bereits die Wortherkunft von Commons betont das Gemeinsame, doch gerade ist eher die Isolation angesagt. Zwar gibt es auch über das Internet Möglichkeiten des Sich-Organisierens und überall entstehen Strukturen der gegenseitigen Hilfe, die auch unter Einhaltung von Hygienemaßnahmen funktionieren. Doch viele Commons sind vor Herausforderungen gestellt, und müssen ihre Tätigkeiten einstellen oder umwandeln. Die Aneignung und Commonisierung von Ressourcen durch kollektive Aktionen wie Besetzungen ist wohl gerade noch schwieriger – wenn auch nicht ganz unmöglich, wie die Aktivist*innen von #besetzen in Berlin zeigen, die in Kleingruppen Wohnungen besetzen, um sie Obdachlosen zur Verfügung zu stellen.
Dass mit einer Krise ein Ereignis eintritt, das ich und viele von uns stets als Möglichkeitsfenster gesehen haben, aber unsere Möglichkeiten des gemeinsamen Handelns aufgrund der Pandemie gleichzeitig stark eingeschränkt sind, hat bei mir gerade in der Anfangszeit vor zwei Wochen ein gewisses Ohnmachtsgefühl ausgelöst. Gerade deshalb ist es mir wichtig, zu überlegen, was gerade getan werden kann. Möglichkeiten, die Lage in einer emanzipatorischen Richtung zu wenden, sehe ich zum einen in den solidarischen Praktiken, die gerade entstehen, und zum anderen in Interventionen in die Diskurse um den gesellschaftlichen Umgang mit der Pandemie.
Solidarität in der Nachbarschaft und darüber hinaus
Mit Beginn der Pandemie entstanden an vielen Orten Netzwerke gegenseitiger Hilfe, in denen Menschen anbieten, für andere einkaufen zu gehen, etwa weil diese einer Risikogruppe angehören oder gerade in Quarantäne sind. Es ist überwältigend zu sehen, wie viele Menschen hier ihre Hilfe anbieten, oftmals mehr, als sie in Anspruch nehmen. Zusätzlich entstehen an einigen Orten „Gabenzäune“, an die Menschen Tüten mit Lebensmitteln und ähnlichem hängen können, welche dann z.B. von Wohnungslosen genommen werden können. Die unsichere wirtschaftliche Situation für viele Prekäre führt nicht nur dazu, dass die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen oder nach einem Aussetzen der Mieten und einem Mietstreik mehr Aufwind erfahren, sondern auch die finanzielle gegenseitige Hilfe wird in einigen Ansätzen selbst organisiert. So gibt es z.B. eine Initiative, bei der Menschen einen Anteil ihres Einkommens beitragen, womit dann eine bedingungslose Grundsicherung von 1000 Euro für alle Teilnehmenden ermöglicht werden soll.
Tatsächlich ist es nicht ungewöhnlich, dass Menschen in Katastrophen solidarisch kooperieren und sich gegenseitig unterstützen.
Die Frage ist jedoch zum einen, wie diese Solidarität möglichst auf alle ausgeweitet werden kann und zum andern ob sie nach der Krise einfach verschwindet oder ob auch länger anhaltende Praktiken daraus entstehen können. Solidarität kann auch Solidarität innerhalb einer In-Group, wie dem Nationalstaat bedeuten, und andere ausschließen. Dies ist die Solidarität, die Angela Merkel in ihrer Fernsehansprache beschworen hat. Die Bundesregierung hat anlässlich der Pandemie einen Aufnahmestopp für Geflüchtete verhängt und lässt andererseits weiterhin abschieben. Währenddessen müssen Geflüchtete in griechischen Aufnahmelagern unter virologisch extrem ungünstigen Bedingungen leben. Eine Stimmung von nationaler Solidarität befördern auch Initiativen wie die „Musiker*innen für Deutschland“ (immerhin spielen sie auf den Balkonen nicht die National-, sondern die Europa-Hymne, aber was daran angesichts der Abschottungspolitik der EU so viel besser sein soll, ist mir nicht ganz klar). Damit die Solidarität grenzenlos wird, könnte z.B. auch in den Netzwerken, die gerade Nachbarschaftshilfe organisieren, für die Forderungen und Online-Aktionen von Seebrücke geworben werden.
