Commons und ursprüngliche Akkumulation
Im Anschluss an einen Beitrag über Slavoj Žižek stellte Benni die These auf, dass »im Commonsdiskurs … sehr viel von dem was man unter Marxisten sonst “ursprüngliche Akkumulation” nennt vorhanden« sei. Meine Reaktion war, dass ich es nur für eine »illustrative Analogie« halte, die aktuelle »Einhegung der Commons« so zu nennen. Benni fragt jedoch, was »denn die Milliarden in den Slums anderes (sind) als von der ursprünglichen Akkumulation Vertriebene«. Silke ergänzt, dass es auch heute noch so sei, das »Gemeinressourcen, die für jeglichen Produktionsprozess unentbehrlich sind, von den “commoners”« getrennt werden. Eben jenes hätte Marx mit »ursprünglicher Akkumulation« gemeint: »Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln«.
Nun habe ich dann doch mal 24. Kapitel des »Kapital« von Marx gelesen und bei Wikipedia nachgesehen. In der Wikipedia wird das Thema im Artikel »Ursprüngliche Akkumulation« dargestellt (vgl. auch die Grafik). Dort findet man neben einer ausführlichen Besprechung des 24. Kapitels des »Kapital« weitere Quellen von Marx, wo er das Thema diskutiert. Dort wird auch die Rezeptionsgeschichte vorgestellt, unter anderem auch die Frage, ob es sich bei der »ursprünglichen Akkumulation« um eine abgeschlossene historische Phase oder um einen kontinuierlichen Prozess des Kapitalismus handelt. — Also genau die Frage, die uns mit Bezug auf den aktuellen Commonsdiskurs beschäftigt.
Wie man an der oben stehenden Wikipedia-Grafik sehen kann, behandelt Marx sehr unterschiedliche Prozesse im Kapitel der »sogenannten ursprünglichen Akkumulation«. Allerdings hebt er den von auch Silke angeführten »Scheidungsprozeß von Produzent und Produktionsmittel« in der Tat mehrfach hervor.
Es war vor allem Rosa Luxemburg, die die Bedeutung der außerhalb des Verwertungsprozesses liegenden Bedingungen für die kapitalistische Produktion hervor hob. Der Kapitalismus sei ein System, dass »ohne andere Wirtschaftsformen als ihr Milieu und ihren Nährboden, nicht zu existieren vermag« (in: „Die Akkumulation des Kapitals“ von 1913). Weil der Kapitalismus stets nicht-kapitalistische Bereiche als Bedingung für die Verwertung brauche, sei mit der Durchsetzung des Kapitalismus im Weltmaßstab dieser auch an sein historisches Ende gelangt.
Im Anschluss an Luxemburg halten manche die »innere« Ausbreitung des Kapitalismus im Gegensatz zur geografischen noch nicht für abgeschlossen. Immer mehr Bereiche, die bislang noch nicht der Verwertungslogik unterliegen, werden in die Verwertung einbezogen (Stichwort: Privatisierungen, Inwertsetzung von bislang wertfreien Bereichen wie Hausarbeit, Pflege, Gene, Pflanzen, Emissionen etc.). Hierzu zählen vor allem auch die Gemeingüter (Commons). Dem könnten vielleicht Benni und Silke zustimmen.
Meines Erachtens ist jedoch der Prozess der ursprünglichen Akkumulation wie von Marx beschrieben nicht mit dem aktuell beobachtbaren Prozess der Privatisierung und Inwertsetzung (so will ich es mal kurz nennen) zu vergleichen. Bei Marx ging es um die erstmalige Akkumulation von genügend Kapital und die Bereitstellung von genügend freien Arbeitern, um den danach folgenden Selbstlauf des Kapitalismus (beschrieben durch G -W – G‘) loszutreten. Insofern stets immer wieder neues Kapital notwendig ist, um die Produktion zu befeuern, sind natürlich im allgemeinen Sinne stets alle Mittel recht, um an dieses notwendige Kapital zu gelangen — was der Kapitalismus in seiner zweihundertjährigen Gewaltgeschichte eindrucksvoll bewiesen hat (und das auch weiterhin tut).
