Die Keimformen in der Pandemie

Seit zwei Wochen leben wir in Deutschland nun in einem Ausnahmezustand, in Ländern, in denen die Pandemie schon früher ausgebrochen ist, noch länger. Das öffentliche Leben ist weitgehend heruntergefahren, um die Ausbreitung von Covid19 zu verhindern. Einiges ist dazu bereits auch aus linker Perspektive geschrieben worden, einen guten Überblick bietet der Blog Solidarisch gegen Corona. Aus „unserer“ Sichtweise, der der Commons und der Keimformtheorie ist es bisher allerdings noch relativ ruhig, lediglich auf dem CommonsBlog ist ein Text von Jacques Paysan erschienen, der vor allem die biologisch-virologischen Grundlagen erklärt und erläutert warum es sinnvoll ist, sich an die Hygienerichtlinien zu halten. Zudem sind die Auswirkungen zu spüren, es müssen Treffen ausfallen oder auf Videochat verlegt werden, aber offenbar haben einige Leute auch mehr Zeit und schreiben und kommentieren jetzt häufiger hier auf Keimform. Mit diesem Beitrag will ich versuchen, mit ein paar vorläufigen Gedanken auf die gesellschaftlichen Dimensionen der Pandemie einzugehen bzw. vor allem auf die Spielräume transformatorischer Bestrebungen, in der Hoffnung dass darüber noch mehr debattiert wird.

Krise mit eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten

In den Diskussionen um die Ausbreitung und Verallgemeinerung des Commonings spielen Krisen eine wichtige Rolle. Und tatsächlich ist es so, dass sich in Zeiten von Wirtschaftskrisen Praxen des Commonings oftmals aus einer Notwendigkeit heraus ausbreiten, wie dies etwa in Argentinien oder Griechenland der Fall war. Krisen führen zwar nicht automatisch dazu und gehen oftmals auch mit einem Erstarken autoritärer Kräfte einher, aber zumindest eröffnen sie ein Möglichkeitsfenster. Die aktuelle Corona-Pandemie ist nicht nur eine gesundheitliche Krise, sondern löste auch ein rasantes Abfallen der Aktienkurse aus und wir stehen wohl am Beginn eines wirtschaftlichen Krisenschubs, der noch heftiger ausfallen könnte als der von 2008. Dieser erscheint zwar als Effekt der Pandemie, tatsächlich ist diese nur der Auslöser eines Phänomens, das sich sowieso bereits angekündigt hatte – und krisenfrei wird dieser Kapitalismus sowieso nie.

Was diese Krise jedoch von anderen unterscheidet ist, dass unsere Möglichkeiten extrem eingeschränkt sind: Bereits die Wortherkunft von Commons betont das Gemeinsame, doch gerade ist eher die Isolation angesagt. Zwar gibt es auch über das Internet Möglichkeiten des Sich-Organisierens und überall entstehen Strukturen der gegenseitigen Hilfe, die auch unter Einhaltung von Hygienemaßnahmen funktionieren. Doch viele Commons sind vor Herausforderungen gestellt, und müssen ihre Tätigkeiten einstellen oder umwandeln. Die Aneignung und Commonisierung von Ressourcen durch kollektive Aktionen wie Besetzungen ist wohl gerade noch schwieriger – wenn auch nicht ganz unmöglich, wie die Aktivist*innen von #besetzen in Berlin zeigen, die in Kleingruppen Wohnungen besetzen, um sie Obdachlosen zur Verfügung zu stellen.

Dass mit einer Krise ein Ereignis eintritt, das ich und viele von uns stets als Möglichkeitsfenster gesehen haben, aber unsere Möglichkeiten des gemeinsamen Handelns aufgrund der Pandemie gleichzeitig stark eingeschränkt sind, hat bei mir gerade in der Anfangszeit vor zwei Wochen ein gewisses Ohnmachtsgefühl ausgelöst. Gerade deshalb ist es mir wichtig, zu überlegen, was gerade getan werden kann. Möglichkeiten, die Lage in einer emanzipatorischen Richtung zu wenden, sehe ich zum einen in den solidarischen Praktiken, die gerade entstehen, und zum anderen in Interventionen in die Diskurse um den gesellschaftlichen Umgang mit der Pandemie.

