Marx als Polemiker

Ich schreibe mal einen Beitrag, die auf den ersten Blick hier vielleicht gar nicht so reinpasst … aber vielleicht kriege ich ja noch die Kurve …

Marx war nicht nur ein brillanter Analytiker, sondern auch ein genialer Polemiker. Das ist erstaunlich, denn eigentlich macht er in seinen Polemiken (z.B. „Die Heilige Familie“ und große Teile der „Deutschen Ideologie“) alles falsch: Er nimmt seine Gegner nicht ernst, behandelt sie von vornherein von oben herab, gibt ihnen alberne, schlecht begründete Spottnamen („der Einzige“ für Stirner, „Sankt Bruno“ für Bruno Bauer), bei denen vor allem die ständige Wiederholung nervt, und überstrapaziert generell die Mittel der Polemik bis weit über die Grenze des Erträglichen. Außerdem steigert er sich in seine Argumentationen und oft schwer nachvollziehbaren Unterschiebungen hinein, die er auf einem oder wenigen Zitaten des Gegners konstruiert und auf denen er dann über lange, schwer lesbare Absätze hinweg in endlosen Perioden herumhackt.

Er macht alles, was man selbst in einer Polemik nicht machen darf:

Verdreht Zitate des Gegners, reißt sie aus dem Zusammenhang, baut umfangreiche, gar nicht durch Zitate gerechtfertigte Strohmänner auf, die er dann mit großer Geste entzündet. Seitenlang wird unterstellt und auf Basis dieser Unterstellungen gespöttelt, gelästert, vernichtet. Das Störendste ist die offensichtliche Herablassung, die aus jeder Zeile seiner Polemiken spricht. Er nimmt seine Gegner überhaupt nicht ernst, verhält sich völlig unsportlich, was – wie jeder rhetorisch Geschulte weiß und natürlich auch Marx wusste – die Sympathie des Lesenden mit aller Macht seinen Gegnern zuschiebt.

Aber leider – hilft denen das trotzdem nichts. Nein, es hilft ihnen gar nichts! Sie kämpfen fair und sie müssten gewinnen, aber sie tun es nicht. Sie sind am Ende erledigt. Und zwar einfach nur sowas von. Platt. Flach. Und zwar richtig. Obwohl man es müsste, verspürt man auch nicht die geringste Lust, in ihre Werke überhaupt nochmal hineinzuschauen … Was ist da los?

Ich bin mir nicht sicher, aber wahrscheinlich ist es letztlich Marx’ analytische Tiefe, die es ihm erlaubt, all diesen Schabernack aufzuführen und trotzdem recht zu behalten. Ich lese grade die „Deutsche Ideologie“, dort nimmt er sich z.B. Bruno Bauer vor und macht sich über dessen „Selbstbewusstseins“-Philosophie, die Ablehnung der „Sinnlichkeit“ (Feuerbach) und die Einordnung von Stirner als Philosoph der „Substanz“ lustig. Und er kann noch so viel Schmarrn verzapfen und noch so viel Scharade spielen: In einem Nebensatz kommt plötzlich der sachliche Punkt und man merkt, er hat ihn!

Er hat seinen Gegner analysiert, verstanden und jetzt hat er ihn aufgespießt. Er ist wie ein Schwertfechter, der einen Tanz aufführt, herumwirbelt und eine lächerliche Show veranstaltet, bis man glaubt, er könne nichts als sich um sich selbst drehen. Und dann, mitten im Wirbeln, sitzt plötzlich dem Gegner die Klinge bis zum Heft in der Brust. Aus. Vorbei. Es ist gemein, und es darf in einer gerechten Welt nicht sein, aber so ist es: Marx gewinnt immer.

Heute darf man das natürlich nicht mehr, heute ist sachliches Argumentieren gefragt, und man muss seinen Gegner respektieren und seine gültigen Punkte anerkennen und … Klar. Akzeptiert. Check. Aber manchmal denke ich, wir könnten ein bisschen mehr Temperament und Angriffslust gut brauchen, dann wäre die Welt vielleicht etwas weniger rechts. Denn wir reden und reden und halten uns an alle Diskussionsregeln – nur hört uns keiner zu.

Und das Beispiel Marx zeigt: Es kommt am Ende nicht darauf an, lieb und nett zu sein. Es kommt darauf an, die entscheidenden Punkte zu machen. Der Rest ist nur Show bei Marx … aber eine Show, die verdammt viel Spaß macht!

Während ich seine durchweg polemischen Frühschriften lese, kommt es mir so vor, als hätte Marx seine revolutionären und wirklich neuen Gedanken nur in seinen polemischen Auseinandersetzungen entwickeln können. Man merkt richtig, wie es klackt und die Argumentationsschritte einrasten; wie er aus ersten, noch mehr gefühlsmäßigen Angriffen heraus langsam in Form kommt, wie er seine wichtigen Punkte entwickelt. Hat er seinen Gegner dann getroffen, ist er wirklich und klar der Sieger, dann lässt er auch von ihm ab. Dann hat er das Problem nämlich geklärt. Und dann ist ihm die Veröffentlichung auch gar nicht mehr wichtig … wie bei der „Deutschen Ideologie“, über die er später selbstironisch schrieb: „Wir überließen das Manuskript der nagenden Kritik der Mäuse um so williger, als wir unsern Hauptzweck erreicht hatten – Selbstverständigung.“

Und dann merkt man: Es kam doch nicht darauf an, den Gegner zu vernichten. Es kam darauf an, zu verstehen, wie es wirklich ist. (Der Gegner bleibt allerdings trotzdem auf der Strecke, Pech gehabt. Bei vielen heutigen Kongressen, wo alle nett und am Ende niemand klüger ist, werden andere Prioritäten gesetzt.)

Marx dachte als Polemiker, und im Polemisieren gegen wichtige Denker seiner Zeit war er – so scheint es – in der Lage, die nötige Radikalität zu entwickeln. Einmal erreicht, konnte er dann eine sachliche Darstellung wie im „Kapital“ geben, wo die Entwicklung der hauptsächlichen Argumentation rein analytisch verläuft und polemische, bissige Passagen nur Beiwerk sind.

Und wir? Wir sollten mehr Mut beim „Kreuzen der Argumente“ entwickeln. Vielleicht ist es ja auch eine Keimform einer neuen Gesellschaft, angriffslustig auf das Alte zu sein!

[Ich sollte noch ergänzen, dass Engels natürlich auch sein Teil zu beiden Büchern beigetragen hat. Marx hat aber bei der „Heiligen Familie“ 90 % und bei der „Deutschen Ideologie“ auch das meiste geschrieben.]

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