Unsere NK-Projekte sind die Keimform einer utopischen Gesellschaft – sind sie das?
[alle Texte der Broschüre „ich tausch nicht mehr – ich will mein Leben zurück“]
Es tut gut, sich in einem solidarischen Netzwerk zu begegnen, d.h. mit Menschen in einem Zusammenhang zu sein, in dem alle geben und nehmen, ohne zu tauschen, ohne aufzurechnen, einfach weil es menschliche Gesten sind. Geld und Besitz sind unwichtig.
Es ist eine Vision, wie die Welt anders aussehen könnte – keine Konkurrenz, kein Raub, keine Ausbeutung. Wie schön, dies im Kleinen zu leben und damit die Vision zu haben, dass dies eine Keimform[1] ist, aus der sich andere gesellschaftliche, antikapitalistische Verhältnisse entwickeln können.
Aber dann kommen meine Zweifel. Und ich frage mich, ob unsere NK-Experimente wirklich eine emanzipative Ausrichtung haben oder ob sie nur Lückenbüßer sind, die Defizite kompensieren, die die Umbrüche in der gegenwärtigen kapitalistischen Neuausrichtung mit sich bringen. Wir erleben alle, wie die soziale Versorgung abgebaut oder in profitorientierte Unternehmen übergeben wird, die Löhne weiter sinken, Verarmung und Ausgrenzung auch hier zunehmen.
Ich denke, unsere NK-Experimente sind ebenso wie viele andere Initiativen, – allgemein unter commons gefasst – bewusst oder unbewusst Antwort auf die derzeitige Situation. Allen ist gemeinsam, dass sie jenseits von Markt und Staat eine alternative solidarische Wirtschaftsform entwickeln wollen.
Viele argumentieren, dass der Kapitalismus seine Glaubwürdigkeit verspielt hat, die Endlichkeit von Ausbeutung durch Ressourcenverknappung, Klimakatastrophe, Verarmung und Hungersnöten sichtbar wird. Und sie sehen darin die Chance auf grundsätzliche gesellschaftliche Veränderungen.
Aber auch Akteure in Unternehmen und der Politik haben den Vorteil der Commons, des Ehrenamts, der unbezahlten Arbeit entdeckt. Wenn die Zivilgesellschaft die Verantwortung für Nachhaltigkeit und Versorgung übernimmt, können die großen Unternehmen weiterhin ungehindert Mensch und Natur ausbeuten.
In Großbritannien macht David Cameron[2] mit dem Schlagwort „big society“ Werbung für ehrenamtliche Arbeit. Bisher staatlich organisierte Bereiche im Bildungs-, Pflege- und Gesundheitssektor sollen an die Zivilgesellschaft als ehrenamtliche Tätigkeiten übertragen werden, d.h. bisher bezahlte Arbeit soll auf Freiwilligenbasis und unbezahlt weiter geleistet werden.
Dies ist ein Modell, das im Zuge der Kürzungen von Sozialleistungen auch hier Schule machen wird. Die Bundesregierung hat den Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE 15) eingesetzt, der u. a.die Aufgabe hat, “den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft und die wirtschaftliche Entwicklung in einer integrierten Art und Weise sowohl in Deutschland als auch international voran zu bringen”. Dazu hat der RNE die „‚Werkstatt N‘ ins Leben gerufen, um das vielfältige zivilgesellschaftliche Engagement für eine nachhaltige Gestaltung unserer Gesellschaft zu bündeln und öffentlich sichtbar zu machen.“
Als „Nächste Schritte, Aktivitäten oder Meilensteine für die Zukunft“ schlägt Werkstatt N vor: „Aufmerksamkeit auf nicht-kommerzielle Tätigkeiten und Aktivitäten lenken, deren Bedeutung für eine nachhaltige Gesellschaft aufzeigen; Subsistenzorientierung fördern und anerkennen. Wünsche an den gesellschaftlich-politischen Rahmen: Die Förderung nicht-kommerzieller, also subsistenzorientierter Räume (Infrastrukturen) und Tätigkeiten. Mehr Aufmerksamkeit und Wertschätzung für diese ‚andere Ökonomie‘“.[3]
Weiter der RNE: „Wir sind davon überzeugt, dass aus der Zusammenarbeit von Wirtschaft und Zivilgesellschaft genau die Schubkraft entsteht, die auf dem Weg in die nachhaltige Gesellschaft benötigt wird und von der alle Seiten profitieren.“
In all diesen Überlegungen geht es nicht darum, den Kapitalismus durch ein anderes Wirtschaftsmodell zu ersetzen – ohne weitere Zerstörung und Ausbeutung –, sondern ihn zu erhalten und zu modernisieren.
