Suche nach einer kritischen Theorie der Nation

Guten Morgen, ich will euch wieder einmal einen meiner Uni-Essays vorstellen, und zwar geht es dieses mal um Nationalismus. Es geht so um Fragen wie Nation, Staat und Demokratie verbunden ist, aber auch ob Nationalismus immer kulturalistisch-ethnisch abdriften muss und so. Spannend find ich das ganze noch als Fragestellung: Welches utopische Versprechen hat der Nationalismus? Ich wünsche euch viel Spaß :). Hier den ganzen Essay als pdf.

Nationalismus, Staat, Demokratie

Für mich schien es nicht möglich historischen Studien des Nationalismus zu machen, da mein Begriff von Nation und Nationalismus so unscharf war. So beschloss ich einen kurzen Versuch zu unternehmen meinen Begriff des Nationalismus und jenen der Nation an der bestehenden Literatur zu schärfen. Die Kürze war dem Gegenstand jedoch nicht angemessen. Die Theorie des Nationalismus zeigte sich in all ihrer Variabilität vor allem durch ihre Widersprüchlichkeit, Unklarheit und Inkonsequenz aus. Diese Inkonsequenz trat für mich vor allem in dem Verhältnis von Nationalismus und Staat auf. Meines Erachtens vermag eine kritische Theorie des Nationalismus ihrem Anspruch nur gerecht werden, wenn sie auf einer kritischen Theorie des Staates fußt, denn zu nahe sind diese beiden Phänomene historisch und real miteinander verbunden.

Während Anderson, Hobsbawn und Kellner in Anschluss an Webers kritisches Verdikt von 1922 vor allem die Nation in ihrer soziale Konstruktion als ‚imagined community‘ oder ‚invented tradition‘ entlarvten, hinterließ die Lektüre ‚klassischen‘ kritischen Theorie der Nation vielerlei Leerstellen. Diese wurden durch folgende Fragen umrissen: Inwiefern vermag eine Tradition des östlichen, ethnischen, aggressiven und eines westlichen, staatsbürgerlichen, friedlichen Nationalismus unterschieden werden? Wenn doch nicht in seiner stereotypen Vereindeutigung so doch in seiner inhaltlichen Kategorisierung zweier Pole? Gehören die Tradition des „Vernunftstaates“ und „Kulturstaates“ nicht doch zusammen? Wenn ja, wie? Was ist das emanzipatorische Versprechen des Nationalismus? Und weshalb musste dieses historisch notwendig scheitern – nicht nur in kulturalistischen Ausgrenzungspraxis, sondern ebenso in seiner staatsbürgerlichen Hoffnung? Wie sind Kapitalismus, Staat und Nationalismus verbunden?

Nach weiterer Beschäftigung trat ein weiteres Verhältnis in das inhaltliche Feld, jenes zwischen Demokratie und Nationalismus. Denn, während nationale Bewegungen einen Allgemeingültigkeitsanspruch über die Zukunft eines (National-)Staates beanspruchen (vgl. Bruhn 1993/2019) und somit Identität, Allgemeinheit, Einheit betonen, so scheint die Demokratie in ihrer pluralistischen Form gerade den Konflikt und die damit notwendige Aushandlung in das Zentrum des Politischen zu stellen. Konflikt vs. Autorität, Vielheit vs. Einheit, Besonderes vs. Allgemeines, Demokratie vs. Nationalismus. Wäre dann nicht die Demokratie das Andere des Nationalismus? Die in ihrer heutigen nationalen Form zwar den Widerspruch von Vielheit und Einheit nur ausgrenzend bewegen kann, jedoch gerade im weltbürgerlichen Gestus verspricht Allgemeinheit und Besonderheit global zu versöhnen? Ist man hiermit nicht der demokratischen Ideologie aufgesessen? Hat man ihr unmöglich umsetzbares Ideal für ihre Realität verkannt?

Die Literatur beantwortete all diese Fragen für mich nur eingeschränkt. Deshalb sehen sie mir es nach, wenn das folgende Essay weniger die Form einer wissenschaftlichen Darstellung einiger Antworten der kritischen Theorie des Nationalismus angenommen hat, sondern viel eher die sozialwissenschaftlich-philosophische Suche nach Antworten. Das Essay tastet sich vielmehr thesenhaft an den Inhalt heran, als ihn tatsächlich theoretisch zu ergreifen. Eine kritische Theorie der Nation bleibt ihr Horizont.

