Die Utopie vom Bild zur Wissenschaft
Für die Aprilausgabe von Analyse und Kritik hab ich diesen Text geschrieben:
Kritik bedarf der Utopie, will sie nicht ein bloßes Anschreien gegen Unvermeidliches sein. Was würde eine radikale Kritik an Herrschaft, Staat, Patriarchat und Markt nützen, wenn sie nicht verbunden wäre mit dem Verweis auf die Möglichkeit einer anderen Welt. Doch die Diskussion über Utopie fällt schwer, dies liegt v.a. daran, dass wir keine (meta)theoretischen Angebote haben, wie wir über Utopie streiten könnten. Die kategoriale Utopietheorie versucht hier einen Ausweg anzubieten.
Die gefährliche, gescheiterte Tilgung des Utopischen
Viele Strömungen im Marxismus versuchten die Utopie zu tilgen. Die konkrete Kritik des Bestehenden und das Vertrauen auf die Kämpfe des Proletariats wurden zum Paradigma der Bewegung. Möglich wurde der Abschied von der Utopie durch Fortschrittsoptimismus und eine deterministische Geschichtsphilosophie. Engels begriff den „Sozialismus nicht mehr als zufällige Entdeckung dieses oder jenes genialen Kopfs, sondern als das notwendige Erzeugnis des Kampfes zweier geschichtlich entstandner Klassen“ (Engels, 1880/1973:208). Alexander Neupert-Doppler hat schon in der letzten ak auf Blochs Einschätzung des Sozialdemokraten als „völlig utopieloser Typ ein Sklave der objektiven Tendenz“ (Bloch, Das Prinzip Hoffnung Band 2: 677) hingewiesen. Der Determinismus hat sich theoretisch und historisch blamiert. Wenn wir uns jedoch von diesem „geschichtsphilosophischen Quark“ (Emanuel Kapfinger) trennen, müssen wir uns gleichzeitig fragen, welches Loch dadurch in der kritischen Theorie entsteht. Der Determinismus verband die Praxis des Klassenkampfs mit dem Sozialismus. Wenn wir ihn streichen, müssen wir die Transformation hin zum Kommunismus erneut problematisieren.
Doch dies ist schwer, denn das utopiekritische Paradigma war in einer Hinsicht erfolgreich: Es hat Utopie (und Transformation) weitgehend aus dem emanzipatorischen Diskursraum entfernt. Die Diskussion darüber bleibt innerhalb der Linken marginalisiert. Dies hat den Marxismus jedoch nicht gestärkt, sondern geschwächt. Ein Zuwenig, nicht ein Zuviel an Nachdenken über Utopie und Transformation hat emanzipatorische Versuche verkürzt und vereindeutigt. Autoritäre Institutionen konnten sie (im Namen von Fortschritt und Stabilität) überformen. Die Oktoberrevolution 1918 konnte ihre Strategiediskussionen nicht vor dem Hintergrund einer reichen Diskussion über Möglichkeiten der sozialistischen und kommunistischen Organisierung und der Transformation des Alten führen. Wenn wir das Erbe antreten wollen, müssen wir die Frage der Utopie (Wo wollen wir hin?) und der Transformation (Wie kommen wir dahin?) neu stellen und uns theoretische Instrumente und praktische Räume schaffen, um dies zu tun. Wenn die Überwindung nicht durch die Geschichte verbürgt oder nur in der Eroberung des Staates besteht, müssen wir uns fragen, welche revolutionären Konstruktionsprozesse von Heute aus die Potenz haben könnten, die befreite Gesellschaft herzustellen. Diese Konstruktionsdiskussion bedarf notwendig der Utopie, denn Konstruktionsprozesse können nicht gefasst werden ohne das Ziel, auf das sie abzielen. Utopie ist somit kein Selbstzweck oder Motivationsmittel, sondern die notwendige Bedingung um die Überwindung des Kapitalismus zu denken. Tatsächlich kann der Konstruktionsprozess umso genauer diskutiert werden, je deutlicher die Utopie begriffen ist. Der Utopiediskurs befeuert den Transformationsdiskurs. Es besteht jedoch immer die Gefahr, dass eine verkehrte Utopie auch die Konstruktionsdiskussion in die Irre leitet. So stellt sich die Frage nach den Tücken der Utopie.