Wenn ein Ende der Pandemie absehbar wird, könnte sich innerhalb dieser Netzwerke auch darüber ausgetauscht werden, wie die Beteiligten die solidarischen Praktiken erlebt haben und wie auch nach der Pandemie mehr Solidarität innerhalb der Nachbarschaften und darüber hinaus gelebt werden kann. Letztlich könnte auch darüber diskutiert werden, wie sich diese Solidarität in Form von Commoning gesellschaftlich verallgemeinern könnte – dazu liefert Annette Schlemm in ihrem Artikel „Commoning als Strukturelle Solidarität“ einige gute Ansätze.
Die Coronakrise offenbart die Widersprüche des patriarchalen Kapitalismus
Damit sind wir schon beim zweiten Aspekt der derzeitigen Handlungsmöglichkeiten: Den Diskursinterventionen. Die jetzige Situation macht vieles möglich, was bisher undenkbar war, etwa dass auch CDU-Politiker*innen eine Verstaatlichung von Unternehmen vertreten. Es wird mehr und mehr offensichtlich, dass Marktlogiken einem Umgang mit der Pandemie, der die Gesundheit der Menschen in den Mittelpunkt stellt, entgegen stehen. Konkret scheint es mir gerade wichtig, u.a. über folgende Themen zu sprechen:
- In einer bedürfnisorientierten Gesellschaft wäre es kein Problem, die Re/Produktion in Zeiten von Pandemien auf das absolut Notwendige herunterzufahren. Der Kapitalismus jedoch verlangt nach einem stetigen Wachstum des abstrakten Reichtums: Deshalb müssen einerseits Arbeiter*innen auch in nicht notwendigen Bereichen weiter arbeiten und sind unnötigen Ansteckungsrisiken ausgesetzt (Dagegen wehren sich Arbeiter*innen weltweit mit oftmals wilden Streiks, eine Übersicht dazu findet sich hier). Wenn die Produktion eingeschränkt wird, bedeutet dies direkt eine Krise. Immer mehr Stimmen aus Politik und Wirtschaft fordern deshalb, den Lockdown möglichst schnell zu beenden. Es ist ihnen lieber, dass Menschen sterben, als dass die Wirtschaft schaden nimmt.
- Wenn Menschen keine Wohnung haben, können sie schlecht dem Aufruf #stayathome folgen. Auch Geflüchtete in Massenunterkünften sind unnötigen Infektionsrisiken ausgesetzt. Dass gleichzeitig Wohnungen und Hotelzimmer leerstehen, zeigt nicht nur in Zeiten von Corona die tödlichen Folgen von Eigentum. Hier sind die oben erwähnten praktischen Interventionen von #besetzen sehr zu begrüßen.
- Dass das Gesundheitssystem so kaputtgespart und durchökonomisiert ist, ist nicht nur Folge der Politik der letzten Jahre, sondern auch Ausdruck der Grundlogiken des Kapitalismus: Für Notsituationen mehr Krankenhausbetten bereit zu halten, rechnet sich einfach nicht.
- Generell lassen sich Care-Tätigkeiten nur bedingt der Logik von Zeiteinsparung und Produktivitätssteigerung unterwerfen, weshalb die Arbeitsbedingungen in der Pflege gerade so katastrophal sind. Care-Tätigkeiten werden im kapitalistischen Patriarchat Frauen zugewiesen, die jetzt mehr als sonst noch unter doppelter Belastung stehen: Einerseits arbeiten sie überdurchschnittlich oft in „systemrelevanten“ Berufen (z.B. als Kassiererin oder Pflegerin), andererseits sind sie es meist, die sich jetzt um die Kinder kümmern, die wegen geschlossenen Kitas und Schulen zuhause bleiben.
Die Situation von Pflegekräften rückt nun in der Coronakrise vermehrt ins öffentliche Bewusstsein. Die Kämpfe und Forderungen der Pflegekräfte gilt es zu unterstützen und an diese Debatten ließe sich anknüpfen und sie könnten materialistisch-(queer)feministisch zugespitzt werden zu einer Kritik am patriarchalen Kapitalismus. Zusammen mit den anderen genannten Punkten wird gerade recht deutlich, wie Gesundheit und Verwertungszwang im Widerspruch zueinander stehen. Deshalb ist auch das Sichtbarmachen von Alternativen angesagt, die Care und Bedürfnisbefriedigung in den Mittelpunkt stellen und sich nicht um Vermehrung von abstraktem Reichtum drehen. Das ist ja gewissermaßen unser Spezialgebiet. Aber auch an eine Utopie wie den Commonismus werden gerade neue Fragen gestellt.
