Birma-Sein und Keimform-Bewußtsein
Puh, das ist mal ne sperrige Überschrift! Ok, die Aktion „Free Birma“ haben wir wohl verschlafen. Obs schade drum ist? Keine Ahnung. Sowas ist sicherlich nicht ganz ohne Wirkung aber sicherlich wohl auch eher ein Akt der Hilflosigkeit angesichts von medientransportierter Grausamkeit am anderen Ende der Welt. Dennoch durchaus verständlich finde ich.
Es war ja auch bizarr. In Berlin demonstrieren 15000 gegen Überwachungsstaat und keinen interessierts (zumindestens die Medien nicht) und in Birma protestieren 15000 im Überwachungsstaat und alle berichten groß. Ich freu mich ja immer, wenn das Grundprinzip der Aufmerksamkeit, dass alles was nah ist interessiert mal gebrochen wird, aber an dem Tag hätte ich mir eine Berichterstattung über beides gewünscht.
Zunächst noch nicht wirklich mit diesen Ereignissen verbunden habe ich in den letzten Tagen drüber gegrübelt woran es denn liegt, dass unsere an sich wie ich finde sehr simplen, nötigen und möglichen Überlegungen nicht so richtig durchdringen. Ob das jetzt eine Demo für Bürgerrechte und gegen Überwachungsstaat ist oder unsere weitergehenden Überlegungen hier im Blog. Ich hab drüber gegrübelt, was mich denn dran hindert mehr zu tun als bisher, was andere dran hindert von denen ich weiß, dass sie gerne mehr tun würden etc… Sicherlich nicht besonders originell ist es meistens der stressige Alltag in den man eingebunden ist, sei es jetzt Familie oder Arbeit. Auffällig ist außerdem, dass auffällig viele, die in unserem weiteren Kreis hier gelegentliche Keimform-Aktivitäten entfalten oder entfaltet haben ziemlich priviligiert sind. Viele haben geerbt oder kriegen großzügig das Studium von der Verwandtschaft finanziert oder haben unkündbare Stellen, die ihnen viel Zeit lassen oder wohnen billig oder haben einen bildungsbürgerlichen Hintergrund oder … trotzdem ist soweit ich das weiß niemand dabei, der Genug Geld hätte um garnicht mehr arbeiten zu müssen aber die allermeisten müssen sicher weniger in die Mühle als üblich. Bestimmt dieses Sein unser Bewußtsein? Sicher. Nur wie?
Es ist offensichtlich, dass es umso schwerer ist, über die Mühle hinauszudenken, je mehr man alltäglich in ihr gefangen ist. Ebenso offensichtlich ist es wohl auch, dass die Neigung über die Mühle und ihre Abschaffung nachzudenken sinkt, je weniger man mit ihr zu tun hat. So gesehen ist es alles andere als Zufall, dass sich hier Leute versammeln die von ihrer materiellen Situation her zu keiner dieser beiden Seiten neigen.
Als ich gerade so grübelte stolperte ich über den Schlußabsatz in einem Artikel über Birma (der ansonsten ziemlich radikal aufräumt mit dem westlichen Vorurteil von den friedlichen harmlosen buddhistischen Mönchen):
Dass sich der Zorn der Mönche nun auch gegen die Regierung richtet, könnte damit zu tun haben, dass das Mönchstum im Terayama-Buddhismus nicht lebenslang andauert, wie im Katholizismus. Oft bleiben junge Männer nur wenige Wochen lang Mönch. Dafür ist es sozial verpflichtend, dass möglichst jede Familie ihre Söhne den Mönchsdienst absolvieren lässt. Insofern dürfte das buddhistische Mönchstum näher an den ökonomischen Nöten der Bevölkerung sein, als das sehr abgeschottete europäische Äquivalent.
Das brachte mich auf die Idee ob wir vielleicht sowas wie Keimform-Klöster brauchen, also Orte an denen auf Zeit ein Ausstieg aus der Mühle möglich ist, wo man nicht das Nirvana anstrebt aber eben die Suche nach Keimformen. Auch die mittelalterlichen europäischen Klöster waren ja Keimform-Orte. Dort wurden durchaus in vieler Hinsicht die Grundlagen für die Moderne gelegt.