Von Bilder- und Denkverboten
Heutzutage wird die Utopie erkenntnis- oder transformationstheoretisch kritisiert, und in beiden Kritiken sind wichtige Einsichten enthalten. In der Transformation dürfen Utopieentwürfe plausibilisierend motivieren, stehen aber gleichzeitig im Verdacht, fehl zu leiten. Sie verhinderten den spontanen, ‚wirklichen‘ Ausdruck der revolutionären Bewegung. An die Stelle des Vertrauens in die objektive Tendenzen der Geschichte ist damit das unbedingte Vertrauen in die Bewegung getreten. Wenn die revolutionären Subjekte kämpfen (und Kapitalismus und Herrschaft „richtig“ verstanden haben), werden sie während der Abschaffung des Kapitalismus befreiende Verhältnisse erschaffen. Dieses Resultat ist möglich, aber unwahrscheinlich. „Stellt man sich die dagegen nicht als das blaue Wunder vor, als etwas, das die Proletarier im Eifer des Gefechts beinahe aus Versehen machen, spontan und ohne jedes vorab gefasste Ziel […] dann scheint eine Verständigung über die Grundzüge einer klassenlosen Gesellschaft allemal sinnvoll“ (Freund*innen der klassenlosen Gesellschaft, Umrisse der Weltcommune, 2018: 32).
Utopie ist nie vollständig, sie kann nicht feststehen, sie verändert sich in der Geschichte und mit Bewegungen, doch ohne eine Utopie können wir nicht einmal die nächsten tastenden Schritte der tatsächlichen Überwindung des Kapitalismus denken, praktizieren oder reflektieren – geschweige denn die weiteren. Eine Reflexion über den Weg bedarf der Reflexion des Ziels. Wenn wir über die Überwindung des Kapitalismus nicht rein negativ sprechen wollen, nur über das, was überwunden werden muss, sondern positiv, über das, was wir aufbauen wollen, benötigen wir die Utopie. Diese fußt auf der Kritik, der Negation, geht aber nicht in ihr auf.
Die Transformation ist auf Utopie angewiesen, was sich auch daran zeigt, dass jeder Versuch der Tilgung des Utopischen notwendig unabgeschlossen bleiben muss. Der Grund dafür ist, dass jeder Befreiungsbewegung Möglichkeiten, Entscheidungen und subjektive Momente innewohnen. Nur widerwillig hat bspw. Marx diesem subjektiven Moment in der „Kritik des Gothaer Programms“ mit der sozialistischen Utopie als der „ersten Phase des Kommunismus“ eine Richtung gewiesen. Und damit die Grundlage für den realsozialistischen Fokus auf die Produktionssteigerung („Jeder nach seiner Leistung“) gelegt.
Erkenntnistheoretisch wird Utopie durch das Bilderverbot kritisiert: „Der Materialismus […] gestattet [nicht], die Utopie positiv auszumalen; das ist der Gehalt seiner Negativität“ (Adorno 1970/2003: 207). Doch ein Bilderverbot ist kein Denkverbot. Adorno (und auch Bloch) sprechen sich gegen eine spezifische Form des Nachdenkens über Utopie aus, nicht gegen utopisches Denken als solches. Die Utopie kann mit Sicherheit nicht auspinselnd beschrieben oder völlig bestimmt werden, sie muss Raum für menschliche Spontanität und spezifische Umstände enthalten. Unsere Utopien sind zudem von den heutigen Zuständen geprägt und damit beschränkt, doch das gilt für jedes Denken. Es gilt einen Diskurs über Utopie zu finden, der die erkenntnistheoretische Kritik aufnimmt, anstatt einfach Utopie als Ganzes zu negieren. Die kategoriale Utopietheorie versucht dies.
