Welcher Bruch mit welchen Verhältnissen? Über Begrenzungen und Perspektiven alternativökonomischer und nicht-kommerzieller Praxen
[alle Texte der Broschüre „ich tausch nicht mehr – ich will mein Leben zurück“]
Für die Entwicklung einer emanzipativen Praxis ist Wissen und Reflexion über die gesellschaftlichen Strukturen von entscheidender Bedeutung. Denn sie geben das Handlungsfeld vor, auf dem wir uns bewegen. Ein Verständnis der gesellschaftlichen Verhältnisse hilft, Fallstricke zu vermeiden, Widersprüche zu begreifen und sie damit prozessierbar zu machen. Davon ausgehend hilft ein solches Strukturwissen auch, emanzipative Potentiale oder Beschränkungen von Praxen zu reflektieren und zu entschlüsseln:
- In welchen Bereichen gibt es einen fundamentalen Bruch mit den gängigen Logiken und Strukturen, so dass Denkmöglichkeiten, Handlungsperspektiven und Wege für eine ganz andere Vergesellschaftung eröffnet werden?
- Wo werden gesellschaftliche Strukturen und Handlungslogiken nicht hinterfragt, werden nur Teilaspekte kritisiert (wie bspw. der Zins, die Finanzspekulation, der Zwischenhandel oder die Marktmacht von multinationalen Konzernen), die für das wirkliche Problem gehalten und damit (unbewusst) Bestehendes fortgesetzt werden oder sogar eine Praxis entwickelt, die emanzipativen Veränderungen letztlich im Wege steht?
In einem ersten Schritt werden wir kurz unsere theoretische Perspektive vorstellen, um darauf aufbauend ein grobes Raster zur Bewertung alternativer gesellschaftlicher Praxen zu entwerfen. In einem zweiten Schritt werden wir ausgewählte alternative Praxen – fokussiert auf den Bereich der Produktion und Verteilung von Nahrungsmitteln – anhand dieses Schemas beurteilen. Wir wollen hierbei sowohl zeigen, was wir gut finden, als auch, was uns zu kurz kommt bzw. für uns unzulänglich bleibt. Daraus ergibt sich für uns, dass im Vergleich gerade nicht-kommerzielle Handlungsansätze ein größeres emanzipatives Potential aufweisen als andere alternative Praxen.
Für ein Verständnis der Funktionsweise des Kapitalismus und damit für eine Annäherung an die komplexe Realität, bietet sich unserer Meinung nach besonders die theoretische Perspektive der Wertkritik an. Sie begreift den Kapitalismus als historisch-spezifisches, gesellschaftliches, also vom Menschen gemachtes und durch sein Tun täglich (re)produziertes System. Dessen einzelne Teile stehen in spezifischen Verbindungen zueinander und bedingen sich gegenseitig. Insofern greift es zu kurz, einfach ein einzelnes, als problematisch empfundenes Element herauszugreifen, um infolge dessen die negativen Aspekte, welche von diesem Element auszugehen scheinen, durch die eigenen alternativen Praxen zu adressieren. Doch genau dies geschieht sowohl theoretisch als auch praktisch, wenn etwa nur spezifische Entwicklungen im Finanzsektor kritisiert werden oder geglaubt wird, durch ein Regionalgeld grundlegendere Probleme lösen zu können. Den Gesamtzusammenhang – die gesellschaftliche Totalität – in der Analyse zu vernachlässigen hat zur Folge, nur Symptome zu bekämpfen, letztlich aber nicht über einen bestimmten Rahmen hinauskommen zu können. Diese Perspektive des fundamentalen Bruchs braucht es aber, damit im alltäglichen Handgemenge grundsätzliche Kritik und Vorstellungen einer ganz anderen Vergesellschaftung nicht verloren gehen, sondern sichtbar bleiben. Ebene jene Perspektive einer befreiten Gesellschaft, die es ermöglicht, menschenwürdige soziale Beziehungen und verlässliche bedürfnisorientierte Strukturen der Reproduktion aufzubauen.
Was sind nun die wesentlichen Systemelemente, welche die kapitalistische Gesellschaft ausmachen und mit denen eine emanzipative Praxis brechen muss?
