Commons-Obst — das mundet!
Warum Obst am Baum verfaulen lassen, das niemandem gehört oder der Eigentümer nicht nutzen will? Das war die Ausgangsfrage für mundraub.org — einer Website mit der MundraubMap als Kernstück. Dort sind Orte mit Bäumen, Sträuchern und Flächen eingezeichnet, wo Obst frei geerntet werden kann. Neue Fundorte können per Webformular eingetragen werden. Gefördert werden soll »Mundraub«, nicht aber »Obst-Diebstahl«.
Der Name »Mundraub« ist zwar nett provokativ und damit Aufmerksamkeit erregend, aber eigentlich falsch, denn »Mundraub« war tatsächlich lange Zeit ein Straftatbestand (heute fällt das unter »Diebstahl«). Beim hier propagierten »Raub« wird aber niemandem etwas weg genommen, sondern genau genommen wird mit der Obst-Map aus »Niemandsobst« oder »Eigentumsobst« (mit Einverständnis der Eigentümer) ein Obst-Commons gemacht. Dafür sprechen auch die Regeln, die festlegen, dass das geerntete Obst nur zum eigenen Nutzen (»als Besitz«) nicht aber zum Verkauf (»als Eigentum«) geerntet werden darf. Warum die Regeln »AGB« heissen, wo es doch gerade nicht um ein Geschäft geht, bleibt rätselhaft. Den Verkauf der T-Shirts hätte man nun wirklich davon abtrennen können.
Super Idee, aber nicht alles ganz zu Ende gedacht.
Und auch wieder nur die Wiederbelebung eines alten Brauches: Ein Mann aus Südtirol – dort ist in der Gegend von Meran der Anbau von Äpfeln eine Haupteinnahmequelle – hat mir erzählt, dass es eine Regel gab, dass ab November alle die Äpfel für den eigenen Bedarf holen konnten, die noch auf den Bäumen hingen.
Er hat gemeint, vermutlich gilt diese Regelung auch heute noch, aber heute macht das niemand mehr, weil alle die Äpfel im Supermarkt kaufen. Eigentlich seltsam in einer Region, die vom Anbau von Äpfeln lebt.
Und was ist mit denen die das obst nicht selbst abholen können? Das ganze konzept ist sozial ungerecht und überholt. Erstens erniedrigt es sozial schwache zu brosamenauflesern. Das ist gegen die menschenwürde. In diesem wikipediaeintrag kann man sogar sehen, dass diese gepflogenheit bestens in die patriachalische gesellschaftsstruktur des alttestamentarischen judentums eingebunden war. Die verarmten frauen sollten sich durch restesammeln selbst ernähren und wurden für die reichen so unsichtbar. Das war ein element der tüpisch bürgerlichen verleugnung der gesellschaftlichen verantwortung aller gegenüber der verarmten bevölkerung!
Zweitens ist nicht sichergestellt, dass ein sozialausgleich unter den aufsammlern stattfindet. Es könnte etwa jemand, der schon reich ist, obst aufsammeln und es auf diese weise anderen wegnehmen. Hier ist die politik gefordert! Das landwirtschaftsministerium sollte koordinierte sammlungen organisieren, deren ertrag vom sozialamt verteilt wird. Das hatte 1945-1950 ja auch schon geklappt. Wir werden zu gegebener zeit daran erinnern.
@politbuerokrat: Du überstrapazierst das Projekt etwas, es beansprucht kein allgemeines Konzept zur Lösung von Armut zu sein. Im übrigen gibt es koordinierte Restesammlungen schon (wenn auch nicht vom Staat): die Tafeln. Die sind erst recht kein Modell für irgendwas.
@Stefan: „Super Idee, aber nicht alles ganz zu Ende gedacht.“Auf jeden Fall lassen die Mundräuber viel Affinität zum „Nachhaltigkeitsdiskurs“ erkennen… wäre da nicht ein Gespräch inklusive solidarischer Kritik angebracht? Denn die Idee selber weist über einen „guten“ Kapitalismus im schlechten („Nachhaltigkeit“) hinaus…
@ChristianSW: Gespräch — na klar, dafür bin ich immer zu haben. Wäre nur noch die Gelegenheit zu finden…
@Stefan: Von der Seite inklusive den liebevoll bebilderten Blogeinträgen bin ich begeistert – möchte nur gerne die Idee retten vor ihrem Verschleiß im „Nachhaltigkeitsdiskurs“. Mir tummeln sich da neben guten Ideen und Projekten zu viele „Greenwasher“. Wenn sich da mal ein Gespräch oder ähnliches ergibt, würde ich mich freuen, davon in Keimform lesen zu können.
@ChristianSW: Wenn du selber auf gute Ideen oder Projekte stößt, die hier noch nicht vorgestellt wurden, dann kannst du auch gerne einen Artikel schreiben, um durch Hinweis so manche Idee zu retten »vor ihrem Verschleiß im “Nachhaltigkeitsdiskurs”« (das gilt generell für alle, vgl. hier). So ganz klar ist mir auch nicht, was du damit meinst.
Generell sind die Keimform-Blogger hin und wieder offline treffbar — die Veranstaltungen, wo wir auftreten, werden in der Regel vorher über den Blog angekündigt.