Hegelsche Dialektik
Im Mai 2013 fand in Hiddinghausen ein Seminar zur gesellschaftlichen Transformation statt. Meine Vorträge stelle ich nach und nach online zur Verfügung. Los geht’s mit einer »ersten Hinführung zur Hegelschen Dialektik« als Slidecast (Folien [PDF|ODP) plus Audio [OGG|MP3]).
Es sei ein spontaner Einwand an der Stelle erlaubt:
Nichts weglassen zu wollen erscheint mir als ein ganz verrücktes Unterfangen. Das Wesen von Bewegung bzw. Entwicklungspotenzial (der Bedeutungen) eines Gegenstandes erfassen zu wollen geht ja nun einmal nicht ohne Weglassen dessen, was man augenblicklich für unwesentlich hält.
Zum Beispiel bei der Erfassung der „Bedeutung der Arbeit für die Menschwerdng des Affen“ hält Engels (und mit ihm Marx) für wesentlich, dass Menschen sich von den anderen Tieren durch die Fähigkeit unterscheiden, einen Nutzen (Schaden oder ein Risiko) für andere gezielt (das Ergebnis im Kopf bewusst vorwegnehmend) herstellen zu können.
Weiter, dass die Notwendigkeit, diese Fähigkeit anzuwenden und weiter zu entwickeln zunehmend (und zunehmend im weltweiten Füreinander) zur materiellen Existenzbedingung (Weiterentwicklungsbedingung) der Menschen wird. Dies als Wesentlich für die weitere Mensch(heits)werdung zu sehen, (inklusive für die Perspektive einer Ökologisierung des Menschseins) heißt natürlich, von den konkreten historischen Bedingungen (Formen, Kräfteverhältnissen, Stand der Produktivkraftentwicklung) abzusehen.
Aber gerade dieses bewusste Weglassen versetz in die Lage, die historischen Besonderheiten zu würdigen. Das mag dann von anders interessierter Seite als idealistische Setzung (Essentialismus) angegriffen werden. Aber gerade die Notwendigkeit, sich mit diesen Einwänden auseinanderzusetzen verhilft auch zu einem besseren Verständnis des Gegenstandes, dessen Entwicklungspotenziale und der (möglichen) Umstände ihrer weiteren Entwicklung.
Die Einheit der Forschenden mit den Gegenständen ihres Erkenntnisinteresses erfordert ja gerade die kritische Reflexion historischer (deshalb auch der eigenen) Wahrnehmungsgrenzen, Erkenntniserkenntnissen usw. der Forschenden, die Notwendigkeit und Fähigkeit zur Rechtfertigung ihrer Behauptungen und einiges mehr. „Die Dinge“ sprechen also mit vielen mehr oder weniger informierten bzw. interessierten Zungen, die sich durchaus widersprechen können (bzw. müssen).
Den »Gegenstand sprechen lassen« ist eine Metapher, denn es gibt bekanntlich viele Gegenstände, die nicht sprechen können. Sie soll ausdrücken, dass es beim Erkennen darauf ankommt, den Gegenstand nicht so zu nehmen, wie er sein soll, sondern so wie er ist, sich also auf ihn einzulassen und nichts reinzudeuten, dass nicht da ist.
Das ist der Anspruch, und das ist leichter gesagt als getan, da wir auch wissen, dass wir dem Gegenstand nicht nur in der Differenz gegenübertreten (schon gar nicht »neutral«), sondern — und das habe ich in dem Vortrag betont — auch mit ihm identisch sind. Kriterien wie das gehen kann, habe ich im weiteren im Vortrag versucht zu entwickeln, in gegebener Kürze.
Allerdings überdehnt „bei der Wahrnehmung nichts hinzufügen und nichts weglassen“ die Metapher. „Nichts wesentliches weglassen oder hizufügen“ könnte ich akzeptieren (mit dem Vorbehalt, dass auch dies von den historischen Möglichkeiten des Erkennenkönnen und -wollens nicht unberührt sein kann.
Hallo Stefan,
vielen Dank für diesen schönen Vortrag über Hegels Denken. Hat mich an meine Berliner Zeit von 1992-1998 erinnert, als ich am PI der FU studiert habe und Klaus Holzkamps letzte Vorlesung (übers Lernbuch) genossen, Ute Osterkamps Motivationsseminare mitgemacht und Holzkamps „Grundlegung“ und viele andere Texte von ihm – und natürlich den ersten Band des „Kapital“ – durchgeackert habe.
Du sagst, Marx habe das, was Hegel mit „Entwicklung“ gemeint hat – nämlich die Entwicklung des Denkens, die spekulative Entwicklung des Begriffs – mit der historischen Entwicklung verwechselt.