Seit Bestehen des Kapitalismus ist unbezahlte Arbeit zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendiger Bestandteil kapitalistischer Gesellschaften.[4] Abgewertet, als Nicht-Arbeit deklariert, war dies die Aufgabe der (Haus-)Frauen. Heute wird von „Care-Ökonomie“ gesprochen. Ein Teil der Versorgung wird in private Unternehmen überführt, in bezahlte Dienstleistungen, die sich nicht einmal die leisten können, die sie verrichten. Ein anderer Teil verbleibt in familiärer unbezahlter Arbeit – nach wie vor überwiegend Frauensache – oder wird von Commons-Stukturen übernommen.[5]
Nicht kommerzielle Praxen sind also nicht per se antikapitalistisch, sondern können Steigbügelhalter für eine neue Epoche des Kapitalismus sein.
Nicht kommerzielle Praxen sind also nicht per se antikapitalistisch, sondern können Steigbügelhalter für eine neue Epoche des Kapitalismus sein, indem sie dazu beitragen, folgende Funktionen in der kapitalistischen Neuausrichtung zu erfüllen:
- Lohnkosten und Sozialausgaben senken, da sich Menschen über ehrenamtliche Versorgung und „Schenkökonomie“ teilweise reproduzieren können.
- Auffangbecken für Ausgegrenzte und Unzufriedene zu sein und eine Alternative zum Rebellieren bieten
- den großen Firmen Ressourcenvernutzung ermöglichen, weil die Zivilgesellschaften sich um die Verantwortung und Umsetzung von Nachhaltigkeit kümmern, damit nicht alles völlig zum Kippen kommt.
- und ganz wichtig: Funktionalität und Fähigkeiten von Menschen aufrecht erhalten und weiter entwickeln, so dass sie als Arbeitskräfte für den kapitalistischen Markt zu Verfügung stehen, ohne dass Staat und Unternehmer für die Reproduktion aufkommen müssen.
Die bestehenden kapitalistischen Strukturen können legitimiert werden, denn wir bieten ja Lösungen an.
Aus der Geschichte haben wir gelernt, dass es der kapitalistischen Logik und Dynamik entspricht, gesellschaftlich widerständig entwickelte Praxen zu vereinnahmen.
Ich erinnere mich an die Euphorie, mit der viele von uns in der BRD in den 70gern Arbeitskollektive als Gegenentwurf zur kapitalistischen Ökonomie entwickelt haben: ohne Chef, gleicher Lohn für Alle, keine Hierarchie, keine Arbeitsteilung. So sollten die neuen Produktionsweisen in einer antikapitalistischen Gesellschaft aussehen und sich ausweiten! Es war für die Großunternehmen ein lukratives Modell, einen Teil der Produktion in Kleinbetriebe auszulagern und diese Produkte viel preiswerter einzukaufen, als sie selbst herzustellen. Wenn die Kleinbetriebe ihre Produkte auf dem Markt verkaufen wollten, mussten sie konkurrenzfähig sein. So viel und für so wenig Geld wie in alternativen Betrieben wurde in keinem Unternehmen gearbeitet. Die Abhängigkeit vom Markt hat die Illusion einer unabhängigen Wirtschaft zunichte gemacht. Viele Kollektive haben aufgegeben oder doch Arbeitsteilung eingeführt, um konkurrenzfähig zu sein und damit setzten sich Hierarchien und Lohnunterschiede durch. Teilweise entstanden große private Unternehmen daraus, wie zum Beispiel „Zapf“[6]. Die in den Kollektiven erworbenen Kompetenzen ließen sich wunderbar in neoliberale Ansprüche überführen: Teamgeist, Identifikation mit dem Betrieb, Aufhebung von Arbeit und Privatleben, jederzeit abrufbar zu sein und Verantwortung für den Betrieb übernehmen, Selbstmanagement.