Wie kann im Commonismus mit Pandemien umgegangen werden?
In einer anarchistischen Facebook-Gruppe, in der ich gelegentlich mitdiskutiere, zweifelten angesichts der Meldungen über „Corona-Partys“ einige an ihrer anti-autoritären Grundeinstellung oder forderten gar massives Eingreifen der Polizei. Anderswo meinte ein Marxist in einem Kommentar, dass ihn mal interessieren würde, was jetzt die ganzen Anarchist*innen sagen würden, wo es doch offensichtlich sei, wie gut es sei, dass es Durchsetzungsmöglichkeiten gäbe.
Unabhängig davon, wie man diese Polizeimaßnahmen beurteilen mag, stellt sich also die Frage nach dem Umgang mit Pandemien in einer Gesellschaft ohne Herrschaftsmittel, ob sie nun Commonismus oder Anarchie genannt wird. Hier ist es meines Erachtens wichtig darauf hinzuweisen, dass auch vor zwei Wochen sehr viele Menschen (ich würde schätzen die überwiegende Mehrheit) sich freiwillig eingeschränkt, physische Kontakte vermieden und keine Corona-Partys gefeiert haben. Das wird nur viel weniger wahrgenommen als die wenigen Fälle verantwortungslosen Handelns. Im Commonismus wäre es wohl auch nicht auszuschließen, dass Menschen sich über die Empfehlungen von Virolog*innen hinwegsetzen, ich glaube aber, dass dies weniger wahrscheinlich wäre. Schließlich sind die Menschen im Commonismus durch Inklusionsbeziehungen in den gesellschaftlichen Zusammenhang eingebettet, d.h. sie lernen von Anfang an die Bedürfnisse anderer mit einzubeziehen (und dies wird ihnen gesellschaftlich nahegelegt) und diese Inklusionslogik führt zu einem Grundvertrauen andere, also auch in Virologie-Commons, die dann Vorschläge erarbeiten können, wie eine Pandemie am besten eingedämmt wird. Zusätzlich dazu würden all die kapitalistischen Beschränkungen wie oben genannt keine Rolle mehr spielen und die Re/Produktion könnte problemlos auf das Notwendige heruntergefahren werden.
Dass solche Fragen auftauchen und selbst Anarchist*innen an ihrer anti-autoritären Einstellung zweifeln, zeigt, wie wichtig das Nachdenken über Utopie und das Begründen der Möglichkeit einer herrschaftsfreien Gesellschaft ist. Dass einige Linke gerade die Perspektive der Verstaatlichung von Unternehmen im Zuge der Krise sehr unkritisch als Schritt in Richtung Sozialismus abfeiern, zeigt zudem die Wichtigkeit einer grundlegenden Kritik am Staat und am Staatssozialismus auch in innerlinken Debatten.
Lesetipps für die Quarantäne
Schlussendlich bietet die Coronakrise vielleicht zumindest für diejenigen, die jetzt nicht oder weniger arbeiten müssen, die Möglichkeit (neben dem Beitragen zur nachbarschaftlichen Hilfe und der Intervention in den Diskurs über soziale Netzwerke, Blog- oder Zeitungsartikel), mal wieder mehr zu lesen. Dazu kann man sich auch mit Freund*innen zum Online-Lesekreis verabreden. Das schöne ist ja, dass einige Bücher aus dem Commons-Kontext frei zugänglich im Internet sind:
- Simon Sutterlütti und Stefan Meretz: Kapitalismus Aufheben. Eine Einladung, über Utopie und Transformation neu nachzudenken.
- Friederike Habermann: Ecommony – UmCARE zum Miteinander
- Silke Helfrich und David Bollier: Frei, Fair und Lebendig. Die Macht der Commons.
- Silke Helfrich und Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat.
- Silke Helfrich, David Bollier und Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Die Welt der Commons. Muster gemeinsamen Handelns.