Solidarität in der Nachbarschaft und darüber hinaus

Mit Beginn der Pandemie entstanden an vielen Orten Netzwerke gegenseitiger Hilfe, in denen Menschen anbieten, für andere einkaufen zu gehen, etwa weil diese einer Risikogruppe angehören oder gerade in Quarantäne sind. Es ist überwältigend zu sehen, wie viele Menschen hier ihre Hilfe anbieten, oftmals mehr, als sie in Anspruch nehmen. Zusätzlich entstehen an einigen Orten „Gabenzäune“, an die Menschen Tüten mit Lebensmitteln und ähnlichem hängen können, welche dann z.B. von Wohnungslosen genommen werden können. Die unsichere wirtschaftliche Situation für viele Prekäre führt nicht nur dazu, dass die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen oder nach einem Aussetzen der Mieten und einem Mietstreik mehr Aufwind erfahren, sondern auch die finanzielle gegenseitige Hilfe wird in einigen Ansätzen selbst organisiert. So gibt es z.B. eine Initiative, bei der Menschen einen Anteil ihres Einkommens beitragen, womit dann eine bedingungslose Grundsicherung von 1000 Euro für alle Teilnehmenden ermöglicht werden soll.
Tatsächlich ist es nicht ungewöhnlich, dass Menschen in Katastrophen solidarisch kooperieren und sich gegenseitig unterstützen.

Die Frage ist jedoch zum einen, wie diese Solidarität möglichst auf alle ausgeweitet werden kann und zum andern ob sie nach der Krise einfach verschwindet oder ob auch länger anhaltende Praktiken daraus entstehen können. Solidarität kann auch Solidarität innerhalb einer In-Group, wie dem Nationalstaat bedeuten, und andere ausschließen. Dies ist die Solidarität, die Angela Merkel in ihrer Fernsehansprache beschworen hat. Die Bundesregierung hat anlässlich der Pandemie einen Aufnahmestopp für Geflüchtete verhängt und lässt andererseits weiterhin abschieben. Währenddessen müssen Geflüchtete in griechischen Aufnahmelagern unter virologisch extrem ungünstigen Bedingungen leben. Eine Stimmung von nationaler Solidarität befördern auch Initiativen wie die „Musiker*innen für Deutschland“ (immerhin spielen sie auf den Balkonen nicht die National-, sondern die Europa-Hymne, aber was daran angesichts der Abschottungspolitik der EU so viel besser sein soll, ist mir nicht ganz klar). Damit die Solidarität grenzenlos wird, könnte z.B. auch in den Netzwerken, die gerade Nachbarschaftshilfe organisieren, für die Forderungen und Online-Aktionen von Seebrücke geworben werden.

Wenn ein Ende der Pandemie absehbar wird, könnte sich innerhalb dieser Netzwerke auch darüber ausgetauscht werden, wie die Beteiligten die solidarischen Praktiken erlebt haben und wie auch nach der Pandemie mehr Solidarität innerhalb der Nachbarschaften und darüber hinaus gelebt werden kann. Letztlich könnte auch darüber diskutiert werden, wie sich diese Solidarität in Form von Commoning gesellschaftlich verallgemeinern könnte – dazu liefert Annette Schlemm in ihrem Artikel „Commoning als Strukturelle Solidarität“ einige gute Ansätze.