Vom Bild zur Wissenschaft
Es gibt grundsätzlich zwei Zugänge zur Utopie, die sich notwendig vermischen: einen Auffindenden und einen Entwerfenden. Die auffindend-praxeologische Utopietheorie versucht utopische Momente in gegenwäritigen und vergangenen Befreiungsversuchen, Kunstprodukte, Idealen etc. aufzudecken, Beispiele sind Ernst Bloch, Adamczak’s Beziehungsweise Revolution oder Habermann’s Ecommony. Die entwerfend-konstruktive Utopietheorie entwirft utopische Gesellschaften, Beispiele sind Owen’s New Harmony, Albert’s Parecon oder unsere commonistische Inklusionsgesellschaft. Ich schätze den praxeologischen Zugang sehr, doch erstens ist dieser meist auch ein implizites Konstruieren und zweitens besteht bei ihm die Gefahr das Bestehende nur eingeschränkt zu sehen. Die entwerfende Utopietheorie lässt neue Blicke zu, hat aber ihre eigenen Tücken, und bis jetzt wurde sie v.a. beschreibend-auspinselnd betrieben:
Das Gros utopischer Entwürfe bewegt sich im Raum der Fantasie, der Bilder und des Beschreibens. Utopische Romane zeichnen uns (spannende) Bilder, wie wir besser leben, re/produzieren und uns global koordinieren könnten. Diese beschreibende Denkform zeichnet sich dadurch aus, dass sie die eigenen Grundlagen nicht offenlegt. Doch auch sie basiert implizit auf Annahmen über Mensch und Gesellschaft, wenn sie menschliche Möglichkeiten beschreiben und nicht bloße Fantasterei betreiben will. Durch die Nicht-Offenlegung der eigenen theoretischen Grundlagen, einschließlich der Unmöglichkeit einer Überprüfung, haftet diesen Utopien notwendig ein Moment von Willkür an: Warum sollte die entworfene herrschaftsfreie Gesellschaft möglich sein? Warum sollten sich Menschen so wie beschrieben verhalten? Auch wenn ich diese utopischen Bilder sehr schätze, bedarf die linke Bewegung eines weiteren utopischen Diskursraums, der auf Basis begründeter Theorie von Mensch und Gesellschaft über die befreite Gesellschaft nachdenkt.
Eine befreite Gesellschaft wird sich von den historischen Gesellschaften grundsätzlich unterscheiden, doch wird es auch Gleiches geben. Sie ist ebenfalls eine menschliche Gesellschaft mit Re/Produktion, Koordination, Verbrauch etc.. In ihr leben noch immer gesellschaftliche Menschen mit Bedürfnissen, Bewusstsein, Empathiefähigkeit etc. Es gibt Theorien, wie die marxistische Geschichtswissenschaft und Anthropologie, die Kritische Psychologie, die philosophische Anthropologie etc., welche versuchen eben diese historisch-übergreifenden Elemente zu begreifen. Sie bestimmen nicht die konkret-historischen Mensch-Gesellschafts-Verhältnisse (bspw. Bürgerliches Subjekt und Kapitalismus), sondern stellen sich der schwierigen Aufgabe, übergreifend-allgemeine Bestimmungen für Mensch und Gesellschaft zu finden. Diese Bestimmungen gewinnen sie aus der kritischen Analyse von vergangenen und gegenwärtigen Gesellschaften, und verschiedener Befreiungsversuche. Ausgehend von diesen Theorien und ihren Kategorien kann über die befreite Gesellschaft nachgedacht werden. Die Utopie wäre dann keine Träumerei und Wunschkonzert mehr, sondern ein Entwurf auf Basis begründeter und diskutierbarer Theorie.
Eine Utopie auf explizierter theoretisch-kategorialer Basis nennen wir kategoriale Utopie. Sie kann nicht konkret beschreiben wie Menschen ‚arbeiten‘ werden, sie kann aber Grundlagen menschlicher Tätigkeiten formulieren, etwa, dass in einer befreiten Gesellschaft niemand zur ‚Arbeit‘ gezwungen werden kann. Sie kann nicht auspinseln, wie Entscheidungen gefällt werden, aber sie kann bspw. darüber nachdenken, ob Rätestrukturen eine herrschaftsfreie Bedürfnisvermittlung erlauben. Übergreifende Theorien und ihre Utopien sind mit Sicherheit fehlerhaft, doch die sich hieraus ergebende Kritik kann Verbesserung erlauben. Über kategoriale Utopien können wir streiten und diskutieren, wir können sie auf ihre Richtigkeit hin befragen. Genau dieser kritische Streit ist die Grundlage des wissenschaftlichen Prozesses. Durch das Entwerfen von Utopien auf einer kategorialen Basis kann die utopische Diskussion zur Wissenschaft werden. Utopiediskussionen sind dann kein Streit mehr darüber, was wir uns nun wünschen, sondern welche Befreiungspotenzen in dem menschlich-gesellschaftlichen Möglichkeitsraum liegen. Ich glaube, dass auch Adorno auf dieser kategorialen Ebene über Utopie spricht, auf Basis der gesellschaftskritisch geschulten Psychoanalyse und der marxistischen Gesellschaftstheorie. Wir hoffen mit der kategorialen Utopie einen Raum zwischen Auspinselei und Bilderverbot zu eröffnen. Es ist ein Raum, der uns hilft menschlich-gesellschaftliche Möglichkeiten und Unmöglichkeiten auszuleuchten, und uns erlaubt, über die Überwindung des Kapitalismus (neu) nachzudenken. Denn ohne Utopie bleibt die Transformation blind.