Außerdem gibt es auch alle Marx-Engels-Werke als pdf im Internet und auch in der Anarchistischen Bibliothek finden sich einige interessante Texte 😉
Einer der schönsten Texte, die ich zur jetzigen Situation gelesen habe, ist das Kommuniqué der EZLN. Es schließt mit den Worten:
Wir rufen dazu auf, nicht den menschlichen Kontakt zu verlieren, sondern zeitweise die Formen zu ändern, um uns wissen zu lassen, wir sind uns Compañeras, Compañeros, Compañeroas und Schwestern, Brüder, Schwestern-Brüder.
Das Wort und das Zuhören – mit dem Herzen – geht viele Wege, hat viele Formen, beinhaltet viele Kalender und Geographien – um sich zu treffen, sich zu finden. Dieser Kampf für das Leben kann einer davon sein.
@Benni: Das mit der verdrängten Klimakatastrophe ist eine interessante These. Nur leider lässt sich da – wie oft wenn mit Unbewusstem argumentiert wird – nicht wirklich gut dafür und auch nicht dagegen argumentieren. Oder fällt dir was ein?
Dass die Maschine zum stehen gebracht wird, ist tatsächlich bemerkenswert – ich hab aber auch keinen Vergleichswert im Kopf. Gab es bisher Pandemien von diesem Ausmaß, bei dem das anders gehandhabt wurde? Mir fällt nur die Spanische Grippe ein, aber das war historisch ja nochmal ne ganz andere Situation.
Danke für die Verlinkung. Ich habe den Beitrag abends im Hotel in Bogotá geschrieben, wo ich am Anfang der Pandemie gestrandet war. Inzwischen ist das Thema ja in allen Medien durchgekaut und ich würde (und werde) sicherlich andere Aspekte betrachten.In diesem Sinne auch herzlichen Dank für den Beitrag!
In dem Kontext auch interessant ist das Open-Hardware-Projekt Carola, das modulare Mundschutzproduktionsmaschinen herstellt. Ein gutes Beispiel, wie Commons sich vielleicht doch auch in dieser Krise ausweiten können 🙂
@jojo: Die spanische Grippe war die verheerendste Grippe-Pandemie aber bei weitem nicht die einzige. Die letzte mit Millionen Toten war erst 1968:
Ja, zu erleben, dass es möglich ist, weltweit die Produktion herunterzufahren um die Ältesten und Verwundbarsten zu schützen, ereichtert vermutlich das Bemühen, den Gedanken zum Gemeingut zu machen, dass es doch auch möglich sein müsste, die Produktionsbedingungen so einzurichten, dass die globale Erwärmung keine Rückkopplugseffekten auslöst, die der Erde eine Heißzeit bescheren.
Andererseits hat das regierende Trumputeam der USA jetzt als Maßnahme der Krisenintervention die Verfolgung von Verstößen gegen Umweltschutzauflagen außer Kraft gesetzt. Ob der Abscheu darüber größer sein wird als die Erleichterung derer, die um ihre Existenzsicherungsmittel bangen? Der verdammte Frackingboom hat Trump wohl erst möglich gemacht. Kapitalismus ist eine existenzgefährdende Existenzgrundlage. Und es lauern eben auch Dispositive einer faschistischen Endlösung der Klimakrise.
Es muss deutlich werden, dass wir ein – am Ende weltgemeinschaftlich bestimmtes – Nachhaltigkeitsanagement zur Grundlage des Weltwirtschaftens machen müssen, das dem Grundsatz verpflichtet ist, dass weltweit alle gut leben können müssen ohne dass dies die Grundlagen des guten Lebens aller zerstört. Es wäre deshalb zu schauen, was dem Ausbau und der Verbreitung dieses Gedankens förderlich sein könnte und wie in diese Richtung weisendes entsprechend nach vorn gebracht und vom aktuell Machbaren zum prinzipiell Notwendigen hin „radikalisiert“ werden kann.
Der Wunsch nach einer „bedürfnisorientierten Gesellschaft“ kommt mir angesichts dieses Herausforderung eher wie der Traum von einem Schlaraffenkommunismus vor. Was ist bedürfnsorientierter als Kapitalismus? Käme es nicht viel mehr darauf an, die Entwicklung der menschlichen Bedürfnisse und Fähigkeiten und der Kosten ihrer Befriedigung (sozialer wie ökologischer Natur) miteinander ins Benehmen bringen zu können? Und deshalb die Möglichkeit herzustellen, die planeratarischen Produktionsbedingungen weltgemeinschaftlich zu verantworten?