Ja, ich glaube da ist sehr viel dran, jedenfalls was die theoretischen Reflexionen betrifft, denen wir uns hier hingeben. Das braucht einerseits einerseits Zeit und Muße, andererseits muss aber auch das Bewusstsein da sein, dass der Kapitalismus ein Problem ist – und für Leute, die selber mit dem Kapitalismus kein Problem haben, ist es wohl durchaus schwer, dieses Bewusstsein zu entwickeln. Probleme, die man selbst nicht hat, sieht man eben nicht leicht oder man nimmt sie nicht ernst (das gilt ja nicht nur für das Leiden unter dem Kapitalismus, sondern auch für Sexismus, Rassismus und andere Formen von Diskriminierung).
Andererseits ist ja für die praktische Arbeit etwa an Freier Software auch immer das „scratching an itch“ wichtig gewesen, spricht dass man sich so Bedürfnisse erfüllen kann, die man sich andernfalls nicht oder schwerer befriedigen könnte. Software ist da allerdings schon ein ziemliches Luxusgut – wem es richtig schlecht geht, der hat andere Nöte. Ich würde hoffen, dass die in meinem Buch vorgeschlagenen Kooperationsmodelle die Hürden für solche praktische Kooperation auch in anderen, weniger „luxuriösen“ Gebieten senken. Auch wenn das sicher nicht von heute auf morgen geschehen wird…
Aber nein danke, ins Kloster will ich nicht! 😉
Christian schreibt:
Nein, das ist keine Bewusstseinsfrage. Oder wenn, dann maximal in dem von Benni geschilderten Sinne, dass das die jeweilige gesellschaftliche Lage es einem ermöglicht, seine eigenen Lebensansprüche kompromissloser zu verfolgen als jene, denen der Arsch auf Grundeis geht oder eben jene, die eigentlich gar nicht mehr arbeiten müssten es aber dennoch tun, weil sie als fungierendes Kapital eben Winner im Konkurrenzkampf sind. Immerhin gibt es ja dann auch ein paar wenige „Winner“, die dann aussteigen und alles hinschmeissen, weil sie sich selbst nicht mehr ertragen können.
Grundsätzlich — wenn wir mal weggehen von statistischen Betrachtungen — gibt es wohl keinen privilegierten Ort, von dem aus bestimmte persönliche Entscheidungen leichter zu treffen sind als anderswo. Auf jedem Level steht ständig Frage: Mache ich mit, verfolge ich die nahegelegete Handlungsform, reproduziere ich die Struktur — oder lasse ich es bleiben und tue etwas anderes. Diese Alternative steht immer, und sie bedeutet immer ein Risiko in beide Richtungen: Einerseits schade ich mir selbst — was zu erkennen oder zu erspüren schon nicht leicht ist — andererseits verliere ich die bisherigen Handlungsmöglichkeiten auch noch. Strukturell beschissen ist dabei, dass das zweite Risiko ungleich viel größer ist als das erste. Das liegt auch daran, dass die „Selbstschädigung“ ein sehr vermittelter Effekt ist, den ich seinerseits gut verdrängen, emotional rechtfertigen, personalisierend auf andere schieben etc. kann. Kurz: Es gibt gute Gründe mitzumachen und Widersprüche sich denkend und emotional wegzuhalten, die einem auf Handlungsalternativen verweisen.
Dagegen hilft keine Skandalisierung und kein Verelendungsdiskurs. Never. Und auch kein Aufklärungsansatz. Die einzige Möglichkeit sehe ich nur darin, das Menschen ihre individuellen Ansprüche verfolgen und sich dann mit den Widersprüchen auseinandersetzen und dann — vielleicht — auch kapieren, was dort abgeht. Ich würde meinen, das war auch in der Geschichte stets so, das es dann Veränderungen gab (völlig egal, ob immanent oder darüber hinaus), wenn Menschen ihre Lebensansprüche durchsetzen wollten bzw. das schlicht taten. Das ist so in etwa das, was im Empire mit der „Produktivität der Multitude“ gemeint sein könnte oder bei Holloway mit dem „Fluss des Tuns“.
Und warum dann nicht ins Kloster? Wenn das der eigenen Lebenssituation und dem Begehren entspricht — why not? Aber sind wir hier nicht eigentlich schon so eine Art „virtuelles Kloster“?
@Stefan:
Mit „Aufklärung“ oder „Skandalisierung“ hatte meine Bemerkung ja auch nichts zu tun. Mir ging’s nur einfach darum, dass man ein Problem leichter wahrnimmt, das man auch tatsächlich selber hat.