Hut ab. Ich mag deine Texte ja in letzter Zeit sowieso sehr gerne, aber das ist meiner Ansicht nach der inhaltlich und sprachlich bisher Gelungenste.
Was ich mich bei eurem Ansatz immer ein wenig frage: Utopie ist ja gerade euer Begriff, an dem ihr euch abarbeitet – zumindest wirkt es auf mich so. Aber im Gegensatz etwa zum Begriff „Kommunismus“ ist er ja nicht von zig-hundert negativen Assoziationen überlagert, welche vielleicht aufgelöst werden können, um wieder den positiven Kern herauszuarbeiten, sondern dieser Kern ist eben ein naiver/unmöglicher. Also macht ihr den Begriff der „kategorialen Utopie“ auf und versucht eben mit der KP, der philosophischen Anthropologie etc. eine – ich weiß nicht – mögliche Unmöglichkeit zu finden. Die Frage ist: Wenn ihr eine (prüfbare) Möglichkeit gefunden habt, wie eine befreite/freie Gesellschaft aussehen kann, würde ihr sie weiterhin Utopie nennen oder würdet ihr sie etwa die „mögliche Gesellschaft“ nennen, zu der euch die Beschäftigung mit Utopie geführt hat?
Das klingt jetzt etwas banal, aber interessiert mich tatsächlich.
„Die Oktoberrevolution 1918 konnte ihre Strategiediskussionen nicht vor dem Hintergrund einer reichen Diskussion über Möglichkeiten der sozialistischen und kommunistischen Organisierung und der Transformation des Alten führen.“
wie schon öfters an ähnlicher stelle: das ist historisch glaube ich einfach nicht richtig sondern dieses bild haben wir heute oft, weil die bolschewistischen sieger der oktoberrevolution alle anderen fraktionen unterdrückt und in der folge die linke debatte weltweit dominiert haben. bis zur oktoberrevolution war in vielen ländern und auch global betrachtet der anarchismus die bestimmende strömung des sozialismus und mit ihm kam eine vielfalt genau dieser Diskussion über Organisierung und Transformation. Wie wäre denn sonst der Slogan von 1918/19 „alle Macht den Räten“, der weltweit aufgenommen wurde, zu erklären?
@Marcus: Vielen Dank für das Lob :). Und den Gedanken find ich spannend. Es ist nämlich tatsächlich so, dass sich Utopie leider nahe an Unmöglichkeit liegt und weniger an „objektive Möglichkeit“, darum finde ich den Vorschlag „mögliche Gesellschaft“ sehr spannend. Ich schreib ja gerade am nächsten Buch und da eröffne ich das Utopiekapitel (im Moment) so:
Zitat: „Wir haben noch 10 min um den Zug zu erreichen … “ – „Das ist utopisch“
Utopie ist bei Weitem kein eindeutiger Begriff. Doch in dem
Satz „Das ist utopisch“ stecken zwei Kernassoziationen von Utopie:
1. Utopie als Unmöglichkeit: Wenn etwas utopisch ist, dann ist es nicht wirklich erreichbar, es ist unmöglich. Hierauf verweist auch die sprachliche Herkunft, U-topos ist ein Nicht-Ort.
2. Utopie als Wunsch: Utopie ist wünschenswert, etwas das wir gerne hätten. Zusammengenommen ist Utopie also eine wünschenswerte Unmöglichkeit, ein unerreichbarer Traum.