Den Eindruck hatte ich bei Holzkamp eigentlich auch oft (ich denke da an seinen 1974er Artikel, „Die historische Methode des wissenschaftlichen Sozialismus und ihre Verkennung durch Joachim Bischoff“). Mein Eindruck war, daß er sich eigentlich erst im Lernbuch so „richtig“ von diesem Mißverständnis gelöst hat. Ich lese die GdP auch eher als „begriffslogische“ Entwicklung, die sich Geschichte aus der begrifflichen Entwicklung zurechtkonstruiert und dafür eigentlich auf vergleichender Forschung basiert (und leider in entscheidenden Punkten leider gerade die historische Rekonstruktion, die zur Klärung zentraler Fragen nötig gewesen wäre, nicht in Angriff genommen hat, sondern da relativ unkritisch und ohne ernstzunehmende Überprüfung einfach Standard-ML-Dogmen übernommen hat: z.B., was die historische Entstehung von Staat, Eigentum&Vertragsrecht und Lohnarbeit angeht). Deswegen mußte ich da mit anderen Mitteln selber dran weiterfragen und -denken.
Wie siehst Du das? Siehst Du da auch bei Holzkamp – jedenfalls dem Holzkamp der 1973er Sinnlichen Erkenntnis und der 1983er „Grundlegung der Psychologie“ – ein ähnliches Mißverständnis wie bei Marx?
Ich hatte auch den Eindruck, daß Holzkamp das ganze Thema Kreativität und die Entstehung von Neuem (von neuen Ideen, Einsichten ebenso wie z.B. von Erfindungen) irgendwie vollkommen ausgeblendet läßt – was natürlich typisch ist für die abendländische Denktradition. Deswegen mußte ich auch da weiterfragen – und bin dann mit Koestler und Conceptual Blending Theory da ein gutes Stück weitergekommen.
Da würde mich interessieren, wie aus deiner Sicht Hegel dazu steht – inwieweit er da über die abendländische Tradition hinausgeht und dieses Phänomen klar erfaßt hat.
Besten Dank für deine tollen Beiträge im Netz – auch die Grundlegungs-Seite und KritischePsychologie.de mit den vielen Digitalisaten!
Grüße, Wolfgang
„Ich lese die GdP auch eher als „begriffslogische“ Entwicklung“ – wenn Du so willst, als Holzkamps Versuch, einen konkret-allgemeinen Begriff „des Psychischen“ zu erarbeiten, indem er mit einer Ausgangsabstraktion anfängt und diese dann schrittweise weiter spezifiziert.
Sehr schön finde ich auch Deine Überlegungen zu Osterkamps und Holzkamps Begriffspaar „restriktive vs. verallgemeinerte Handlungsfähigkeit“. Genau die Art Fragen, die du dort stellst, habe ich mir damals – so ab 1994 – auch gestellt und bin ihnen nachgegangen.
Sie verweisen dann aber zurück auf die Gesellschaftstheorie – denn wie die spezifisch bürgerlichen Zwänge (die ja auch Freud z.B. in „das Unbehagen in der Kultur“ anspricht) zustandekommen, kann man nur aus dem sozialen Handeln im Kontext der Gesamtgesellschaft – den Institutionen des „Kapitalismus“ bzw. der „bürgerlichen Gesellschaft“ eben – begreifen.
Und da stößt man dann eben auf große Unklarheiten und Leerstellen bei Marx selber: einmal redet er recht vage von den „Zwangsgesetzen der Konkurrenz“ (klar – wer würde die leugnen wollen?) und dem „stummen Zwang der Verhältnisse“, dann wieder vom „Kapital“ als „automatischem Subjekt“ – alles recht dunkel, und es erfüllt eben gerade nicht die Kriterien einer schlüssigen „begründungsanalytischen Erklärung von Handlungszusammenhängen“, die Holzkamp (am klarsten im Lernbuch) entwirft und die ich teile.
Ich habe da dann weitergefragt und festgestellt, daß sich diese Zwänge – die ja von der bürgerlichen, liberalen Ökonomie meist einfach ausgeblendet oder per „homo oeconomicus“ falsch universalisiert und anthropologisiert werden – recht einfach und fast schon trivial verständlich machen lassen, wenn man staatliches Gewaltmonopol und Recht präzise betrachtet und auf dieser Basis – und der darauf basierenden einzel- und gesamtwirtschaftlichen doppelten Buchhaltung – eine politische Ökonomie entwirft.
Letzteres hat Wolfgang Stützel (Klaus Holzkamps Generation – Jahrgang 1925) schon in den 50er Jahren auf (mich) sehr überzeugende Weise getan und dabei auch Marx ausführlich gewürdigt. Siehe seine Bücher „Preis, Wert und Macht: Analytische Theorie des Verhältnisses der Wirtschaft zum Staat“ (1952) und – v.a. – „Paradoxa der Geld- und Konkurrenzwirtschaft“ (1953), zu Marx dort der Abschnitt „Marx’sche Paradoxa“.