Nationalismus – Versprechen der Identität von Individuum und Staat

Emanzipation zielt auf die Versöhnung von Allgemeinen und Besonderem. Die Einrichtung der gesellschaftlichen Verhältnisse in einer Form, welche die Freiheit und Bedürfnisbefriedigung der Einzelnen fördert, stützt und zu ihrem Ziele hat. Bestimmen wir hier das Allgemeine als die gesellschaftlichen Verhältnisse, dann das Besondere als das Subjekt. Nicht soll mehr die Totalität über das Einzelne triumphieren, sondern jenes ausdrücken und enthalten. Versöhnung bleibt jedoch nicht nur das Ziel des Verhältnisses von Allgemeinen und Besonderem, sondern auch den Besonderheiten untereinander. Eine Gesellschaft, in der die „freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für freie Entwicklung aller ist“ (Marx/Engels). Nicht mehr sollen die Einzelnen gegeneinander im immerwährenden Kampfe ihre Bedürfnisansprüche verfechten, sondern in Solidarität ihre Bedürfnisse gemeinsam befriedigen. Dies ist auch das Versprechen des Nationalismus.

Der Nationalismus verspricht ein Allgemeines, welches die Willen der Besonderen, das Willen des demos ausdrückt. Deswegen werden Nationalist*innen auch nicht müde die „Entzweiung des Volkes“ (vgl. Norbert Hofer im Wahlkampf mit van der Bellen) durch Klassenkampf oder sonstige ‚Partikularinteressen‘ zu kritisieren und die nationale Solidarität zu verlangen – welche nicht mit der völkischen-rassistischen Solidarität in eins fallen muss. Gemeinwohl, Volkswille, Einheit sind die Kampfbegriffe des Nationalen.

Drei Unterscheidungen gegenüber der linken Konzeption der Allgemeinheit sind festzustellen. Erstens geben Nationalist*innen oft genug dem Allgemeine gegenüber dem Besonderen den Vorzug. Dies kann sich bspw. dann darin äußern, dass Anteile des Besonderen als nicht-national, partikular oder egozentrisch verurteilt werden. Deutlich wird dies beispielsweise an dem Widerspruch von Blut und Arbeit im Nationalsozialismus: Auch ein*e „echte Arier*in“ wurde dem Arbeitslager überantwortet, wenn sie nicht ihr Soll erfüllte. Doch diese autoritäre Tendenz lässt sich ebenso in der linken Bewegung finden. Hierauf verweisen Ideen wie „Diktatur des Proletariats“, „die Partei hat immer Recht“ oder „Schaffung des neuen Menschen“. Die Frage ist ob der Nationalismus notwendig diese tendenzielle Überhöhung des Allgemeinen gegenüber dem Besonderen in sich trägt, auch wenn sein Versprechen eine Allgemeinheit bleibt, welche das Besondere ausdrückt. Wir kommen später darauf zurück, mit der These, dass der Staat (ob nationaler oder sozialistischer Natur) notwendig die Unterwerfung des Individuums verlangt. Zweitens zielt Nationalismus auf das nationale Besondere des Volkes/demos, während linke Erzählungen tendenziell auf die Menschheit ziehen. Der Internationalismus war von jeher der Feind der Nationalist*innen. Diese Tatsache verankert den Nationalismus fest in der rechten Gedankenwelt, die ja gerade in einer Theorie der Ungleichwertigkeit der Menschen fußt, egal ob die Ungleichwertigkeit über Staatsbürgerschaft, Abstammung, Kultur, Geographie oder sonst was konstruiert wird. Nur ein globaler Nationalismus wäre hiermit vereinbar, müsste jedoch seine (wahrscheinlich) konstitutive Unterscheidung der Menschheit in Völker hierbei hinter sich lassen. Die dritte Unterscheidung ist für mich von besonderer Bedeutung: Während die kritische Theorie das Allgemeine meist mit der Gesellschaft gleichsetzt, nimmt das nationale Allgemeine eine besondere Form an: den Staat. Nationalismus verspricht also einen Staat, der den Willen des Volkes ausdrückt. Hobsbawns Formel „Staat=Nation=Volk“ bringt diesen Sachverhalt auf den Punkt.