Wir finden noch ein drittes Element von Utopie. Besonders wenn Utopie für eine andere Gesellschaft steht, für eine andere Wirtschaftsweise, eine andere Produktionsweise, eine andere Form sich global zu koordinieren und Entscheidungen zu fällen:
3. Utopie als Hoffnung. Utopie ist hoffend, sie verbindet Reales und Mögliches. Verweist auf eine Möglichkeit, die viele Menschen vielleicht nicht sehen. Der Bezug zwischen Realität und Möglichkeit ist meist einer von Glauben. Der Glauben verbindet die Möglichkeit mit dem Realen, wer an die Möglichkeit glaubt, für den ist sie real. Hoffnung wäre dann ein Glaube an Möglichkeit. Wenn der Glaube an die Möglichkeit vergeht, stirbt die reale Hoffnung. (noch etwas staksig)
@Benni: Ich hab auch nicht historische Nachforschungen angestellt, aber ich glaube tatsächlich schon, dass dies stimmt. Du könntest Bini fragen, sie hatten ja diese „Reading Red Russian Revolution“ Lesekreis und sie meinte es sei echt zum verzweifeln wie wenig Alternativen man findet.
Die Räte waren tatsächlich eher eine Erfindung der Praxis und wurde glaub ich 1918 noch nicht soviel reflektiert, aber bei Rätekommunismus wollte ich mich nochmal weiter reinlesen, du bist herzliche eingeladen 🙂 Guy Debord schreibt in seiner „Gesellschaft des Spektakels“: „Der Sowjet war kein Produkt der Theorie“
Ich glaube Sozialist*innen haben eben nie viel über Utopie nachgedacht, weil der Sozialismus sowieso kam … mein Lieblingszitat von Kautzky: „Ebenso unvermeidlich und durch die ökonomische Entwicklung mit Naturnotwendigkeit herbeigeführt, wie das Erstehen der Arbeiterbewegung ist die Bildung einer Arbeiterpartei. Nicht minder unvermeidlich aber ist es, daß diese schließlich den Sieg über die anderen Parteien davontragen wird. […] Wer die Sozialdemokratie widerlegen will, muß die heutige Wirklichkeit widerlegen“ (Kautzky/Schönlank, 1892).
Wie wenig Gedanken sich große deutsche Revolutionäre über die Zeit nach einer Revolution gemacht haben, sieht man auch an Karl Liebknecht.Am Vormittag des 9. November 1918 waren bewaffnete Demonstrationszüge der Arbeiter, die von den Revolutionären Obleuten organisiert waren, von den Fabriken in die Berliner Innenstadt gezogen. Die Aufständischen stürmten das Depot der Straßenbahnen, die Maikäferkaserne und die Blücherkaserne. Sie öffneten die Gefängnistore von Moabit und des Strafgefängnisses in Tegel, dann versammelten sie sich in der Innenstadt vor dem Berliner Schloss. Dort hielt Karl Liebknecht eine Rede, in der er sagte: „Ich proklamiere die freie sozialistische Republik Deutschland, die alle Stämme umfassen soll, in der es keine Knechte mehr geben wird, in der jeder ehrliche Arbeiter den ehrlichen Lohn seiner Arbeit finden wird. Die Herrschaft des Kapitalismus, der Europa in ein Leichenfeld verwandelt hat, ist gebrochen.“ (zitiert nach: Richard Müller, Eine Geschichte der Novemberrevolution, Nachdruck 2011, S. 242.)Karl Liebknecht behauptete, „die Herrschaft des Kapitals sei gebrochen“, aber gleichzeitig versprach er, dass in Zukunft die Lohnarbeit weiterbestehen werde. Für mich macht das keinen Sinn. Lohnarbeit ist das Grundelement des Kapitalismus. Wir können nicht den Kapitalismus beseitigen wollen, aber die Lohnarbeit weiter bestehen lassen.Davon abgesehen: Die Revolution in Berlin war gerade mal wenige Stunden alt, der Kaiser hatte noch nicht abgedankt. Die amtierende Regierung hatte sich zwar verkrochen, aber war noch nicht gestürzt und durch eine Revolutionsregierung ersetzt worden. Und da meinte Liebknecht, „die Herrschaft des Kapitals sei gebrochen“? Die Herrschaft des Kapitals liegt nicht in einem Regierungsamt, sondern in der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel, also in ihrer Leitung der Produktion.Ich frage mich, ob Karl Liebknecht tatsächlich verstanden hatte, was an diesem Tag in Berlin vorsichging.