Kapital heranzuschaffen, um eine neue Runde der Akkumulation anzutreiben, wurde und wird jedoch zunehmend von einem Verdrängungskampf um die Verwertungsmöglichkeiten selbst abgelöst. Heute ist Kapital nicht so sehr das Problem, sondern — betriebswirtschaftlich gesprochen — die rentable Anlage, also die Verwertung selbst. Weil es die nicht mehr hinreichend gibt, entstehen die aufgeblasenen Spekulationssphären. Nahezu alle Märkte sind vergeben, große neue Arbeitskraft einsaugende lange Wellen grundsätzlich neuer Innovationen nicht in Sicht. Die neuen Technologien schaffen mehr Arbeit (=Verwertung) ab als sie neu schaffen. Statt ursprünglicher Akkumulation also eher eine Situation der Über-Akkumulation.
Die »Milliarden in den Slums«, die Benni anführt, sind folglich keine Opfer ursprünglicher Akkumulation, sondern umgekehrt: Sie sind Opfer nicht mehr stattfindender ursprünglicher Akkumulation, nicht mehr stattfindender erfolgreicher Verwertung in weiten Teilen der Erde. Hier gilt der zynische Spruch, dass schlimmer als ausgebeutet zu werden sei, nicht ausgebeutet zu werden. Die einzige Chance ist, das »Rennen nach unten« (race to the bottom) mitzumachen und die billigen Konkurrenten noch einmal zu unterbieten, um ihnen Verwertungsanteile abzujagen (das »China-Modell«, nur jetzt auf noch niedrigerem Niveau).
Können nun aber die Privatisierung und Inwertsetzung der Commons da raus helfen (im Sinne einer erfolgreichen Verwertung)? Nein, auch das glaube ich nicht. Bei vielen Commons, etwa öffentlichen Gütern, ist es ja nicht so, dass sie vorher nicht auch schon durch Aufwand von Arbeitskraft hergestellt wurden. Hier bedeutet eine Privatisierung keinen neuen Verwertungsschub, sondern schlicht eine Umleitung von Geldströmen in die Taschen der neuen Eigentümer. Bei Commons, die bislang als stumme Ressource einfach mitbenutzt (oder versaut) wurden, bedeutet eine Preisbelegung (etwa bei Verschmutzungsrechten) zwar einen regulatorischen Eingriff, aber keine neue Quelle von Verwertung. Und schließlich bei vielen persönlichen Dienstleistungen sehe ich auch keine zusätzliche Wertschöpfung, weil diese vorwiegend aus den privaten Einkommen bezahlt werden, der Geldfluss also nur umgeleitet wird und dann für andere Ausgaben nicht mehr zur Verfügung steht.
Kurz: Es findet zwar wieder ein Prozess der »Einhegung der Commons« statt, aber dieser unterscheidet sich qualitativ von dem historischen Prozess der »ursprünglichen Akkumulation«. Heute haben wir es eher mit einem Raubbau anstatt nachhaltiger Verwertung zu tun.
Schließlich habe ich auch noch bei Hardt/Negris »Empire« reingeguckt (S. 312-314), auf das Thomas hinwies. Auch Hardt/Negri verwenden den Begriff der ursprünglichen Akkumulation nur mit Verweis auf den historischen Prozess, heben aber hervor, dass das, was damals begann — der »unaufhörliche Zyklus der privaten Aneignung öffentlichen Guts« — sich heute fortsetzt. Dieser gelange jedoch an Grenzen:
»Produzieren bedeutet zunehmend, Kooperation, Kommunikation und Gemeinsamkeiten herzustellen. Der Begriff des Privateigentums selbst, verstanden als das exklusive Recht, ein Gut zu verwenden und über allen Reichtum, der sich aus seinem Besitz herleitet, zu verfügen, wird in dieser Situation zunehmend unsinnig. Es gibt immer weniger Güter, die in diesem Sinne exklusiv zu besitzen oder zu verwenden wären; es ist eine Gemeinschaft, die produziert und die, während sie produziert, sich reproduziert und neu definiert. Die Begründung des Privateigentums, dieses Begriffes der klassischen Moderne, löst sich so in der postmodernen Produktionsweise in gewisser Hinsicht auf.«
In gewisser Hinsicht.