Hi Jojo,
ich wurde jetzt mehrfach angefragt, einen Beitrag zur öffentlichen Debatte zu leisten und werde das auch tun – dauert nur noch ein Weilchen. Derweil sammle ich u.a. hier „gute Nachrichten“ auf verschiedenen Ebenen. https://text.allmende.io/p/goodnews (noch unsortiert, habe auch schon Carola und die Gabenzäune reingeschrieben; tnx).
Für Mittwoch (bin gerade dabei, ne gute Zeit rauszufinden) lade ich über die Liste zu einem CommonsVsCorona talk ein, damit wir uns austauschen können.
@benni: die Verdrängungsthese ist interessant, aber vielleicht sind die Dinge auch einfacher und hängen mit zeitlichen Abläufen zusammen. Mit Unmittelbarkeit.
@Silke: Danke fürs verlinken von dem Pad, klingt mega cool! Bin auch sehr gespannt auf deinen Beitrag 🙂
@Hans-Herrmann Hirschelmann: Bedürfnisse sind ja nicht nur materielle Konsumbedürfnisse, sondern z.B. auch Bedürfnisse nach befriedigenden Beziehungen und nach Teilhabe an der vorsorgenden Herstellung unserer gesellschaftlichen Lebensbedingungen. Wenn wirklich die Bedürfnisse aller einbezogen würden, könnten auch keine ökologischen Grenzen überschritten werden. Der Kapitalismus ist gerade nicht bedürfnisorientiert weil sein Verwertungs- und Wachstumszwang eine Verselbstständigung bedeuten, die von den Bedürfnissen der Menschen losgelöst ist.
@Benni: Hast du denn Erklärungsansätze dafür, dass es gerade anders läuft als bei anderen Katastrophen und Pandemien?
Die Pandemie hat wie andere (Natur-)katastrophen auch das Zeug
dazu, Menschen in Panik zu versetzen. Deshalb halte ich es für
legitim, einen Panikforscher zu
Wort kommen zu lassen. Professor Michael
Schreckenberg, der an der Universität Duisburg-Essen die Physik
von Transport und Verkehr erforscht, sagte, nachdem er sorgfältig
Videoaufzeichnungen von 127 Fälle von Massenpanik untersucht hatte
: „Panik gibt es eigentlich gar nicht“. Menschen würden auch in
Extremsituationen vorhersehbar und durchaus rational handeln.
Aber: Eine Masse in ihrem kollektiven Reflexzu steuern, gelänge
nur in den ersten Momenten. „Strikte Führung“ über Lautsprecher
sei dafür nötig, so Schreckenberg. Die Leute brauchten das Gefühl,
die Organisatoren hätten die Lage im Griff. Und selbst wenn dies
nicht mehr der Fall sei, sollten die Lautsprecher nicht schweigen.
„Dann ist es immer noch besser, Musik zu spielen.“
Ich meine gelesen zu haben, dass es so viele Infizierte in
Italien gibt, weil viele der Maßnahmen, die „von oben“ angekündigt
wurden, von vielen Bürgern und auch Bürgermeistern, zu lange nicht
hinreichend ernst genommen wurden, also nicht umgesetzt wurden.
Lebenswichtige Maßnahmen kamen zu spät, zu zauderhaft und nicht
entschieden genug.
Wenn du warten wolltest, bis REWE oder ALDI ihre Kunden nur noch einzeln einlassen, oder dass Deutsche alle Masken aufsetzen wie in China 99 % selbstverständlich tun, dann könntest du lange warten. Aber Anweisungen „von oben“ haben sofort gegriffen und auch die Kunden haben sofort kapiert, dass das jetzt so sein muss.