Nation und Staat

Nationalismus zielt auf die Erringung einer staatlichen Souveränität, die staatlichen Selbstbestimmung einer Nation, eines Volkes.„A nation is a community of sentiment which would adequately manifest itself in a state of its own“ (Weber 1994: 25). Das Verhältnis von Staat und Nationalismus kann hierbei nicht funktionalistisch verkürzt werden, etwa indem eine Erklärung des Nationalismus diesen „ausschließlich funktional aus der (national-)staatlichen Ordnung ableitet und ihn als Herrschaftsinstrument des bürgerlichen Staates betrachtet“ (Mense 2016: 13). Dies wäre eine manipulationstheoretische Verkürzung und würde auch dem Phänomen von ‚Nationen ohne Staat‘ (ob Bask*innen oder Kurd*innen) nicht gerecht werden. Viel eher gilt: Sowohl für Staatsrepräsentant*innen als auch soziale Bewegungen ist es gut begründet die nationale Ideologie einer souveränen Selbstbestimmung des demos zu nutzen, um sich auf die Seite des Gemeinwohls zu stellen. Umgekehrt muss jeder Versuch die Verbindungslinie zwischen Staat und Nationalismus zu durschneiden notwendig scheitern. Die zwei Phänomene gehören zusammen. So ist es durchaus nicht verwunderlich, dass eine kritische Theorie der Nation „mangelndes theoretisches Verständnis“ oder ein „schwaches theoretisches Fundament“ findet (Mense 2016: 11f), denn dasselbe gilt meines Erachtens für eine kritische Theorie des Staates. Wer den Nationalismus kritisieren möchte, kann vom Staat nicht schweigen.

Ich möchte diese These noch zuspitzen. Autor*innen denen es schwer fällt sich abschließend gegenüber dem Nationalismus zu positionieren, da sie feststellen, dass er sowohl rechts als auch links sein kann, dass „die Idee der Nation und Nationalismus […] von Beginn an Ausgrenzung und Gleichberechtigung, Zwang und Emanzipation in sich [vereinte]“ (Mense 2016: 9) sprechen tatsächlich nicht (nur) über den Nationalismus, sondern über den Staat. Man ersetze zur Probe nur im letzten Zitat „Nation und Nationalismus“ mit „Staat“. Das Linke ein ambivalentes Verhältnis zum Staat unterhalten, ist wohl hinreichend bekannt. Somit ist ein ambivalentes Verhältnis zum Nationalismus eigentlich nicht erklärungsbedürftig und nur gemeinsam mit einer Kritik des Staates auflösbar. Natürlich wird die Debatte um Nationalismus und Staat dadurch vereinfacht, dass es um einiges einfacher ist ein Phänomen abzulehnen, welches Ideologien einer ‚Reinheit des Volkes‘ und rassistische Vernichtungspraktiken hervorgebracht hat. In voller Überzeugung können sich kritische Denker*innen negativ auf den Nationalismus beziehen, aber positiv auf den Staat. Der Staat erscheint als neutrales Werkzeug was zur nationalistischen Vernichtungspraxis, aber eben auch zum Schutz von Menschen eingesetzt werden kann.

Staat und Nationalismus sind auch keineswegs gleichzusetzen, allein weil Nationalismus eher eine Denkform bezeichnet und Staat ein soziales Verhältnis. Jedoch gehören sie zusammen. Meine These wäre, dass der Nationalismus die adäquate Gedankenform des partikularen Staates ist – er ist seine Legitimation, vielleicht sein Interesse und mit Sicherheit seine Grenze. Zwar können Staaten Akte der Solidarität, der Menschlichkeit vollbringen indem sie ihr Handeln nicht nach den Bedürfnissen ihres Demos, sondern anderer Menschen ausrichten, doch muss dieses Handeln notwendig die Ausnahme sein. Die Partikularität und damit Nationalität des Staates könnte sich nur in einem Weltstaat aufheben, nach dessen Ideal die Vereinten Nationen in ihren besten Entscheidungen manchmal greifen.  Bis dahin wird der Kampf um den Staat und Handlungen des Staates sich immer in der Einlösung des nationalen Gemeinwohls begründen (wenn ein Kampf oder ein Staat nicht offen seine Partikularität und damit autoritäre Intention vertritt). Noch das kleinste Einzelinteresse kleidet sich in demokratischen Zeiten hoffnungsvoll in den Mantel des Nationalen. Der Nationalismus ist das Versprechen eines Staates, der dem Willen des demos dient.

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