Auch, was die historische Entstehung von Klassenherrschaft, Staat und bürgerlicher Gesellschaft (Griechenland/Rom) angeht, lassen sich auf dieser Basis interessante Klärungen finden, wenn man da auch nur schwer zu völlig eindeutigen Ergebnissen kommen kann und tlw. auf Spekulation (im Sinne von „plausible hypothetische Geschichten erfinden“) zurückgreifen muß.
Mein Weg dorthin führte zunächst über die Arbeiten der KRISIS-Gruppe um Robert Kurz, die du ja auch kennst, zu Gunnar Heinsohns und Otto Steigers Arbeiten, von dort zu MMT und schließlich zu Stützel, der da ganz wesentliche Klärungen erarbeitet hat – mit ganz ähnlicher begrifflicher Präzision wie Holzkamp, und mit ganz ähnlicher Methode („paradigmatische“, d.h. grundbegriffliche Fundierung der Psychologie bei Holzkamp, der Theorie der bürgerlichen Gesellschaft bei Stützel).
Falls Du Dir das bißchen näher anschauen möchtest, haben wir letztes Jahr unsere bisher dazu entwickelte Sicht in einigen Vorträgen zusammengefaßt, die Du hier anschauen könntest:
https://www.youtube.com/playlist?list=PLyRk2yIHSNKndma7yOQi1iRzoRV0SqATC
Ich denke, daß Du da ggf. mehr Klarheit in Bezug auf viele Fragen gewinnen könntest, auf die Du im Kontext Kritische Psychologie – Kritik der Politischen Ökonomie – Hegel – fundamentale Wertkritik gestoßen bist.
Jedenfalls ging mir selbst da so 🙂
Herzliche Grüße und danke nochmal für Dein tolles Webangebot, in dem ich noch weiter bißchen herumstöbern werde.
Erinnert mich auch an meine Versuche, Hegel zu lesen – mit denen ich, um ehrlich zu sein, nicht besonders weit gekommen bin. Trotzdem hab ich aber das Gefühl, daß ich von dem bißchen, das ich gelesen habe, wichtige epistemologische Einsichten gewonnen habe – vor allem über die Einheit von und Unterschieden zwischen von Idendität und Differenz – ein ganz grundlegend wichtiges Forschungsprinzip für vergleichende Forschung, das ich täglich anzuwenden versuche 🙂
Wolfgang
@Wolfgang: Vielen Dank für deine freundliche Anerkennung 🙂
Aus meiner Sicht heißt „begriffslogisch“ oder „begriffsentwickelnd“ nicht, sich gleichsam unempirisch nur in der Gedankenwelt zu bewegen. So habe ich auch die GdP von Holzkamp immer gelesen: als historisch-empirische Entwicklung der Kategorien (Grundbegriffe) des Psychischen.
Bei Marx liegt der Fall ein bisschen anders, meine Kritik betrifft eher den frühen Marx. Das »Kapital« ist eine begriffsentwickelnde Darstellung, die allerdings (u.a. wg. der historischen Beispiele) „historisch-logisch“ gelesen wurde und wird, so auch von Holzkamp. Holzkamp hat sozusagen das »Kapital« missinterpretierend (aber dem ML-Mainstream entsprechend) die „historisch-logische Methode“ vermeintlich abgeguckt und auf seinen Gegenstand, das Psychische übertragen, wo es dann wieder passte. Es kann sein — vielleicht meinst du das — dass dabei die Begriffsentwicklung den „Lead“ übernahm, dem sich die Empirie unterordnen musste (was der Einheit von Gegenstand und Methode widerspräche, die auch Holzkamp vertreten hat). Das vermag ich nicht zu bewerten.
Meines Erachtens hat Hegel genau diese Problematik der zwei Entwicklungen (logische und historische) sehr klar auseinandergelegt. Meine Auseinandersetzung damit hat mir geholfen, das dann auch klarer zu sehen. Die nur oberflächliche Befassung der Traditionslinken mit Hegel führt immer wieder dazu, die logische Entwicklung im »Kapital« historisch zu lesen.
Was die Politische Ökonomie angeht, sind wir beide, glaube ich, auf unterschiedlichen Pfaden. Mir geht es eher um die theoretische und praktische Aufhebung der basalen Kategorien wie Ware, Wert und Geld als um ihre alternative Anwendung. Das soll eure Anstrengungen nicht schmälern, ich vermag gar nicht einzuschätzen, was ihr mit eurem Ansatz immanent leisten könnt. Das für mich wichtigste Kooperationsprojekt (vier Unis und das Commons-Institut) ist das hier: http://keimform.de/2018/buch-postmonetaer-denken-erschienen/ – mehr demnächst hier auf dem Blog. In diesem Projekt sind immanente heterodoxe ökonomische Ansätze eminent wichtig, doch mein/unser Part wird die kritische Überschreitung immanenten Denkens sein. Ob das zusammen gehen kann, wissen wir noch nicht.