@simon: Die Debatte um den Anarchosyndikalismus z.B. hat schon lange vor dem Krieg angefangen: https://de.wikipedia.org/wiki/Internationaler_anarchistischer_Kongress_in_Amsterdam auch andere anarchistische Strömungen hatten ja Transformationskonzepte (und darum gings ja, nicht um Utopie).
Diese Ebene bedeutet aber eine Anhäufung von Idealvorstellungen und Absichtserklärungen. Wenn man es „auspinseln“ nennt, wenn man ein Konzept entwirft, wie Entscheidungen gefällt werden – ja wie will man da jemals anfangen, etwas zu verändern. Außer schönen Worten, was man gerne hätte, hat man sich dann auf so ziemlich nichts geeinigt. Ein so abstrakter Diskurs bringt also nichts, ist auch schon jahrzehntelang betrieben worden.
Es kommt nicht viel mehr bei so einer limitierten Debatte heraus als hehre Formulierungen wie etwa im Grundgesetz. Da wissen wir auch, was sie wert sind. Wenn man nicht die Praxis dazu konzipiert – und über solche Konzepte streitet – wird man nie was umsetzen können.
Die frühen Sozialisten haben sich noch was getraut: sie haben, so wie Owen, tatsächlich Strukturen benannt, die eine Umsetzung ihrer Ideale ermöglichen sollten. Das kann man diskutieren und bewerten.
Heutige Sozialisten aber bleiben auf der Ideal-Ebene (es gibt kaum Ausnahmen) und haben nicht den Schneid oder nicht den Sachverstand, Vorschläge zu machen, wie Ökonomie und Entscheidungsstrukturen ganz real aussehen könnten, um den hohen Absichten auch nur halbwegs gerecht werden zu können. So stehen sie als ewige Besserwisser da, aber sie sind keine, sie sind nur Besserwoller. Das reicht aber nicht.
Ich bin selbst nicht sicher, deswegen sind das schon alles ernst gemeinte Fragen, keine rhetorischen.
Verstehe ich nicht. Soll uns die „befreite Gesellschaft“ von der Produktionssteigerung befreien, weil es in Folge der Oktoberrevolution (dessen Erbe anzutreten ja erklärtes Ziel ist) zu viel davon gab? Oder soll sie davon davon befreien, Leistungen belohnen zu müssen?
„Befreite Gesellschaft“ bedeutet m.E. primär, dass man nicht mehr gezwungen ist, für fremden Reichtum zu arbeiten. Und dass man außerdem über seine Arbeitszeit entscheiden kann. Wer weniger arbeiten möchte, kann dies tun, z.B. wenn ihm weitere Lebenszeit wichtiger ist als mehr Leistungen der Gesellschaft in Anspruch zu nehmen. Die Losung „Jedem nach seiner Leistung“ macht auf diese Weise Sinn, ist aber sozialdemokratisch und realsozialistisch leider als Rechtfertigung von Lohngefälle (bei gleichem Stundentag!) eingesetzt worden.Wenn jeder die Beschränkung seines individuellen Konsums akzeptiert, die seiner geleisteten Arbeitszeit entspricht, dann sind abstrakte Ziele wie „Produktionssteigerung“ (durch mehr Arbeit) gegenstandslos.
@simon: Fand den Text auch spannend und beinahe überzeugend. Nach etwas sacken-lassen kann ich aber leider nur einen ernüchternden Kommentar schreiben: Kategoriale Utopien würden stehen und fallen mit der Stichhaltigkeit ihrer Grundlagen. Anthropologie und Psychologie sind zwar thematisch passend, aber ich habe ganz erheblich Zweifel, ob sich aus gerade Diesen die zweifelsfreien hard-facts ziehen lassen, die eine klar strukturierte und zielführende Debatte über eine universale Utopie oder ‚mögliche Gesellschaft‘ ermöglichen. Bessere fielen mir zudem auch nicht ein. Im übrigen glaube ich nicht das Adorno so etwas vorschwebte, sondern vielmehr, dass er konkret ’negative Kritik‘ an die Stelle von Utopie setzte … muss ich nochmal nachschlagen. Das halte ich auch immer noch für die bessere Variante. Das Bilderverbot seh ich in unserer von Utopien und Dystopien berstenden Medienlandschaft nicht als Problem. LG