Was genau unterscheidet den englischen Allmendebauern des 18. (?) Jahrhunderts, der von Schaf-Monokulturen für den Weltmarkt vertrieben wurde vom indischen Kleinbauern des 21. Jahrhunderts, der von Monsantos Gentechnik-Monokulturen vertrieben wird? Beide landen hinterher in den Slums der explosionsartig wachsenden Großstädte und sind gezwungen Lohnarbeit (oder häufiger das Äquvivalent im informellen Sektor) zu verrichten zu den Bedingungen, die dann eben gerade angeboten werden.
Von den Folgen her vielleicht wenig. Sie sind nur Opfer unterschiedlicher Prozesse, wie dargestellt. Der englische Bauer wurde freigesetzt, _um_ in der entstehenden Industrie seine Arbeitskraft zu verkaufen, für den indischen Bauer gibt’s diese Perspektive in der Regel nicht mehr. Für den englischen Bauern war die Industrie die Zukunft, für den indischen Bauern ist sie die Vergangenheit.
Das sehe ich anders. Das Paradebeispiel ist China. Da wandern Millionen vom Land in die Städte. Das ist genau der selbe Prozess wie damals. In Indien findet das sicher auch statt, vielleicht nicht ganz so krass. Natürlich gibt es Elendsregionen, wo garnichts mehr geht, aber die gab es auch schon immer seit es den Kapitalismus gibt.
Ausserdem finde ich Deine Argumentation nicht schlüssig. Du sagst, das seien „unterschiedliche Prozesse“. Aber das will man ja eigentlich erst rauskriegen, welche Prozesse das sind. Du setzt also das, was Du rauskriegen willst hier schon vorraus.
Nein, es könnte ja rauskommen, dass es in der Tat der gleiche Prozess ist. Was vorausgesetzt ist, sind die unterschiedlichen Begriffe von »ursprünglicher Akkumulation« und »fortlaufender Verwertung«. Da beziehe ich mich auf Marx, das hat er nun mal unterschieden. Diese Unterscheidung versetzt mich dann überhaupt erst in die Lage, reale Unterschiede zu erkennen. Sonst sind alle Katzen grau und jede Wanderungsbewegung ist ein-und-dasselbe.
Wenn du das kritisieren möchtest, dann bringen neue Beispiele nicht viel. Wo du keine Unterschiede siehst, sehe ich halt welche. Aus meiner Sicht fehlt dir die analytische Unterscheidung. Bloß auf der Phänomenebene sieht man alles und nichts.
Auch für den chinesischen Bauern ist die Industrie keine Zukunft. China hat kein Kapitalproblem, da ist keine ursprüngliche Akkumulation erforderlich und freie Arbeitskräfte gibt’s en masse. Sicher vollzieht China einen Prozess der »nachholenden Modernisierung«. Aber eben weil er »nachholend« ist, ist er nicht mit dem initialen (eben: ursprünglichen) Prozess der Kapitalakkumulation und Arbeitskräftefreisetzung zu vergleichen. Er wird in einer Situation des Weltmarktes vollzogen, hier muss einfach ordinärer Kapitalismus auf low level Basis durchgezogen werden, um sich eine Scheibe des bereits vorhandenen Marktes abzubekommen. Ebenso gibt es bereits einen globalen Kapitalmarkt. Per Industrialisierung der Landwirtschaft werden die bäuerlichen Wirtschaften eben platt gemacht etc. — Im Sinne des Kapitalismus alles ganz »normal«, aber nicht »initial«.
„Der englische Bauer wurde freigesetzt, _um_ in der entstehenden Industrie seine Arbeitskraft zu verkaufen, für den indischen Bauer gibt’s diese Perspektive in der Regel nicht mehr.“
Das sagt sich leicht, aber ganz so war es vermutlich doch nicht. M.E. wurden auch die englischen Kleinbauern (zunaechst) nur „freigesetzt“ um an die von ihenen belegten Ressourcen zu gelangen – sie dann ihrerseits zu Ressourcen fuer neu entstehende Industrien zu machen, hat sich wohl eher aus den dann entstehenden Verhaeltnissen ergeben – war aber sehr wahrscheinlich nicht die Intention der Einhegungen – eher so etwas wie ein (sorry) „angenehmer“ Nebeneffekt.