Sozialwirtschaft als Keimform?
Telepolis hat ein Interview mit dem Praxisphilosophen Horst Müller gemacht. Die Praxisphilosophie beansprucht die alte Grundfrage der Philosophie (»Materie vs. Geist«) zu überschreiten und die Welt — von der unbelebten bis zur menschlich-gesellschaftlichen Natur — vom Standpunkt der menschlichen Praxis zu denken. Dem Anspruch nach möchte sie Materialismus, Dialektik und »Utopistik« zusammenbringen, um damit die bloße Kritik zu überwinden.
Dazu Müller im Interview:
»Nach meiner Auffassung setzt insbesondere die längst geforderte Überschreitung der „Kritik“ durch eine fundierte „Utopistik“ der politischen Ökonomie voraus, dass die wissenschaftsmethodischen, auch ökonomietheoretischen Konsequenzen des „Praxiskonzepts“ neu durchdacht werden. Stattdessen wurde in nicht enden wollenden exegetischen Exerzitien eine Wert-, Kapital- und Krisentheorie, also ein in der Substanz negatorisches Denken kultiviert.«
Dem gegenüber ist Müller der Meinung,
»dass die Potentiale und Formen einer ökonomisch-zivilisatorisch höher stehenden Gesellschaft bereits als „Latenz“ „im Schoße“ des Bestehenden existieren und im Zuge eines historischen Transformationsprozesses freigesetzt werden können.«
Klingt das nicht wie »Keimform«? Ok, wie sieht sie aber aus, wo ist sie zu suchen? Müller:
»Was Marx noch als, in kapitalwirtschaftlicher Perspektive, „unproduktive Arbeit“ bezeichnete, hat sich in der reiferen Gestalt dieser Ökonomik als sozusagen zweite Hälfte der Wirtschaft entfaltet, also zu einem gewaltigen Fundus staatlich vermittelter sozial-infrastruktureller Produktionen oder „sozialwirtschaftlicher Dienste“ gemausert. (…) Zu den Kernfragen liegt eine eingehendere Untersuchung unter dem Titel „Sozialwirtschaft als Systemalternative“ vor.«
Eh, hallo? Sozialwirtschaft als Keimform? Annette Schlemm hat sich schon vor einiger Zeit mit der Praxisphiliosophie befasst. Sie schreibt zusammenfassend über Müllers Vorschlag:
»Da auch Sozialdienstwerte in den Warenwerten enthalten sind und die Sozialdienste zunehmen, könnten diese die industrielle Arbeit unter sich usurpieren … Aber auch hier stelle ich eine starke Begrenztheit der Aussage fest. Es sollte doch die Wert- Vergesellschaftung überhaupt kritisiert werden und die Sozialdienste sind selbst ein schlechtes Beispiel für Emanzipation. Verwertbar gemachte Sozialdienste bedienen zwar die Lobby von Sozialarbeitern, haben aber nur wenig oder nur indirekt mit der von der Praxisphilosophie angestrebten Emanzipation aller Menschen als Subjekte zu tun. Emanzipierte Subjekte brauchen keine Sozialdienste mehr — sie nehmen ihr Leben — völlig jenseits von Verwertungskategorien — in die eigenen Hände!«
Das ist deutlich, danke.
Ich hoffe das ist nicht als generelle Einordnung der Praxisphilosophie gedacht. Wenn es irgendeine marxistische Tradition gibt, wo Keimformen gut reinpassen, dann diese. Nur weil Müller halt ein bisschen phantasielos ist was die konkrete Umsetzung angeht muss man ja nicht gleich den ganzen Ansatz verdammen, oder?
Ich vermute, es ist nicht Phantasielosigkeit, sondern Ergebnis der theoretischen Überlegungen Müllers, die ihn auf die Sozialwirtschaft bringt. Da ist er schlicht so konventionell wie der traditionelle Marxismus sonst auch (Wirtschaft anders betreiben, Vergesellschaftung über den Wert nicht antasten).
Inwieweit das allgemein „die“ Praxisphilosophie betrifft, kann ich nicht einschätzen. Annette schreibt, dass sie sonst bei anderen Autoren nichts Konkretes gefunden hat. Eine generelle Verdammnis ist nicht meine Absicht. Ich messe die Praxisphilosophen dann aber schon am ihrer Praxis und an Vorschlägen für dieselbe.
Zum Kommentar von Annette Schlemm: Ihr Begriff von „Sozialdiensten“ in Verbindung mit der Assoziation „Sozialarbeit“ zeigt nur, dass sie sich mit dem kritisierten Konzept einer „Sozialwirtschaft als Alternative zur Kapitalwirtschaft“ überhaupt nicht ernsthaft befasst oder es nicht verstanden hat. Meine These besagt, dass die Reproduktion der allgemeinen und gemeinsamen Grundlagen, d.h. der infrastrukturellen, sozialen und kulturellen Basis bzw. des zivilisatorischen Gehäuses der modernen Gesellschaft – also die Arbeit und Produktion im Sinne von Erziehung, Bildung, Wissenschaft, Verwaltung, Verkehr, Medien, Kultur, Gesundheit usw. usw. – reproduktionstheoretisch im Sinne einer neuen Abteilung der gesellschaftlichen Arbeit gefasst werden muss.