Die in den Kollektiven erworbenen Kompetenzen ließen sich wunderbar in neoliberale Ansprüche überführen: Teamgeist, Identifikation mit dem Betrieb, …
Auch die NK-Projekte sind in Marktbeziehungen eingebettet. Wir brauchen Geld für unsere Projekte und unsere Existenz. Das bekommen wir entweder durch eigene Lohnarbeit, durch Transferleistung oder durch die Lohnarbeit oder unternehmerische Aktivitäten anderer.[7] Konkret und im Moment sind unsere Experimente möglich, weil wir in gesicherten Positionen leben, unsere Experimente aus Überschüssen finanzieren. Und vergessen wir dabei, dass diese Möglichkeit, unsere Ressourcen hier auf massenhafter Ausbeutung von Rohstoffen und Arbeitskräften im globalen Süden beruhen, auf Vertreibung, Mord, Versklavung, Krieg?
Und wie soll Veränderung geschehen, wenn sie nicht gelebt, ausprobiert und entwickelt wird?
Ich finde es wichtig, dass wir ein Bewusstsein davon haben, dass unsere Experimente zwiespältig sind. Das stellt sie aber nicht infrage.
Die Erfahrung von Solidarität ist ein stärkendes Lebensgefühl gegen die Brutalität der gesellschaftlichen Entwicklungen. Und wie soll Veränderung geschehen, wenn sie nicht gelebt, ausprobiert und entwickelt wird? Wir selbst können innerhalb unserer Experimente solidarische Haltungen erlernen und anderen Menschen praktische Beispiele geben. Aus den Fehlern, die wir dabei machen, können wir lernen und die Erfahrungen können auch in weiteren Kämpfen eine wichtige Rolle spielen. Der Kapitalismus wird nicht im Kopf abgeschafft! Aber wenn wir in der Selbstbeschränkung unserer alternativen Inseln bleiben, kann das schnell in eine andere Richtung gehen. Ich denke, NK als emanzipatives Projekt hat nur dann eine Chance, wenn es sich von Anfang an widerständig verortet, d.h. sowohl im Inneren sensibel ist für Herrschaftsmechanismen, sich immer wieder auf Sexismus, Rassismus, Nationalismus, Ausgrenzungen hinterfragt, sich andererseits an den sozialen Widerstand anbindet, nicht als einzelne Person, sondern als Netzwerk.[8]
Der Kapitalismus wird nicht im Kopf abgeschafft!
Und was wir heute als widerständig sehen, kann morgen schon wieder Teil einer Herrschaft sein. So sollten wir auch unsere Experimente ständig daraufhin überprüfen, wie wir im gesellschaftlichen Rahmen wirken, entsprechende Fragestellungen entwickeln, uns selbst auf Anpassungsleistungen hinterfragen.
Fußnoten
- 1. Siehe auch Keimform und gesellschaftliche Transformation
- 2. Aktueller britischer Premierminister (Juli 2015)
- 3. http://www.werkstatt-n.de/projekte/wanderausstellung-wovon-menschen-
leben-mit-buch-und-dvd - 4. die Lohnkosten richten sich danach, was es braucht, um die Arbeitskraft herzustellen und zu erhalten, entsprechend dem kulturellen Standard
- 5. Vergleiche auch hierzu den Artikel Ecommony
- 6. Zapf-Umzüge, grosses Berliner Umzugsunternehmen
- 7. Siehe Weitergehend Zur Finanzierung von NK-Projekten
- 8. Eine weitere Auseinandersetzung mit der Widerständigkeit von NK-Praxen bietet auch der Zur gesellschaftlichen Wirkung von NK-Projekten
Autor*innenbeschreibung
Christine, Jahrgang 1946, seit Anfang der 70er ist sie in westdeutschen autonomen FrauenLesben-Zusammenhängen aktiv, fühlte sich den Spontis nah und hielt wenig von politischer Arbeit in Institutionen. Sie ist Teil des NK-Netzwerkes und der Sissi-Gruppe in Wukania.