Open-Source-Jahrbuch über Wirtschaft: „Stigmergie“ statt „unsichtbarer Hand“

Nach der Besprechung des ersten Kapitels des Open Source Jahrbuchs 2007 will ich mich heute mit dem zweiten Kapitel beschäftigen, das der „Open-Source-Ökonomie“ gewidmet ist.

Der erste der drei Artikel des Kapitel stammt von den renommierten Ökonomen Hal Varian und Carl Shapiro. Nur leider ist „Die Ökonomie der Softwaremärkte“ (S. 125) eigentlich gar kein richtiger Artikel.

Die Autoren erläutern lediglich ein paar Basics, die eh schon jede/r kennt — der zweite Abschnitt des Artikels heißt „Grundlagen ökonomischer Konzepte im Softwarebereich“, und dann ist auch schon Schluss (oder hat nur jemand vergessen, den Rest des Artikels abzudrucken? 😉 )


Interessanter ist da schon der Artikel von Bruce Perens, dem Hauptautor der Debian Free Software Guidelines (und somit der Open-Source-Definition). Perens schreibt im Abstract zu „Open Source — ein aufstrebendes ökonomisches Modell“ (S. 131):

Konventionelle Theorien der freien Marktwirtschaft lassen sich eins zu eins auch auf Open Source anwenden. Dabei stellt sich heraus, dass Open Source viel enger mit dem Phänomen des Kapitalismus verbunden ist, als man vielleicht erwartet hätte.

Also das genaue Gegenteil der Keimform-These, und deshalb hier klar relevant. Allerdings erweist sich der scheinbare Widerspruch bei genauerer Betrachtung als Illusion. Er ergibt sich nämlich daraus, dass Perens sich in dem Text praktisch nur damit beschäftigt, warum Unternehmen Freie Software verwenden oder entwickeln — aber dass marktwirtschaftliche Entitäten aus marktwirtschaftlichen Gründen handeln, ist eigentlich trivial und keiner besonderen Erwähnung wert. Er zeigt, dass und warum es für Unternehmen marktwirtschaftlich Sinn macht, Freie Software zu verwenden (was wohl niemand verwundert), und warum es für Unternehmen wie IBM Sinn macht, Freie Software zu fördern (um ihre Hardware, Services etc. besser verkaufen zu können; um Konkurrenten wie Microsoft zu schwächen; weil es ihre Entwicklungskosten für Software, die sie brauchen, aber nicht verkaufen wollen, reduziert etc.). Alles richtig, aber keineswegs sensationell (sensationell wäre ja nur, wenn sich Unternehmen über ihre marktwirtschaftlichen Interessen hinwegsetzen würden, aber das tun sie natürlich nicht).

Allerdings weiß er durchaus, dass das nicht der einzige und nicht der wichtigste Aspekt der Sache ist. So schreibt der selbst, dass „den größten Teil zu der Entwicklung von Open Source […] immer noch die freiwillig Mitwirkenden bei[tragen]“. Und dass die Motive dieser freiwilligen, von Firmen unabhängigen Mitwirkenden in sehr vielen Fällen nicht der marktwirtschaftlichen Logik entsprechen, gesteht er zumindest implizit ein (er behauptet keineswegs, dass die meisten dieser Freiwilligen das nur zur Verbesserung ihrer Jobchancen oder zur Selbstvermarktung machen würden — er war selbst einer und weiß vermutlich sehr gut, dass das nicht stimmt). Aber im Abstract (oben zitiert) und in der Zusammenfassung („Open Source finanziert sich selbst und funktioniert wirtschaftlich gesehen nach dem kapitalistischen Prinzip“) „vergisst“ er dies geflissentlich. Schade eigentlich.


Der letzte Text des Kapitels hat den umständlichen Titel „Warum ist Open-Access-Entwicklung so erfolgreich? Stigmergische Organisation und die Ökonomie der Information“ (S. 165). Der Autor Francis Heylighen analysiert darin die (selbst-)organisatorischen Grundlagen der gesamten Open-Source- und Open-Content-Produktion (also nicht nur den Open Access-Bereich, wie der Titel impliziert).

Im Gegensatz zu Perens erkennt er, dass es hier nicht um einen Markt geht, dass Open Source/Open Access also nicht als marktwirtschaftliches Phänomen erklärt werden kann. Sondern dass es vielmehr zu dem dominierenden ökonomischen Modell, mit dem die Marktwirtschaft begründet und für notwendig erklärt wird, im Widerspruch steht („Nach dem klassischen Wirtschaftsmodell sind Menschen eigennützig und würden keinen Finger rühren, um anderen zu helfen — etwa Informationsgüter zur Verfügung stellen — ohne eine Gegenleistung zu erhalten“).

Er sucht dann nach „Anreize[n] für information sharing“, die die Akteure motivieren, und die nicht immer, aber in vielen Fällen von der Marktlogik unabhängig sind (weil man teilen kann; weil man vielleicht indirekten Nutzen zieht, etwa durch Verbesserungen durch andere; weil es ein gutes Gefühl ist, etwas zu einer Gemeinschaft beizutragen; weil es Anerkennung bringt — letzteres kann, muss aber nicht zur Verbesserung des eigenen Marktwerts gedacht sein).

Am interessantesten wird der Text da, wo Heylighen sich die Organisationsweise der Freien Projekte anschaut und sich fragt, wer wo warum mitmacht. Er verwendet dafür den Begriff „Stigmergie“: eine von jemand begonnene Arbeit hinterlässt ein Zeichen (griechisch stigma), das andere Agenten dazu anregt, diese fortzusetzen. Ein wichtiger Teil der Kommunikation in Freien Projekten besteht darin, anderen solche Zeichen zu hinterlassen, etwa durch To-Do-Listen, Bug Reports, durch die „roten Links“ (Artikel existiert noch nicht) in der Wikipedia, und ganz generell durch die Offenlegung des Quellcodes, die es jedem ermöglicht, den Zustand eines Projekts zu begutachten und es dort zu erweitern, wo sie oder er möchte.

Dass jede/r denjenigen Zeichenspuren folgt, die sie oder ihn am meisten interessieren, sorgt sowohl für eine automatische Priorisierung der offenen Aufgaben (was mehr Leuten am Herzen liegt, wird im Allgemeinen schneller erledigt) als auch dafür, dass die unterschiedlichen Kenntnisse und Fähigkeiten der Beitragenden nahezu optimal eingesetzt werden (man arbeitet zumeist am dem, was man sich am ehesten zutraut). Und da man sich aussucht, ob und wo und wieviel man mitarbeitet, sind auch alle motivierter als Leute, denen eine Aufgabe zugeteilt wird oder die nur wenige Alternativangebote haben (wie es bei Angestellten in Firmen oder Selbständigen auf dem „freien Markt“ die Regel ist).

In seinem Fazit betont Heylighen dementsprechend auch, dass es sich hierbei um eine neue Produktionsweise handelt, die sowohl die „Notwendigkeit einer zentralisierten Planung [im Realsozialismus] als auch einer unsichtbaren Hand des Marktes [im Kapitalismus]“ überflüssig macht — eine neue Produktionsweise, die „unser sozio-ökonomisches System revolutionieren“ könnte.

Anders als Varian und Perens hat Heylighen in seinem Text wirklich auf die beschriebenen Phänomene geachtet, statt sie nur in ein vorgegebenes Schema pressen zu wollen. Ein schöner Text.

Soweit zum zweiten Kapital — und keine Sorgen, über die restlichen fünf Kapitel wird es von mir keine Artikel mehr geben 😉

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