Die Reproduktionsschemata des zweiten Bandes des Kapital sind seit der im fortgehenden 20. Jahrhundert eingetretenen wirtschaftsgeschichtlichen Entwicklung nur noch die halbe Wahrheit, an die sich die dem traditionellen Denkschema verhafteten Wert-, Kapital- und Krisentheoretiker klammern. Die der wirklichen Marxschen Forschungsstrategie entsprechende praxisanalytische Untersuchung der neu gefassten Reproduktionsordnung vermag denn auch das Produktivkraftensemble bzw. die geschichtlich neuen‚ von mir „sozialwirtschaftlich“ genannten Formbildungen des Ökonomischen, auch im Sinne einer entsprechenden Wertlehre, zu fassen und die negatorische Theorie, wie gesagt die halbe Wahrheit, im Sinne einer Transformationstheorie von Wirtschaft und Gesellschaft zu überschreiten.
Dabei ergibt sich: Eine Abschaffung von Ware und Wert überhaupt, wie das die „Kritik der Wertvergesellschaftung“ anstrebt, ist ebenso ein sektiererischer Nonsens wie die Aussage von Annette Schlemm, „Emanzipierte Subjekte brauchen keine Sozialdienste mehr“. Der Mensch kommt nämlich nicht als emanzipiertes Subjekt zur Welt, sondern wird dazu erzogen, gebildet und kultiviert – und das ist Arbeit im Sinne „sozialwirtschaftlicher Dienste“ und keine „industriewirtschaftliche Warenproduktion“. Der entscheidende Punkt ist, den „Formwandel“ der ökonomischen Kategorien im Zusammenhang der von mir als möglich erwiesenen realen Transformation der gesellschaftlichen Praxis zu fassen, so dass etwa die alte Verwertungslogik des Ökonomischen gebrochen und ein haushälterisches Kalkül im Sinne einer „Ökonomie der Zeit“ instituiert wird. – Horst Müller, Februar 2009.
@Horst: Das die Reproduktion wichtig ist, ist klar und das sie hier oft zu kurz kommt auch.
Aber „Der Mensch kommt nämlich nicht als emanzipiertes Subjekt zur Welt“? Ne, das doch dann bitte nicht. Kommt er nämlich doch. Was bitte ist an einem Säugling nicht emanzipiert? Gehört jetzt zum emanzipiert sein auch „erzogen, gebildet und kultiviert“ sein? Warum denn das? Da sind mir dann doch die Unerzogenen näher.
Das was uns am Menschen hier hauptsächlich interessiert sind seine über-individuellen Eigenschaften, die einem einzelnen eh nur als Potenz zugewiesen werden können. Deshalb bringt es nichts, sich darüber zu streiten, in wie weit einem Individuum ab wann solche Eigenschaften zugeschrieben werden können.
@Thomas: Doch, ich finde schon, dass es einen Unterschied macht, ob ich vom Menschen als erst zu sozialisierenden ausgehe oder davon, dass er schon immer ein soziales Wesen ist.
Dass Horsts Visionen innerhalb der Wertvergesellschaftung bleiben, macht seine Antwort hier noch mal deutlich und auch, dass alles andere hier aus einer Sicht „Sektiererei“ ist. Damit mag ich mich nicht herumstreiten.
Die Frage, was „die Praxisphilosophie“ zu bieten hat, war für mich eigentlich noch offen, aber letztlich wird wohl Horst Müllers Konzept diesen Namen „besetzen“ und damit auch in gewisser Weise inhaltlich schließen. Denn ich sehe grad keine anderen „Praxisphilosophen“ mehr, die mehr daraus machen würden…
@benni: Dass der Mensch an sich ein soziales Wesen ist, ist doch tautologisch.
Meine aktuelle, das Wesentliche zusammenfassende Darstellung zur Frage einer „Philosophie und Wissenschaft gesellschaftlicher Praxis“ – ich spreche nämlich, was seit etlichen Jahren an Annette Schlemm vorbeigegangen ist, von einer praxisphilosophisch fundierten Wissenchaftlichkeit, die es weiter zu entwickeln gilt – ist der in der Heftreihe des Vereins Helle Panke e.V. erschienene Grundlagentext: Vom Marxismus zur Konkreten Praxisphilosophie. Einführung mit Untersuchungen zu Marx, Bloch, Habermas, Mead, Bourdieu. Herausgeber und direkter Vertrieb: Helle Panke e.V.: Publikationsreihe Philosophische Gespräche Heft 12, Berlin 2008 ( 68 S. / 3 € ). Die Ausarbeitung würde in einer Formatierung als Buchausgabe 110 Seiten umfassen.
Der Text ist als Ansatz zu einer Neugründung der Philosophie und Wissenschaft gesellschaftlicher Praxis ‚aus der Marxschen Wurzel‘ zu verstehen und schlägt dabei die Brücke zur politisch-ökonomischen Problematik. Er stellt auch einen Beitrag zur aktuellen Debatte über den wissenschaftstheoretischen Status der Marxschen Theorie und den Sinn und Endzweck der Wissenschaft der politischen Ökonomie dar. Hier geht es nämlich, letztlich, um die konkrete Alternative, in Blochs Worten: Um die konkrete Utopie.
Wenn jemand sich mit mir oder in Fragen einer Philosopie der Praxis auseinandersetzen möchte, wozu ich einlade, sollte er sich einmal mit dem genannten Text befassen. Andes gehts hat nicht, man muss sich in die Angelegenheit wenigstens einmal vertiefen, um zu einer Erkenntis und der für sich selbst maßgeblichen Schlussfolgerung: Wie weiter? zu kommen. Schöne Grüße noch an alle Mitdiskutanten und Mitdiskutantinnen – Horst Müller