Danke, Jojo für die Frage „Wie kann im Commonismus mit Pandemien umgegangen werden?“ Das vermisste ich in der ganzen Besserwisserei-Debatte immer. Ich frage dazu in meinem Blogbeitrag (https://philosophenstuebchen.wordpress.com/2020/03/27/und-sind-sie-nicht-willig-was-dann/) auch:
„Ich weiß nicht, welche historischen Beispiele es dafür gibt, ich tippe auf Isolierung und Ausschluss* (zumindest seit den Pestkatastrophen des Mittelalters, siehe Thießen 2015). Kennt jemand andere alternative Strategien aus noch früheren Zeiten und anderen Regionen?“
So, jetzt komme ich endlich wieder dazu, hier mal zu antworten.
@Annette: Ich hab es leider vor veröffentlichen dieses Artikels versäumt mal beim Philosophenstübchen vorbeizuschauen und zu gucken ob du auch schon was dazu geschrieben hast – dann hätte ich mich auch auf deinen Text beziehen können. Ich finde den Gedanken interessant, dass die Pandemie schon eine partielle Inklusionslogik herstellt und Interdependenz spürbar macht (das war ja auch ein Punkt beim Commons&Corona-Slot beim CI-Treffen). Aber eben nur partiell, weil bestimmte Menschen durch Alter oder Vorerkrankungen mehr gefährdet sind als andere. Und da hast du vollkommen recht, dass sich das auch im Commonismus nicht ändern würde. Und das gilt ja auch für andere Bereiche: Bisher argumentiere auch ich meist damit, dass Inklusionslogik hergestellt wird durch gegenseitige Abhängigkeit (Tätigkeitsteilung) unter Bedingungen von Freiwilligkeit und kollektiver/offener Verfügung (so verstehe ich Simon&Stefan). Aber es sind ja auch im Commonismus nicht alle gleichermaßen voneinander abhängig, sondern Alte, Kranke, Menschen mit Behinderungen und kleine Kinder werden auch unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen stärker von anderen abhängig sein als körperlich gesunde und nicht-beeinträchtigte Menschen jüngeren und mittleren Alters. Ob für letztere die Einsicht ausreicht, sich auch mal in so einer Lage befinden zu können (z.B. im Alter), um die Bedürfnisse von Kranken/Alten/etc. zu inkludieren, weiß ich nicht. Vielleicht wird die Inklusion der Bedürfnisse anderer durch die Nahelegungen in vielen Bereichen aber auch einfach zu einer Gewohnheit, sodass auch in Bereichen inkludiert wird wo es sonst weniger nahegelegt ist. Vielleicht braucht es aber doch auch so etwas wie Ethik oder Empathie, die dazu führt, die Bedürfnisse anderer zu inkludieren auch wenn ich nicht unmittelbar davon profitiere.
@Chistoph Düsberg: Wenn menschliches Verhalten über „Physik“ erklärt wird, werde ich zugegebenermaßen schon etwas skeptisch. Menschen können sich ja bewusst zu den Bedingungen verhalten und sind nicht einfach irgendwelche Teilchen. Und vom Verhalten von Menschen in Paniksituationen heute auf das Verhalten von Menschen in Paniksituationen in anderen Gesellschaften zu schließen, geht glaube ich auch nicht so ohne weiteres – bzw. müsste da genauer untersucht werden ob bestimmtes Verhalten eine anthropologische Konstante ist oder nicht. Ich halte es schon prinzipiell für möglich, dass unter geänderten gesellschaftlichen Bedingungen auch das Verhalten von Menschen in Paniksituationen sich ändert – z.B. eben dadurch, dass Menschen gelernt haben verantwortlich und solidarisch zu handeln. Außerdem scheinst du mir zentrale Ansagen, was gerade sinnvoll wäre (z.B. Lautsprecherdurchsagen in einer Massenpanik) zu vermischen mit der gewaltsamen Durchsetzung dieser Ansagen durch Zwangsmaßnahmen. Ersteres könnte es im Commonismus durchaus geben (z.B. in Form der von mir angesprochenen Virologie-Commons), letzteres nicht.
Dass es unter heutigen Bedingungen vollkommen Sinn ergibt und begrüßenswert ist, dass die Supermärkte staatlich dazu gezwungen werden, nur eine bestimmte Anzahl Menschen reinzulassen (z.B. weil sie es von sich aus nicht tun, da ihr Profitinteresse dem entgegensteht), hab ich ja gar nicht abgestritten.
@Jojo. „Vielleicht braucht es aber doch auch so etwas wie Ethik oder Empathie.“ Ich würde das erste Wort aus diesem Satz streichen.