Die Coronakrise offenbart die Widersprüche des patriarchalen Kapitalismus

Damit sind wir schon beim zweiten Aspekt der derzeitigen Handlungsmöglichkeiten: Den Diskursinterventionen. Die jetzige Situation macht vieles möglich, was bisher undenkbar war, etwa dass auch CDU-Politiker*innen eine Verstaatlichung von Unternehmen vertreten. Es wird mehr und mehr offensichtlich, dass Marktlogiken einem Umgang mit der Pandemie, der die Gesundheit der Menschen in den Mittelpunkt stellt, entgegen stehen. Konkret scheint es mir gerade wichtig, u.a. über folgende Themen zu sprechen:

  • In einer bedürfnisorientierten Gesellschaft wäre es kein Problem, die Re/Produktion in Zeiten von Pandemien auf das absolut Notwendige herunterzufahren. Der Kapitalismus jedoch verlangt nach einem stetigen Wachstum des abstrakten Reichtums: Deshalb müssen einerseits Arbeiter*innen auch in nicht notwendigen Bereichen weiter arbeiten und sind unnötigen Ansteckungsrisiken ausgesetzt (Dagegen wehren sich Arbeiter*innen weltweit mit oftmals wilden Streiks, eine Übersicht dazu findet sich hier). Wenn die Produktion eingeschränkt wird, bedeutet dies direkt eine Krise. Immer mehr Stimmen aus Politik und Wirtschaft fordern deshalb, den Lockdown möglichst schnell zu beenden. Es ist ihnen lieber, dass Menschen sterben, als dass die Wirtschaft schaden nimmt.
  • Wenn Menschen keine Wohnung haben, können sie schlecht dem Aufruf #stayathome folgen. Auch Geflüchtete in Massenunterkünften sind unnötigen Infektionsrisiken ausgesetzt. Dass gleichzeitig Wohnungen und Hotelzimmer leerstehen, zeigt nicht nur in Zeiten von Corona die tödlichen Folgen von Eigentum. Hier sind die oben erwähnten praktischen Interventionen von #besetzen sehr zu begrüßen.
  • Dass das Gesundheitssystem so kaputtgespart und durchökonomisiert ist, ist nicht nur Folge der Politik der letzten Jahre, sondern auch Ausdruck der Grundlogiken des Kapitalismus: Für Notsituationen mehr Krankenhausbetten bereit zu halten, rechnet sich einfach nicht.
  • Generell lassen sich Care-Tätigkeiten nur bedingt der Logik von Zeiteinsparung und Produktivitätssteigerung unterwerfen, weshalb die Arbeitsbedingungen in der Pflege gerade so katastrophal sind. Care-Tätigkeiten werden im kapitalistischen Patriarchat Frauen zugewiesen, die jetzt mehr als sonst noch unter doppelter Belastung stehen: Einerseits arbeiten sie überdurchschnittlich oft in „systemrelevanten“ Berufen (z.B. als Kassiererin oder Pflegerin), andererseits sind sie es meist, die sich jetzt um die Kinder kümmern, die wegen geschlossenen Kitas und Schulen zuhause bleiben.

Die Situation von Pflegekräften rückt nun in der Coronakrise vermehrt ins öffentliche Bewusstsein. Die Kämpfe und Forderungen der Pflegekräfte gilt es zu unterstützen und an diese Debatten ließe sich anknüpfen und sie könnten materialistisch-(queer)feministisch zugespitzt werden zu einer Kritik am patriarchalen Kapitalismus. Zusammen mit den anderen genannten Punkten wird gerade recht deutlich, wie Gesundheit und Verwertungszwang im Widerspruch zueinander stehen. Deshalb ist auch das Sichtbarmachen von Alternativen angesagt, die Care und Bedürfnisbefriedigung in den Mittelpunkt stellen und sich nicht um Vermehrung von abstraktem Reichtum drehen. Das ist ja gewissermaßen unser Spezialgebiet. Aber auch an eine Utopie wie den Commonismus werden gerade neue Fragen gestellt.

Wie kann im Commonismus mit Pandemien umgegangen werden?