Was sind nun die wesentlichen Systemelemente, welche die kapitalistische Gesellschaft ausmachen und mit denen eine emanzipative Praxis brechen muss? Es sind dies der Wert, dessen Erscheinungsform, das Geld, der Tausch, der Preis, die Lohnarbeit, die Konkurrenz, der Profit, das Privateigentum etc., um bei den ökonomischen Systembausteinen zu bleiben. Alles oder nichts, so lautet in letzter Konsequenz das wertkritische Credo. Emanzipatives Handeln, welches seinem Wortgehalt gerecht werden will, kann nur gegen all diese Kategorien des Kapitalismus erfolgen, um erfolgreich zu sein. Sie stellen somit die Kriterien zur Beurteilung des emanzipativen „Gehaltes“ von alternativen Praxen dar. Mit dem Fokus auf den Bereich der Nahrungsmittel sollen im Folgenden Potentiale und Beschränkungen von verschiedenen Praxen untersucht werden.
Aus einer Unzufriedenheit mit der Form der Nahrungsmittelproduktion sind in den letzten Jahren verstärkt Food-Coops entstanden. Sie schaffen eine gewisse Form der kollektiven Selbstorganisation und verändern durch den direkten Kontakt zwischen Konsument_innen und Produzent_innen die gängigen Handelsbeziehungen. In den meisten Food-Coops bleiben jedoch grundlegende Markt- und Geldbeziehungen unangetastet: Profitorientierung, Konkurrenz und der Akkumulations- und Wachstumszwang der Produzent_innen werden praktisch nicht in Frage gestellt. Selbiges gilt für die Produktionsstrukturen, denn die Produktionsmittel bleiben weiter in den Händen der privaten Produzent_innen. Hieraus ergibt sich vorerst auch, dass jene, welche kein oder zu wenig Geld zur Verfügung haben, um die (Bio-)Lebensmittel über das Kollektiv zu beziehen, faktisch ausgeschlossen bleiben. Food-Coops sind damit häufig Mittelschichtsphänomene und lassen sich auch wunderbar in den kapitalistischen Lebensalltag integrieren, ohne an grundlegenden Systemmerkmalen zu rütteln.
Spannend wird es jedoch in jenen Kollektiven, wo weiter gedacht wird: Eine freie Preispolitik für Lebensmittel schafft Denkanstöße und kann Ausschlüsse potentiell verringern. Eine Kooperation mit CSA-Höfen verstärkt diesen Bruch. Nun sind die Konsument_innen ganz aktiv in die Planung und teils auch Produktion der Lebensmittel eingebunden. Die Unsicherheit der (Re-)Produktion[1] wird kooperativ auf mehrere Schultern verteilt und reduziert. Akkumulation und Gewinnerwirtschaftung steht dezidiert nicht mehr im Mittelpunkt, sondern Lebensmittelversorgung, Produktionssicherheit, Fairness und Empathie. Ein Manko hingegen ist, dass in den meisten Fällen der Hof in den Händen der Bäuerinnen und Bauern bleibt; eine Vergesellschaftung der Produktionsmittel wird nicht angestrebt. Damit sind sowohl die Produzent_innen als auch die Konsument_innen – faktisch bleibt diese Unterscheidung und das damit einhergehende Machtungleichgewicht trotz der Verwischung bestehen – auf ihre je individuellen Geldeinkommen angewiesen. Der CSA-Hof muss seine Erzeugnisse nach wie vor „verkaufen“, um so Produktionskosten und Lohn abdecken zu können; die Konsument_innen müssen genug Geldeinkommen erzielen, um deren Produkte erwerben zu können. Das System von Lohnarbeit und der individuelle Verwertungszwang auf dem Markt werden letztlich (auch in diesem kleinen Rahmen) nicht wirklich angetastet.