In einer anarchistischen Facebook-Gruppe, in der ich gelegentlich mitdiskutiere, zweifelten angesichts der Meldungen über „Corona-Partys“ einige an ihrer anti-autoritären Grundeinstellung oder forderten gar massives Eingreifen der Polizei. Anderswo meinte ein Marxist in einem Kommentar, dass ihn mal interessieren würde, was jetzt die ganzen Anarchist*innen sagen würden, wo es doch offensichtlich sei, wie gut es sei, dass es Durchsetzungsmöglichkeiten gäbe.

Unabhängig davon, wie man diese Polizeimaßnahmen beurteilen mag, stellt sich also die Frage nach dem Umgang mit Pandemien in einer Gesellschaft ohne Herrschaftsmittel, ob sie nun Commonismus oder Anarchie genannt wird. Hier ist es meines Erachtens wichtig darauf hinzuweisen, dass auch vor zwei Wochen sehr viele Menschen (ich würde schätzen die überwiegende Mehrheit) sich freiwillig eingeschränkt, physische Kontakte vermieden und keine Corona-Partys gefeiert haben. Das wird nur viel weniger wahrgenommen als die wenigen Fälle verantwortungslosen Handelns. Im Commonismus wäre es wohl auch nicht auszuschließen, dass Menschen sich über die Empfehlungen von Virolog*innen hinwegsetzen, ich glaube aber, dass dies weniger wahrscheinlich wäre. Schließlich sind die Menschen im Commonismus durch Inklusionsbeziehungen in den gesellschaftlichen Zusammenhang eingebettet, d.h. sie lernen von Anfang an die Bedürfnisse anderer mit einzubeziehen (und dies wird ihnen gesellschaftlich nahegelegt) und diese Inklusionslogik führt zu einem Grundvertrauen andere, also auch in Virologie-Commons, die dann Vorschläge erarbeiten können, wie eine Pandemie am besten eingedämmt wird. Zusätzlich dazu würden all die kapitalistischen Beschränkungen wie oben genannt keine Rolle mehr spielen und die Re/Produktion könnte problemlos auf das Notwendige heruntergefahren werden.

Dass solche Fragen auftauchen und selbst Anarchist*innen an ihrer anti-autoritären Einstellung zweifeln, zeigt, wie wichtig das Nachdenken über Utopie und das Begründen der Möglichkeit einer herrschaftsfreien Gesellschaft ist. Dass einige Linke gerade die Perspektive der Verstaatlichung von Unternehmen im Zuge der Krise sehr unkritisch als Schritt in Richtung Sozialismus abfeiern, zeigt zudem die Wichtigkeit einer grundlegenden Kritik am Staat und am Staatssozialismus auch in innerlinken Debatten.

Lesetipps für die Quarantäne

Schlussendlich bietet die Coronakrise vielleicht zumindest für diejenigen, die jetzt nicht oder weniger arbeiten müssen, die Möglichkeit (neben dem Beitragen zur nachbarschaftlichen Hilfe und der Intervention in den Diskurs über soziale Netzwerke, Blog- oder Zeitungsartikel), mal wieder mehr zu lesen. Dazu kann man sich auch mit Freund*innen zum Online-Lesekreis verabreden. Das schöne ist ja, dass einige Bücher aus dem Commons-Kontext frei zugänglich im Internet sind:

Außerdem gibt es auch alle Marx-Engels-Werke als pdf im Internet und auch in der Anarchistischen Bibliothek finden sich einige interessante Texte 😉

Einer der schönsten Texte, die ich zur jetzigen Situation gelesen habe, ist das Kommuniqué der EZLN. Es schließt mit den Worten:

Wir rufen dazu auf, nicht den menschlichen Kontakt zu verlieren, sondern zeitweise die Formen zu ändern, um uns wissen zu lassen, wir sind uns Compañeras, Compañeros, Compañeroas und Schwestern, Brüder, Schwestern-Brüder.
Das Wort und das Zuhören – mit dem Herzen – geht viele Wege, hat viele Formen, beinhaltet viele Kalender und Geographien – um sich zu treffen, sich zu finden. Dieser Kampf für das Leben kann einer davon sein.

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