Nicht-Kommerzielle Landwirtschaft (NKL)[2] begegnet diesen Problemstellungen und bricht weitreichender mit grundlegenden Systemmerkmalen. Logiken der Profitmaximierung und Konkurrenz, der Lohnarbeit bzw. der Arbeit als Selbstzweck sowie der Wachstumszwang fallen weg. Andere soziale Beziehungen[3] werden möglich, da kein direkter Tauschzwang (z.B. gegen Arbeitszeit oder Geld) besteht, um Produkte zu erhalten. Eine Verteilung der Produktion kann wirklich ausgehend von Bedürfnissen erfolgen, da sie nicht an Gegenleistungen gebunden ist.[4] Der geringere Geldbedarf bei einer breiteren Existenz von NKL verringert potentiell den (individuellen) Verwertungszwang und schafft mehr Raum, Zeit und Energie, was in anderes als die direkte Existenzsicherung gesteckt werden kann. Und dies ist zentral, denn egal ob CSA oder NKL, es bleiben erstmal Nischenprojekte, die nur geringe Teile des Bedarfs an Gütern abdecken können. Ihr Pfund ist derweil vor allem symbolisch, indem sie einen eindeutigen, weitreichenden Bruch mit dem Status Quo vornehmen und dadurch Wege öffnen. Eine fundamentale Kritik und Perspektive schützt hierbei vor Vereinnahmungen und Versuchen, eben jene alternativen Projekte zu instrumentalisieren, systemkonform zu adaptieren und damit die Risse im System zu kitten.[5]
Ihr Pfund ist derweil vor allem symbolisch, indem sie einen eindeutigen, weitreichenden Bruch mit dem Status Quo vornehmen und dadurch Wege öffnen.
Ein nicht-kommerzieller Ansatz scheint am ehesten geeignet, um eine radikale Kritik an den herrschenden Verhältnissen zu verdeutlichen und auch im Alltag plastisch erlebbar zu machen. Zentral ist hier der Aspekt der Bedürfnisorientierung von Produktion und Tätigkeiten. Wenn Arbeit nicht mehr zuvorderst über die Geldform bewertet wird, werden andere notwendige, sonst häufig unsichtbare – weil unbezahlte – Tätigkeiten wie
Reproduktionsarbeiten sichtbar. Und damit zwangsläufig auch die historisch gewachsene ungleiche Aufteilung dieser Arbeiten anhand der Geschlechterachse. Eine Kritik der Arbeit und die Neuaufteilung von notwendigen Tätigkeiten durch die Reflexion und das bewusste Verlernen von Geschlechterrollen sind also sehr naheliegend und können ganz konkret Machtverhältnisse verringern.[6]
Bei der Diskussion von NKL wird jedoch auch deutlich, dass die Widersprüche nicht aufgelöst werden (können). Ein Beispiel: Da kein Geld durch die Produktion reinkommt, bedarf es Geld von anderer Seite, um den Alltag im Kapitalismus zu bewältigen. Es gibt eine Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen, Förderungen und der Sympathie von Spender_innen.[7] Diese Widersprüche gilt es offen zu benennen; es gilt von jenen Projekten zu lernen, die sie anders bearbeiten und es gilt, sich gegenseitig zu unterstützen, um so den Bruch mit den herrschenden Zuständen zu vertiefen, auf anderen Wegen vielleicht, aber mit einem gemeinsamen Orientierungsrahmen.
Aus dem Verlangen nach keinen Chef_innen und Autonomie wird die flexible, belastbare, kreative und selbstausbeuterische Ich-AG
Ein gemeinsamer Orientierungsrahmen bedeutet dabei nicht „anything goes“ was irgendwie eine andere Welt will. Das emanzipative Potential von Praxen muss immer wieder abgeklopft werden, was in dem einen Moment vielleicht noch gesellschaftlich subversiv ist, ist in dem anderen schon funktional und wird umgedeutet und vereinnahmt zugunsten der Dynamik, Modernisierung, Anpassung und Aufrechterhaltung des kapitalistischen Status Quo. Aus dem Verlangen nach keinen Chef_innen und Autonomie wird die flexible, belastbare, kreative und selbstausbeuterische Ich-AG; auf die Forderung nach „guter Arbeit“ (im Sinne von mehr Unabhängigkeit, Selbstständigkeit und Flexibilität am Arbeitsplatz) folgen „Rund-um-die-Uhr“-Verantwortung, Dauerstress und Burn-Out; in Anlehnung an Couchsurfing und nichtkommerzielle Nutzungsgemeinschaften entwickelt sich der aufstrebende milliardenschwere Businesszweig „Sharing Economy“; Umsonstläden und andere solidarökonomische Initiativen werden von staatlichen Behörden in ihre Strategien der Armutsverwaltung integriert; selbst das sonst so beschauliche nachbarschaftliche Urban Gardening dient schon als Folie für kommerzielle Start-ups, um nur einige Beispiele und widersprüchliche Trends der letzten Jahrzehnte zu nennen. Eine klare Positionierung und ein klarer Bruch mit den alltäglichen Unzumutbarkeiten hilft jedoch, resistenter gegen Vereinnahmungen zu sein und vor allem, eine emanzipative Perspektive nicht aus den Augen zu verlieren. Diese Perspektive des fundamentalen Bruchs ist deshalb notwendig, um Wege zu erkennen und neu zu schaffen.
Über die Notwendigkeit eines gemeinsamen Orientierungsrahmens
Es gibt nicht „den einen“ Kampf. Ausgehend von existenzieller Notwendigkeit, spezifischer sozialer Position und spezifischem Handlungskontext haben soziale Kämpfe einen anderen Fokus und eine andere Ausprägung. Damit Kämpfe nicht zerfasern und sich in kleinen Projekten verlieren, braucht es jedoch Verständigungsprozesse, die einen gemeinsamen Orientierungsrahmen für eine Bewegung aufbauen, die das Ziel hat, das „warenproduzierende Patriarchat“ aufzuheben. Dies bedeutet auch in einer theoretischen Perspektive, Differenzen, Privilegien und Positionen zu reflektieren und ernst zu nehmen, aber dabei nicht grundlegende gesellschaftliche Strukturkategorien außer Acht zu lassen. Die Perspektive wäre also, sowohl Prozesse der kollektiven und individuellen Ermächtigung voranzutreiben, aber eben auch die Logiken sachlicher Herrschaft anzugreifen, die „stummen Zwänge der Verhältnisse“, die sich kaum in persönlichen Herrschaftsverhältnissen ausdrücken. So können sich Kämpfe und Projekte aufeinander beziehen und ausgehend von den spezifischen Erfahrungen von Leid und Unterdrückung entdecken, wie – auch auf einer abstrakten Ebene – diese zusammenhängen, um die Strukturen aufzuheben, die sie bedingen.
Fußnoten
- 1. z.B.: Ernteausfälle oder Krankheiten der Bäuer_innen
- 2. Mehr zu den Anfängen der NKL ist im Text Warum entwickeln sich NK-Aktivitäten im Umfeld der PAG?
- 3. Mehr zum Potenzial von anderen sozialen Beziehungen findet sich im Beitrag Wie(so) ich mich an die NKL ranrobbte
- 4. Das Zweischneidige in der Bedürfnisorientierung behandelt der Text Bedürfnisse statt Waren – geht das so einfach?
- 5. Zur Gefahr der Vereinnahmung durch den Kapitalismus siehe auch Unsere NK-Projekte sind die Keimform einer utopischen Gesellschaft – sind sie das?
- 6. Mit der Geschlechterfrage beschäftigt sich auch folgender Text „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile oder: Die Revolution beginnt im Garten“
- 7. Zur Rolle von Spender*innen bei NK-Projekten gibt es hier Futter: „Zwei machen sich Gedanken…“ Ein Gespräch über NK & Charity
Autor*innenbeschreibung:
Karel lebt und arbeitet in und rund um Linz und Wien.
raph lebt und arbeitet als prekärer Wissensarbeiter in Wien. Angeregt durch Aufenthalte in Zentral- und Südamerika beschäftigt er sich vor allem mit Möglichkeiten, kollektiv und solidarisch die Gestaltung des Lebens(-raumes) wieder in die eigenen Hände zu bekommen. Umsonstökonomie, Urban Commons und das Recht auf Stadt sind dabei wichtige Bezugspunkte.